Ginge das?
Von Stefan Gärtner
Mit reichlich fünfzig kann man schon mal Bilanz ziehen, und natürlich hat die Zeit manches Apodiktische an meinem vor bald zwei Dekaden erschienenen sprach- und literaturkritischen Erstling »Man schreibt Deutsh« kassiert; denn selbst wenn die Urteile über die jüngeren Ausgaben von Juli Zeh (»Sie kann es nicht«) und Jenny Erpenbeck (»Bücher für Studienrätinnen«) Bestand haben, sind doch beide Autorinnen, ob man sie mag oder nicht, seriös geworden. Auch Sibylle Berg, denen das Buch »Gratisüberzeugungen und Dutzendansichten« vorwarf, ist jetzt zwanzig Jahre älter, und sowenig ich damals mehr von ihr lesen musste, als für mein Büchlein nötig war, so wird es doch Zeit, auch hier Gerechtigkeit walten zu lassen; oder wenigstens zu fragen, ob auch in diesem Fall eine Entwicklung ins immerhin Akzeptable stattgefunden hat.
Bergs neuer Roman »La Bella Vita: PNR«, Schlussstein einer Trilogie, entwirft eine Utopie, nämlich die Zeit nach der (durch ein Hackerkunststück ins Werk gesetzten) Revolution, nach dem Ende der Veranstaltung aus Fressen und Gefressenwerden, Reichtum und Elend, der Vermarktung und Vermarktbarkeit von allem und jedem. Und wie schön dieses Leben wäre, es leuchtet gleich ein: Anarchie – also: Ordnung ohne Gewalt – statt Staat, Kommune statt Nation, Gemeinschaftsarbeit statt Ausbeutung, Schieds- statt Strafgericht. Jeder kriegt, was er braucht, und macht, was er will, und der Algorithmus erkennt nicht mehr die falschen, sondern die richtigen Bedürfnisse. »Vielleicht ist es ein bisschen langweilig ab und zu, wenn man nichts im Netz bestellen kann, sich nicht durch Schwachsinn scrollen kann, aber: Da stehen sie in ihren Wohnungen, die ihnen nicht genommen werden können; sie arbeiten, weil sie es wollen, tun etwas, was sie lieben. Sie singen in Chören und schrauben an Geräten, sitzen auf Wiesen, treffen sich und atmen tief ein – so fühlt es sich an, das neue Leben.« Und so endet, nach reichlich 400 Seiten, das Buch, von dem man aber nicht sehr viel mehr wissen muss als das, womit es schließt. Im wesentlichen besteht es nämlich aus der Abschilderung des utopischen Zustands im neuen, vom Kapitalismus befreiten Rom, was spannungsarm, aber nur konsequent ist, weil die Utopie ja in der konfliktfreien (oder wenigstens -armen) Gesellschaft besteht und der Urtext aller Utopien, Thomas Morus’ »Utopia« (1516), gleichfalls kein Reißer, sondern Räsonnement war; und zwar eins, dem unsere zeitgenössischen Versionen gar nicht viel hinzufügen können: »Und überhaupt, mein Morus – um ehrlich zu sagen, was ich denke – mir scheint, dass überall, wo es Privateigentum gibt und wo jedermann alles nach dem Geldwert bemisst, es kaum in einem Staatswesen gerecht zugehen und das Glück herrschen kann, es sei denn, man wäre der Ansicht, dort gehe es gerecht zu, wo das Beste an die Schlechtesten kommt, oder dort herrsche das Glück, wo alles unter wenige verteilt wird und auch diese wenigen nicht in jeder Beziehung gut daran sind, die übrigen aber ganz schlecht.«
Nach einem Halbjahrtausend, das den Humanisten Morus nicht widerlegt hat, sagt Bergs Text dasselbe, bloß mit dem Pathos gerechten Vorwurfs, wobei der Vorwurf, den der Marxismus Hauptwiderspruch nennt, immer derselbe ist und ein konfliktfreier Roman auch auf der Handlungsebene keine Spannung entwickelt: Er hat ja keine Handlung. Wessen politische Bildung nicht mit Böhmermann endet und wer Romane auf der Suche nach Geschichten, nicht Manifesten in die Hand nimmt, wird »La Bella Vita: PNR« (PNR bezieht sich auf den Nationalen Wiederaufbauplan Italiens nach dem Zweiten Weltkrieg) rasch querzulesen beginnen, was ein Wortkunstwerk eigentlich disqualifiziert, wenn man nicht die den Kapiteln vorangestellten Verfassungsartikel der neuen Welt (»Keine Herrschaft, keine Eigentumstitel, nur geteilte Verantwortung«) und die verstreuten Aperçus gelten lassen will: »Jeder hat, was er braucht, außer man benötigt dringend Kaviar und einen Privatjet. Dann sieht das neue System eine große Enttäuschung vor.« Die Antiamerikanismen sind dagegen so irritierend wie das nicht ganz unmissverständliche Bekenntnis zu einer neuen Freiheit der Wissenschaft, und insgesamt wird bei Bergs belletrisiertem Langessay nie recht klar, warum er kein kurzer ist. Die Gratisansichten und Dutzendmeinungen, immerhin, mögen in einer Zeit, in der die Unhaltbarkeit der Zustände nicht mehr übersehen werden kann, als negativer Katechismus funktionieren und sind weniger das Problem als die Weigerung des Romans, dialektisch zu werden, falls Dialektik im utopischen Morgen nicht unnötig geworden ist. Die Erzählerin lebt in einem selbstverwalteten Palazzo, schön – ist es im selbstverwalteten Sozialbau genauso schön, oder ist der Palazzo nötig, damit die Bildungsbürger, die hier nicken sollen, es auch tun? Die Museen sind kostenlos, und statt für Fußball interessieren sich die Massen plötzlich für Tizian – ist (oder, vom Standpunkt der schönen Zukunft aus: war) es so einfach mit den »falschen Bedürfnissen«, oder müsste die hierarchiefreie Gesellschaft nicht auch die feinen Unterschiede beseitigen?
Es ist nicht schlimm, dass der Roman solche Fragen nicht beantwortet, aber öfter als bloß ausnahmsweise dürfte er sie schon stellen, wobei es auch nicht mehr als Thesenklopfen ist, wenn er’s tut: »Ich habe keine Ahnung«, sagt etwa eine, die die Sache angeleiert hat, »ob das funktioniert, ob eine Welt ohne Wettbewerb bestehen kann, wir kennen doch nichts anderes. Vielleicht braucht es dieses Geld als Ansporn, vielleicht lieben Menschen Klassenunterschiede, weil sie sich in einer Ordnung aufhalten wollen«, wie der Roman den Fehler immerhin nicht macht, die Revolution als Detailantwort auszumalen: Mörder und Vergewaltiger werden, weil die Gefängnisse abgeschafft sind, fürs erste zum Kanalreinigen abgestellt oder dürfen in aufgegebenen Dörfern ihre eigene Resozialisierung betreiben. Wovon man freilich sofort lieber läse als von der »neuen Welt der guten Bürger«, die im Losverfahren ihre Selbstverwaltung stemmen, und es ist bezeichnend, dass der Leser das mit den »guten Bürgern« sofort ironisch verstehen will, denn Ironie ist die Feindin der Parolen, die, auch wenn man sie unterschreibt, nur in einem sehr formalen Sinn einen Roman machen und statt dessen Sibylle Berg als die Meinungsgroßhändlerin bestätigen, als die man sie gespeichert hatte.
Weil er billig und konterrevolutionär ist, sei der Vorwurf vermieden, das utopische Projekt der Entmarktung diene hier notwendig der konkreten Vermarktbarkeit von Gedankenware, einer Vermarktbarkeit, wie sie aus den Reklamefloskeln auf der Buchrückseite emaniert: »Sibylle Berg ist zuverlässig krass, komisch, bitter und zärtlich« – da tritt dann unsereins zuverlässig den Rückzug an, auch wenn »La Bella Vita« zwischen redundanter Bestandsaufnahme und etwas zu hingerissenem Zukunftsentwurf doch sein Scherflein zu jener »revolutionären Bildung« beiträgt, die Hermann Peter Piwitt vor Zeiten unseren »falschen Programmierungen« gegenüberstellte. Eine Welt ohne Macht, Kontrolle, Zwang – ginge das, und wie sähe das aus? Wo man, angesichts des Faschismus allerorten, ja dazu neigt, sozialdemokratisch zu retten, was zu retten ist, sei allein die Frage gelobt, weshalb ich an Bergs Utopie gleich die nächste hängen will: dass ein Text wie der vom schönen Leben in unseren »Schulen ohne Rassismus« gelesen werde, die ja doch am Laufen halten, was den Rassismus bedient. Es muss ja nicht in Deutsch sein; Sozialkunde reicht.
Sibylle Berg: La Bella Vita: PCR. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2025, 416 Seiten, 26 Euro
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