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Aus: Ausgabe vom 15.11.2025, Seite 15 / Geschichte
NS-Aufarbeitung

Wegweisendes Verfahren

Vor 80 Jahren wurde in Nürnberg der Prozess gegen die faschistischen Hauptkriegsverbrecher eröffnet
Von Ulrich Schneider
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Die Ankläger im Nürnberger Prozess, je zwei von jeder Nation der Alliierten, setzten mit ihrer Rechtsprechung Maßstäbe

Die Idee einer internationalen Strafverfolgung der Naziverbrechen in den besetzten Gebieten entstand bereits während des Krieges. Als mit dem Waffenstillstand am 8. September 1943 in Italien sich die Alliierten nur noch auf das Deutsche Reich fokussierten, legte im Oktober 1943 die Moskauer Außenministerkonferenz in ihrer »Erklärung über deutsche Greueltaten im besetzten Europa« fest, dass sich die deutschen Hauptkriegsverbrecher vor einem Gericht der Völker verantworten müssen. Zwar war der Krieg noch nicht gewonnen. Es war aber klar, dass angesichts der monströsen Verbrechen in allen okkupierten Ländern am Ende der Kampfhandlungen auch eine juristische Abrechnung erfolgen müsse. Zur Vorbereitung dieser Verfahren wurde die United Nations War Crimes Commission gegründet.

Wie der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher praktisch aussehen sollte, entschieden die Alliierten erst im Sommer 1945. Im Ergebnis der Potsdamer Konferenz wurde am 8. August 1945 in der britischen Hauptstadt das sogenannte Londoner Statut unterzeichnet. Mit diesem »Abkommen zwischen der Regierung des Vereinigten Königreiches von Großbritannien und Nordirland, der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika, der Provisorischen Regierung der Französischen Republik und der Regierung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken über die Verfolgung und Bestrafung der Hauptkriegsverbrecher der europäischen Achse« einigten sich die Siegermächte auf entsprechende juristische Verfahrensweisen.

Repräsentative Auswahl

Dreieinhalb Monate später, am 20. November 1945, wurde in Nürnberg, der Stadt der NSDAP-Reichsparteitage, vor dem Internationalen Militärgerichtshof der Prozess gegen 24 Hauptkriegsverbrecher eröffnet. Es war eine illustre Runde von Personen, die stellvertretend für die verschiedenen Bereiche der faschistischen Herrschaft auf der Anklagebank Platz nehmen mussten. Angeklagt waren führende Figuren als Personen wie als Repräsentanten der faschistischen Reichsregierung, der NSDAP und aller ihrer Untergliederungen (SA, SS, SD und Gestapo), der Wehrmacht, der Wirtschaft und des Propagandaapparates. Die vier alliierten Ankläger zeigten, dass für die Verbrechen Personen und Institutionen des faschistischen Apparates gleichermaßen die Verantwortung trugen.

Da alle vier Siegermächte gleichberechtigt an diesem Verfahren beteiligt sein sollten, saßen auf der Richterbank für die USA Francis Beverley ­Biddle und John Johnston Parker, für die Sowjetunion Iona Nikittschenko und Alexander Woltschkow, für Großbritannien Sir Geoffrey Lawrence und Norman Birkett sowie für Frankreich Henri Donnedieu de Vabres und Robert Falco. Sie lösten sich im Vorsitz regelmäßig ab. In verfahrensmäßiger Hinsicht blieb das Statut weitgehend der angelsächsischen Rechtstradition treu.

Die vier Anklagepunkte lauteten: Verschwörung, Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit. Angeklagt wurden Verbrechen in den vom deutschen Faschismus angegriffenen und okkupierten Ländern. Das Gericht sah es nicht als seine Zuständigkeit an, faschistische Verbrechen gegen die deutsche Bevölkerung zu ahnden. Man ging jedoch davon aus, dass mit dem Verfahren Rechtsmaßstäbe gesetzt würden, auf deren Grundlage später deutsche Gerichte diese Verbrechen selbständig verfolgen könnten.

Der Ablauf des Verfahrens war geprägt durch eine erschütternde und erdrückende Beweispräsentation durch die Anklage. Überlebende der Konzentrationslager und der faschistischen Verfolgung wurden im Prozess als Zeugen gehört, gleichzeitig konnten Zeugenaussagen, die vor alliierten Stellen gemacht worden warten, als Beweismittel eingebracht werden. Die Verteidigung versuchte mit zum Teil haarsträubenden juristischen Winkelzügen die Verantwortung der jeweiligen Nazigrößen entweder in Frage zu stellen oder ganz zu leugnen. Noch wurde die Glaubwürdigkeit von Zeitzeugen nicht offen bestritten, wie es in späteren Prozessen gegen Nazis in der BRD an der Tagesordnung war.

Am 30. September und 1. Oktober 1946 wurde nach knapp einem Jahr Verhandlungsdauer das Urteil verkündet. Zwölf der 24 Angeklagten wurden zum Tode verurteilt, darunter Wilhelm Frick, Hermann Göring, Alfred Jodl, Ernst Kaltenbrunner, Wilhelm Keitel, Joachim von Ribbentrop und Alfred Rosenberg. Sieben Angeklagte erhielten langjährige oder lebenslange Haftstrafen. Drei Angeklagte wurden freigesprochen. Der Artikel 26 des Londoner Statuts schrieb fest, dass die Urteile der Nürnberger Prozesse endgültig und nicht anfechtbar sein sollten. Die Todesurteile wurden daher am 16. Oktober 1946 vollstreckt. Göring hatte keine drei Stunden zuvor mittels einer Zyankalikapsel Suizid begangen. Martin Bormann, der zu dem Zeitpunkt als verschollen galt, aber bereits am 2. Mai 1945 in Berlin gestorben war, wurde in Abwesenheit verurteilt.

Die zu Haftstrafen Verurteilten wurden 1947 in das Berliner Kriegsverbrechergefängnis Spandau verlegt, das in der Verantwortung aller vier Alliierten stand und von deren Truppen bewacht wurde. Der letzte Gefangene dort war Rudolf Hess, der im August 1987 in der Haft Selbstmord beging.

Recht geschaffen

Gemäß Londoner Statut konnte das Gericht eine Institution oder Formation pauschal zur verbrecherischen Organisation erklären, so dass Angehörige dieser Formation wegen Mitgliedschaft in einer verbrecherischen Organisation gemäß Kontrollratsgesetz Nr. 10 vor einem Militär- oder Besatzungsgericht angeklagt und verurteilt werden konnten, ohne dass darüber hinaus ein individuelles Verbrechen nachgewiesen werden musste. Als verbrecherische Organisationen wurden im Urteil eingestuft das Korps der Politischen Leiter der NSDAP, die Gestapo, der Sicherheitsdienst (SD) sowie die SS mit allen ihren Untergliederungen, das heißt auch die Einheiten der Waffen-SS. Dieses Urteil gilt bis heute und verbietet es, SS-Freiwillige aus den verschiedenen europäischen Ländern zu rehabilitieren, wie es dann allerdings unter anderem in den baltischen Staaten geschehen ist.

Die Urteile des Nürnberger Prozesses und das ihnen zugrundeliegende Statut schufen Völkerrecht. Kein Staat bzw. kein Regierungsvertreter kann sich bei Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschheit auf »nationales Recht« oder auf »Handeln auf Befehl« berufen. Diese Prinzipien wurden auch durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen am 11. Dezember 1946 einstimmig bestätigt. Damit haben die Urteile im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess und dessen juristische Prinzipien bis heute nichts an Gültigkeit verloren.

Im Gedenken an die Opfer

Zum ersten Male in der Geschichte der Menschheit stößt die Rechtspflege auf Verbrechen von derartigen Ausmaßen und derartig schweren Folgen.

Zum ersten Male stehen Verbrecher vor dem Richter, die sich eines ganzen Staates bemächtigt und diesen Staat selbst zum Werkzeug ihrer ungeheuerlichen Verbrechen gemacht hatten.

Zum ersten Male endlich richten wir in den Angeklagten nicht nur sie selbst, sondern auch die von ihnen ins Leben gerufenen Einrichtungen und Organisationen sowie ihre menschenverachtenden »Theorien« und »Ideen«, die von ihnen zum Zwecke der Verwirklichung der schon lange Zeit vorher geplanten Verbrechen gegen die Welt und die Menschheit vorbereitet wurden. (…).

Der Hitlerismus hat der Welt einen Krieg aufgezwungen, der den freiheitsliebenden Völkern unaussprechliches Elend und maßloses Leid gebracht hat. Millionen von Menschen sind als Opfer dieses Krieges gefallen, den die Hitlerräuber entfacht hatten, die von der Unterjochung der freien Völker in den demokratischen Ländern und von der Aufrichtung einer Hitlertyrannei in Europa und in der ganzen Welt träumten. Der Tag ist gekommen, an dem die Völker der Welt gerechte Vergeltung und strenge Strafe für die hitlerischen Henker fordern, der Tag, an dem sie strenge Bestrafung der Verbrecher verlangen. (…)

Da heute als Ergebnis des heldenhaften Kampfes der Roten Armee und der verbündeten Armeen Hitlerdeutschland vernichtet und niedergeworfen ist, haben wir kein Recht, die Opfer, die darunter gelitten hatten, zu vergessen; wir haben kein Recht, die Schuldigen und Anstifter dieser ungeheuerlichen Verbrechen ungestraft zu lassen.

In heiligem Gedenken an die Millionen unschuldiger Opfer des faschistischen Terrors, im Namen der Festigung des Weltfriedens, im Namen der Sicherheit der Völker und der Zukunft rechnen wir mit den Angeklagten voll und ganz ab. Dies ist die Abrechnung der ganzen Menschheit, die Abrechnung des Willens und des Gewissens der freiheitsliebenden Nationen. Möge Recht geschehen.

Aus der Gerichtsrede des sowjetischen Chefanklägers Roman A. Rudenko am 8. Februar 1946

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