Koalition der Verdränger
Von Ralf Wurzbacher
Im Koalitionsvertrag von Union und SPD steht ein schöner Satz: »Der Aktionsplan gegen Wohnungslosigkeit wird umgesetzt.« Die Frage muss gestellt werden: Wann geht es denn damit los? Bis zum Jahr 2030 soll jeder in Deutschland »ein Zuhause« haben, lautet die vor 19 Monaten noch von der Ampel ausgegebene Zielstellung. Seither sind die Nöte nicht geringer geworden, sondern größer. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW) hat am Montag ihre neueste Hochrechnung veröffentlicht. Über das gesamte Jahr 2024 betrachtet waren bundesweit 1,029 Millionen Menschen ohne feste Bleibe. Bei elf Prozent mehr, verglichen mit 2023, markiert das den nächsten in einer ganzen Serie an »Rekorden«. Seit 2021 hat sich die Zahl fast verdreifacht.
Was also unternimmt die Bundesregierung? Im Rahmen ihrer »Reform« des Bürgergelds will sie künftig »Totalverweigerern« sämtliche Leistungen einschließlich der Mietzahlungen streichen. Wie davor schon andere Sozialverbände schlägt auch die BAGW Alarm. »Die geplanten Sanktionen stellen die Würde der betroffenen Menschen in Frage und riskieren, dass sie ihr Zuhause verlieren«, warnte Geschäftsführerin Sabine Bösing in einem Pressestatement. »Das ist sozialpolitisch unverantwortlich, und es ist fraglich, ob die Maßnahmen einer verfassungsrechtlichen Überprüfung standhalten würden.« Dabei wirkt schon der Status quo problemverschärfend. Oft liegen die von den Jobcentern bewilligten Mietobergrenzen unter den realen Kosten, wodurch sich zusätzliche Notlagen ergeben, die am Ende zum Verlust der Wohnung führen können. Die Koalition schickt sich an, die Misere noch zu befeuern.
Das betrifft auch ihre Wohnungspolitik. Der Mangel an bezahlbarem und bedarfsgerechtem Wohnraum gilt neben der grassierenden Armut als zentrale Ursache für Wohnungslosigkeit. Bei seit Jahren rückläufiger Bautätigkeit und zugleich wachsender Nachfrage bleiben zunehmend mehr Menschen auf der Strecke. Im schlimmsten Fall werden sie auf die Straße verdrängt. Nach BAGW-Angaben hatten 2024 rund 56.000 Personen gar kein Obdach und verbrachten ihr Leben im Freien. Nicht selten erliegen sie den widrigen Umständen, vor allem in den kalten Wintermonaten. Seit einer Woche erinnert am Berliner Ostbahnhof eine Gedenktafel an ihr Schicksal, nebst den Fotos von 30 Menschen, die in näherem Umkreis den Tod fanden. »Gangway«, ein freier Träger für Straßensozialarbeit, will weitere dieser Mahnmäler in der Hauptstadt plazieren, als »Zeichen gegen die Gleichgültigkeit«. Obdachlosigkeit sei »kein Naturereignis – es ist die Konsequenz gesellschaftlicher und politischer Entscheidungen«, heißt es in einer Bekanntmachung des Vereins.
Überhaupt ist Berlin ein Hotspot der Misere. Anfang 2025 waren nach Angaben des Senats 53.600 Wohnungslose in bezirklichen Einrichtungen untergebracht, drei Jahre davor nicht einmal halb so viele. Die Landesregierung rechnet bis 2029 mit einem Anstieg auf über 85.000. Neben den ungebremst steigenden Mieten ist auch die Zunahme an Eigenbedarfskündigungen ein Treiber der Entwicklung. Sie sind ein inzwischen gängiges Mittel, Mieter vor die Tür zu setzen, um noch mehr Kapital aus dem Wohneigentum zu schlagen. Auf den Rauswurf folgt immer häufiger der Fall ins Bodenlose. »Besonders problematisch ist der Rückgang der Sozialwohnungen, der durch jährlich auslaufende Bindungen und einen unzureichenden Neubau weiter anhält«, konstatiert die BAGW. Seit 2006 hat sich die Zahl der Sozialwohnungen nahezu halbiert. Aktuell noch etwa 1,1 Millionen Einheiten stehen über elf Millionen Haushalten gegenüber, die per Wohnberechtigungsschein Anspruch auf eine entsprechende Unterbringung haben. Bundesbauministerin Verena Hubertz (SPD) liebäugelt neuerdings mit einer Extraabgabe für Besserverdiener nach hessischem Vorbild, sofern diese eine Sozialwohnung besetzt halten. So viel Solidarität muss sein.
Ob Bund und Länder tatsächlich 50 Milliarden Euro bis 2029 in den sozialen Wohnungsbau investieren, wird sich zeigen müssen. Versprechen dieser Art wurden früher verlässlich Opfer der Abrissbirne. Der von Hubertz aufgelegte »Bauturbo«, ein Gesetz zur Beschleunigung der Bautätigkeit, taugt aus Sicht von Kritikern jedenfalls nicht zum Befreiungsschlag. Das Instrument setze einseitig auf hochpreisigen Neubau auf der grünen Wiese, werde Bodenspekulation, -versiegelung und Klimakrise forcieren, aber dem Wohnungsschwund in Großstädten und Ballungszentren nicht beikommen, bemängelt etwa die Deutsche Umwelthilfe. Zitat: »Das ist ein Geschenk für die Bau- und Immobilienlobby.« Skeptisch zeigt sich auch die BAGW-Vorsitzende Susanne Hahmann. Ein Ende der Wohnungskrise sei »nicht in Sicht«, befand sie, so wenig wie ein entschiedenes Gegensteuern durch die Politik. »Mehr denn je braucht es ein klares Bekenntnis zum Sozialstaat und zum Schutz der Menschenwürde.« Nicht mit dieser Regierung.
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