Bis zum nächsten GAU
Von Igor Kusar
Die Nutzung von Atomkraft gehört zu dem von der neuen japanischen Premierministerin Takaichi Sanae propagierten Selbstbild eines starken Staates dazu. Ist es da nur Zufall, dass sich die verantwortlichen Politiker in der Präfektur Niigata in den vergangenen Wochen nach langem Zögern dazu durchrangen, über den teilweisen Neustart des Kashiwazaki-Kariwa-Atomkraftwerks zu verhandeln? Vor einigen Tagen begannen die Abgeordneten im Präfekturparlament, entsprechende Debatten zu führen. Bereits im November hatte der Gouverneur der Wiederinbetriebnahme seinen Segen erteilt. Es wird nun erwartet, dass die Volksvertreter noch vor Ablauf der Legislaturperiode am 22. Dezember zustimmen. Dann könnte der Reaktor sechs bereits nächsten Monat ans Netz gehen, etwas später der Reaktor sieben.
Kashiwazaki-Kariwa ist nicht irgendein AKW in der randständigen japanischen Provinz, sondern der leistungsstärkste Atomkomplex der Welt und nur rund 250 Kilometer von Tokio entfernt. Außerdem wäre es das erste Mal nach der Atomkatastrophe von 2011, dass der Fukushima-I-Betreiber Tepco wieder einen Meiler hochfährt – ein Schritt also mit großer Symbolkraft und ein Lackmustest für die Akzeptanz von Atomenergie in der Bevölkerung. Laut dem letzten Energieplan der Regierung vom vergangenen Februar soll der Anteil des Atomstroms von heute knapp zehn bis 2040 auf 20 Prozent steigen. Auf dem Weg dahin bildet der geplante Neustart in Niigata also einen kleineren Meilenstein. Damit wären 15 der derzeit 33 betriebsfähigen Reaktoren Japans am Netz.
Im Vorfeld des Entscheids des Gouverneurs bemühten sich Behörden und Tepco wieder einmal, die vermeintlichen Vorteile der Atomkraft herauszustreichen: Sie sei sicher, billig und sauber und für das ressourcenarme Land lebensnotwendig. Japan ist bei der Elektrizitätsproduktion zu sechzig bis siebzig Prozent auf fossile Brennstoffimporte angewiesen. Die Lage werde in Zukunft noch prekärer, heißt es, wenn immense Strommengen fressende Datenzentren für künstliche Intelligenz dazukämen. Der Reaktor sechs allein würde die Stromzufuhr für Groß-Tokio um zwei Prozent verbessern. Und technische Nachrüstungen hätten das AKW noch sicherer gemacht. Außerdem sei die Akzeptanz von Atomstrom bei den Anwohnern im Wachsen begriffen und betrage zur Zeit 50 Prozent.
Doch diese Argumentationslinie folgt alten Mustern, die vor 2011 direkt in die Katastrophe von Fukushima geführt hatten. Die Anwohner werden durch Investitionsprogramme von Tepco in die lokale Industrie gefügig gemacht. Bei der Berechnung des Atomstrompreises wird geschummelt. Aufwendungen wie Reparaturen und Abschreibungen werden einfach ausgespart, ganz zu schweigen von den Langzeitkosten. Und Tepco ist wieder seinen alten Lastern verfallen und versucht, Sicherheitslücken – etwa beim Brandschutz – zu vertuschen. Außerdem zweifeln zivile Akteure an der Richtigkeit der offiziellen Version, wonach die geologische Bruchlinie unter dem AKW wirklich vollständig inaktiv ist.
Trotz solcher Unstimmigkeiten befürwortet laut neuesten Umfragen die Hälfte der Japaner einen Neustart ihrer Atommeiler; 35 Prozent sind dagegen. Das prekär gewordene geopolitische Umfeld und die sich daraus ergebende Unsicherheit bei der Einfuhr von Brennstoffen haben zu einem Stimmungswechsel geführt. Dass Japan bei den Erneuerbaren mit einem Stromanteil von knapp 25 Prozent hinter dem globalen Durchschnitt von 30 Prozent zurückliegt, wird dabei viel zuwenig thematisiert. Der Grund: Für das berüchtigte »Atomdorf« aus Politik, Bürokratie, Wirtschaft und akademischen und journalistischen Kreisen ist eine Dezentralisierung der Stromproduktion uninteressant. Sie klammern sich vehement an die Machtkonzentration und die Einnahmen, die ihnen der Atomstrom bietet. Für Tepco etwa bedeutet der Neustart der Reaktoren des Kashiwazaki-Kariwa-Komplexes einen Gewinnzuwachs von umgerechnet rund 500 Millionen Euro. Und wiederum ist die Gefahr groß, dass ein Mythos der absolut sicheren japanischen Atomtechnik bedient wird, der schon einmal die Bevölkerung hinters Licht geführt hatte.
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