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Aus: Ausgabe vom 17.11.2025, Seite 1 / Titel
Fußballrealität

Wem gehört das Stadion?

Die Kurven werden sicherer, trotzdem planen die Innenminister umfassende Repressionen. Zehntausende demonstrierten in Leipzig
Von Raphael Molter und Mathias Dehne, Leipzig
Alle an einem Strang: In Leipzig demonstrierten 53 Fußballfanszenen – hier die von Union Berlin (16.11.2025)
Blick von oben: Der Demonstrationszug zieht sich durch die Stadt (Leipzig, 16.11.2025)
In den Farben getrennt, in der Sache vereint: Hertha-Fans in Leipzig (16.11.2025)

Am Sonntag mittag um 12.42 Uhr setzte sich der Demonstrationszug in der Leipziger Innenstadt in Bewegung. 20.000 Fußballfans aus dem gesamten Bundesgebiet waren laut Veranstalterangaben gekommen, die Polizei sprach von 8.000. Realistisch erscheint ersteres. »Der Fußball ist sicher! Schluss mit Populismus – Ja zur Fankultur!« lautete das Motto, unter dem sich Anhänger von teils in inniger Rivalität verbundenen Klubs versammelt hatten. An der Spitze des Demonstrationszuges trugen Vertreter verschiedener Fankurven ein Transparent mit demselben Slogan, um die einheitliche Unterstützung deutlich zu machen. Dahinter reihten sich die Vereinsblöcke ein, deren Aufstellung den eigentlich für 12 Uhr geplanten Start um knapp 40 Minuten verzögert hatte. Aufgerufen zur Demonstration hatte mit weniger als einer Woche Vorlaufzeit das Netzwerk »Fanszenen Deutschlands«, das bereits Proteste gegen den geplanten DFL-Investoreneinstieg organisiert hatte. Insgesamt 53 Szenen mobilisierten nach Leipzig. Hier wurde die alte Frage von neuem gestellt: Wem gehört das Stadion? Den Kurven, oder denen, die den Fußball als Sicherheitsrisiko verwalten?

Die Innenministerkonferenz (IMK) bereitet derzeit eine Vielzahl neuer Repressionen vor: Etwa personalisierte Eintrittskarten, KI-gestützte Gesichtserkennung, eine zentrale Stadionverbotsinstanz und Stadionverbote auf Verdacht. Die IMK schützt damit nicht die Besucher, sondern Investitionen und Eigentum. Die Ausweitung staatlicher Sicherheitsbefugnisse begegnet heute vielen Bewegungen – so auch bei Arbeitskämpfen, Mietprotesten und Solidaritätsaktionen für Palästina. Der »Staat des Kapitals« reagiert auf Krisen des Marktes mit härterer Kontrolle.

Mit dem aktuellen Jahresbericht der polizeilichen »Zentralen Informationsstelle Sporteinsätze«, der Anfang Oktober veröffentlicht wurde, bricht die Drohkulisse in sich zusammen: Eingangs werden hohe Verletztenzahlen kolportiert, doch Seite für Seite relativiert der Bericht die eigene Dramatisierung. In der Saison 2024/25 kamen 25,3 Millionen Menschen in die Stadien der obersten drei Ligen Deutschlands, mehr als je zuvor. Die Gesamtzahl der Verletzten ist derweil um 17,2 Prozent gesunken und lag bei 1.107 Menschen, darunter 95 durch Pyrotechnik und 111 durch polizeiliche Reizstoffe. Polizeikräfte verbuchten 2,6 Millionen Arbeitsstunden – ein Rückgang um 8,8 Prozent im Vergleich zur Vorsaison, bezogen auf alle Wettbewerbe. Auch die Erfahrung aus den Stadien spricht gegen die Dramatisierung. Aktuelle Erhebungen zeigen, dass sich die Zuschauer im Stadion sicher fühlen. Eine Untersuchung im Jenaer Ernst-Abbe-Sportfeld, die bald veröffentlicht wird und jW vorliegt, deutet an, dass selbst Pyrotechnik dieses Gefühl kaum trübt. Die Zuschauer fühlten sich gut aufgehoben in den Kurven– ob sie im leuchtenden Rot der Bengalos erstrahlten oder nicht.

Die Demonstration in Leipzig hat die Asymmetrie der Sicherheitsdebatte offengelegt. Die Fans treibt keine Romantik auf die Straße, sondern die Erfahrung, dass der Staat selbst einen der sichersten Räume des Landes zum Gefahrenfeld erklären will. Während die IMK aufrüstet, verteidigen die Kurven ihre Autonomie. Nun liegt es an der Politik, ob sie die Realität zur Kenntnis nimmt. In Leipzig wurde dafür ein eindrückliches Zeichen gesetzt.

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