Gegründet 1947 Montag, 10. November 2025, Nr. 261
Die junge Welt wird von 3063 GenossInnen herausgegeben
Aus: Ausgabe vom 10.11.2025, Seite 9 / Schwerpunkt
Sudan

Krieg um des Krieges willen

Im Sudan wollen beide Konfliktparteien vor allem die Revolution von 2018/19 rückgängig machen, vermutet der sudanesische Anthropologe Bakheit Mohammed Nur
Von Richard Malone
9neu.JPG
Mit dem Leben davongekommen: Verletzter aus Al-Faschir (Tawila, 3.11.2025)

Paramilitärs der Rapid Support Forces (RSF) haben am 26. Oktober die Großstadt Al-Fascher nach monatelanger Belagerung erobert. Anschließend häuften sich Berichte über Massenmorde an der Zivilbevölkerung. Wie ist die aktuelle Lage in Darfur?

Die aktuelle Lage, insbesondere in Al-Fascher, ist katastrophal. Es gibt kein Netz, keine Kommunikationsmöglichkeit. Journalisten wurden getötet oder entführt. Aber was über die sozialen Medien durchkommt, ist katastrophal. Die Rapid Support Forces töten wahllos Menschen. Frauen, Kinder, Alte, sie töten einfach alle. Niemand weiß genau, was dort vor sich geht. Die Aufzeichnungen all dieser Greueltaten werden von den Milizen selbst ins Internet gestellt. Sie dokumentieren damit ihre völkermörderischen Aktivitäten in Al-Fascher. Offiziell behaupten sie, gegen die Armee zu kämpfen. Aber was hat ein kleines Baby mit der Armee zu tun? In der Gewalt erkennt man die rassistische Mentalität, die im politischen Narrativ dieser Gruppe verankert ist.

Wie viele Menschen sind von den Massakern betroffen?

Es gibt keine genauen Statistiken. Man spricht von 300.000 Menschen, die Gefahr laufen, getötet oder vertrieben zu werden, aber die genaue Zahl ist unbekannt. Diese Art von Gewalt ist sehr typisch für den Dschandschawidismus, der mit dem Ausbruch des Krieges in Darfur 2003 begann. Damals wurden eine Million Menschen vertrieben, die Gewalt richtete sich gegen bestimmte ethnische Gruppen: die Masalit im Westen, die Zaghawa im Norden und die Fur im Zentrum von Darfur. Wenn man sich die Aktivitäten der RSF ansieht, insbesondere ihr militärisches Verhalten, spiegelt dies sehr deutlich diese rassistischen Tendenzen wider.

Was können Sie uns über die Ideologie der paramilitärischen Rapid Support Forces, die aus den Dschandschawid hervorgegangen sind, sagen?

Diese Ideologie entstand im Rahmen der islamistischen Regierung (von Omar Al-Baschir 1989–2019, jW). Aber sie hat eine lange Geschichte. Am Anfang gab es in Darfur Spannungen zwischen nomadischen Gruppen, die sich als Araber bezeichnen, und sesshaften Gruppen, hauptsächlich Bauern, die von den Menschen als schwarze Afrikaner beschrieben werden. Die Spannungen entstanden, als die Viehzüchter ihren Tieren erlaubten, in die landwirtschaftlichen Gebiete einzudringen und diese zu zerstören. Als dann der Krieg in Darfur ausbrach und die Regierung die sogenannte Rebellion in der Region nicht besiegen konnte, versuchte sie, dies zu politisieren, indem sie die eine Seite gegen die andere aufbrachte. Sie behauptete, die Rebellion gehe von einer bestimmten ethnischen Gruppe afrikanischer Herkunft aus. Dann mobilisierte die Regierung die Nomadengruppen. So wurden die ethnischen Spannungen geschürt und angeheizt, und schließlich wurde der Dschandschawidismus systematisch gegen bestimmte ethnische afrikanische Gruppen eingesetzt.

Was können Sie uns über die Ursachen des derzeitigen Krieges zwischen den Rapid Support Forces und der sudanesischen Armee sagen?

Es gibt verschiedene Darstellungen, aber die vorherrschende ist, dass der Krieg dazu gedacht war, die Revolution (Volksaufstand gegen die Herrschaft von Al-Baschir Ende 2018/Anfang 2019, jW) rückgängig zu machen. Denn die Revolution stellte die rassistischen Tendenzen des Islamismus, die verschiedenen Formen der Ungerechtigkeit gegenüber Frauen und die Dominanz der Armee über die Wirtschaft und Politik in Frage. Als die Übergangsregierung begann, die verschiedenen Institutionen umzustrukturieren, Führer der Islamisten zu entfernen und neue Bürokraten, ohne klare politische Ausrichtung zu ernennen, kam es zu Spannungen. Also verbündeten sich die Islamisten mit der Armee und stürzten die Übergangsregierung. So begann der Krieg, die Revolution rückgängig zu machen. Islamisten und Armee hatten Angst, ihre Macht zu verlieren, wenn diese Revolution weiterginge. Vor allem für die Armee war dies inakzeptabel. Die Vorherrschaft der Armee über Politik und Wirtschaft durfte nicht angetastet werden. Die RSF und die Armee waren eine Einheit. Die RSF wurde von der Armee ins Leben gerufen. Als jedoch diese Spaltung innerhalb der Übergangsregierung sichtbar wurde, versuchten diejenigen, die in der Opposition waren, sich auf die Seite der RSF zu stellen. Und diejenigen, die mit den Islamisten zusammenarbeiteten, stellten sich auf die Seite der Armee.

Wie können die Ideen und Ideale der Revolution von 2019, wie Freiheit und Gleichheit, die Greueltaten überstehen, die wir derzeit erleben?

Derzeit gibt es keine revolutionären Aktivitäten, da sich das ganze Land im Krieg befindet. Und solange der Krieg nicht beendet ist, kann man nichts anderes tun. Es gibt keinen Platz für Aktivismus. Wenn man das Ideal von Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichheit fördern will, ist das während eines Krieges aufgrund der Gewalt nicht möglich. Die Priorität liegt darauf, den Krieg zu beenden! Dann besteht die Möglichkeit, dass die Revolution wieder aufgenommen wird.

Wie wirkt sich diese Gewalt auf das Leben der Zivilbevölkerung aus?

Dieser Krieg findet in zivilen Gebieten statt, in Städten, Dörfern und Gemeinden. Am stärksten betroffen sind die Zivilisten. Viele sind in Nachbarländer wie den Tschad, Ägypten, den Südsudan, die Zentralafrikanische Republik, Uganda oder in den Osten und Norden des Sudan geflohen. Innerhalb Darfurs sind viele Zivilisten nach Jebel Marra geflohen, das von der Sudanese Liberation Army kontrolliert wird und als einer der sichersten Orte gilt. Andere sind nicht geflohen, wie in Khartum und Omdurman. Aber die Infrastruktur ist vollständig zerstört. Es gibt kein Wasser, kein Netz, keinen Strom, keine Telekommunikation. Als die Armee wieder die Kontrolle über Khartum und Omdurman übernahm (März 2025, jW), wurden einige Dienstleistungen wiederaufgenommen, insbesondere die Strom- und Wasserversorgung. Doch die allgemeine Infrastruktur, wie die Bildungsinfrastruktur und die Gesundheitsversorgung, ist nach wie vor stark vom Krieg betroffen. Es ist eine sehr schwierige Situation.

Manche bezeichnen sie sogar als die größte humanitäre Katastrophe unserer Zeit. Ich möchte Sie als sudanesischen Intellektuellen, der in Deutschland lebt, fragen, warum der Sudan in Deutschland so wenig Beachtung in den Medien findet.

Ich glaube, Europa und die westliche Gesellschaft sind von anderen Kriegen eingenommen, die sie für wichtiger halten als den im Sudan, insbesondere den Krieg in der Ukraine oder in Palästina und Israel. Was anderswo geschieht, wird in ihrer Vorstellung als weniger wichtig angesehen. Wenn man jedoch die humanitäre Krise betrachtet, ist das, was im Sudan geschieht, nicht weniger wichtig als das, was in der Ukraine, in Israel und an anderen Orten geschieht.

Welche strategischen und politischen Auswirkungen hat der Fall von Al-Fascher?

Keine Partei fordert eine Teilung des Landes. Dennoch hat die RSF eine eigene Regierung gebildet, mit Nyala als Hauptstadt. Die Armee und ihre Verbündeten haben eine eigene Regierung, die von Port Sudan aus agiert. Wenn dies auf lange Sicht so weitergeht, werden diese Regierungen, ob wir es akzeptieren oder nicht, als zwei getrennte Staaten funktionieren. Spaltung ist eine reelle Gefahr, auch wenn es keine politische Forderung nach einer Teilung des Landes gibt. Beide Parteien wollen ihren Gegner besiegen und die Kontrolle über das ganze Land übernehmen.

Wie sehen Sie die Zukunft?

Die Zukunft ist sehr ungewiss. Es gibt keine klare politische Vision, weder für die Armee noch für die Rapid Support Forces. Es ist Krieg um des Krieges willen, es gibt kein politisches Ziel. Und genau darin liegt die Gefahr. Denn wenn man keine Vision für die Zukunft hat, sind alle Aktivitäten wertlos. Seit über zwei Jahren herrscht Krieg, aber politisch wird nichts unternommen, um das Problem zu lösen. Deutschland und Europa sollten zumindest eine humanitäre Rolle übernehmen und zwischen den Konfliktparteien vermitteln, um die Sicherheit vor Ort wiederherzustellen. Interview: Richard Malone

Bakheit Mohammed Nur ist Postdoktorand am »Africa Multiple«-Exzellenzcluster der Universität Bayreuth und hat Sozialanthropologie an der Universität Khartum studiert

Tageszeitung junge Welt am Kiosk

Die besondere Berichterstattung der Tageszeitung junge Welt ist immer wieder interessant und von hohem Nutzwert für ihre Leserinnen und Leser. Eine gesicherte Verbreitung wollen wir so gut es geht gewährleisten: Digital, aber auch gedruckt. Deswegen liegt in vielen tausend Einzelhandelsgeschäften die Zeitung aus. Überzeugen Sie sich einmal von der Qualität der Printausgabe. 

links & bündig gegen rechte Bünde

Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.

Ähnliche:

  • Hoffnungsträger eines geschundenen Landes: Ibrahim Traoré in Mos...
    13.05.2025

    Triumph für Traoré

    Burkina Faso: Interimsstaatschef nimmt als Ehrengast an Feierlichkeiten in Moskau teil
  • Freude bei den einen, Angst bei den anderen: Streitkräfte beim E...
    15.04.2025

    Miliz zementiert Spaltung

    Sudan: RSF nehmen Flüchtlingslager Samsam in Darfur ein. Afrikanische Union und Europäer treffen sich in London
  • Neubau der Makupa-Brücke und Autobahn in Mombasa (Kenia) durch d...
    16.08.2023

    Großmutter der »Arabellion«

    Aufstände im Sudan: Kommunistische Partei bis heute federführend trotz jahrzehntelanger Repression, die von der BRD unterstützt wurde

Regio: