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Aus: Ausgabe vom 10.11.2025, Seite 12 / Thema
Indien

Selbstbestimmung als Falle

Die sogenannte Kaschmir-Frage lässt sich nicht durch Abspaltung lösen. Entsprechende Forderungen dienten immer der Spaltung der Arbeiterbewegung
Von Satyajeet Malik
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Am sechsten Jahrestag der Aufhebung des Autonomiestatus von Kaschmir durch Premierminister Modi patrouilliert Polizei in der Provinzstadt Srinagar, um mögliche Proteste zu unterdrücken (5.8.2025)

Der Terroranschlag in Kaschmir am 22. April und der darauf folgende viertägige Krieg zwischen Indien und Pakistan im Mai dieses Jahres haben die »Kaschmir-Frage« erneut in den Vordergrund gerückt. Unmittelbar nach dem Angriff begannen zahlreiche Wissenschaftler und Aktivisten, insbesondere diejenigen, die in der westlichen Palästina-Bewegung aktiv sind, sich für die »Freiheit« oder Abspaltung Kaschmirs von Indien einzusetzen. Dabei wurde versucht, starke Parallelen zwischen dem Kampf für die Befreiung Palästinas und Kaschmirs zu ziehen. Diese Stimmung fand auch in der westlichen kommunistischen Bewegung Widerhall, die sich auf der Grundlage eines marxistisch-leninistischen Verständnisses der nationalen Frage für das Selbstbestimmungsrecht Kaschmirs einsetzte. Dabei wurde jedoch übersehen, dass die Forderung nach der Abspaltung Kaschmirs ursprünglich von den hinduistischen Nationalisten und den britischen Imperialisten gestellt wurde, die die Kaschmir-Frage seit langem nutzen, um Spaltungen innerhalb der Arbeiterklasse hervorzurufen. Diese Forderungen beruhen in erster Linie auf einer mangelnden konkreten Analyse der Verhältnisse in Indien, eine Lücke, die der vorliegende Artikel mit Bezug auf die Position der indischen kommunistischen Bewegung schließen möchte.

Geschichte der Kaschmir-Frage

Im Jahr 1846 wurde Kaschmir offiziell Teil des modernen nordindischen Fürstenstaates Jammu und Kaschmir (J. u. K.) und unter die Oberhoheit des Britisch-Indischen Reiches gestellt. J. u. K. gehörte zu den 565 Prinzenstaaten auf dem indischen Subkontinent, die nominell von indischen Monarchen regiert wurden, aber unter der indirekten Kontrolle der britischen Krone standen. Diese Staaten bildeten zusammen mit den direkt von Westminster kontrollierten Regionen das Britisch-Indische Reich.

Seit 1846 stand J. u. K. unter der Herrschaft einer konservativen hinduistischen Monarchie (Maharaja), die eine feudale politische Ökonomie führte, die der Bevölkerung des Staates schwere wirtschaftliche Belastungen auferlegte. Aufgrund seiner bergigen Topographie blieb der Staat weitgehend vom Rest Indiens isoliert. Die erste Straße, die einen leichteren Zugang zum Kaschmir-Tal ermöglichte, wurde erst 1890 eröffnet. Erst in den 1930er Jahren begann sich im Tal eine Volksbewegung gegen die feudale Herrschaft zu formieren. Von Anfang an hatte die Bewegung einen starken prodemokratischen und antiimperialistischen Charakter, denn sie war von der Russischen Revolution inspiriert und stark von der indischen kommunistischen Bewegung beeinflusst.

Scheich Abdullah, Sohn eines Schalherstellers aus Kaschmir, war das populärste Gesicht dieser Bewegung, wobei seine Partei, die »National Conference«, zur avantgardistischen Organisation der Region wurde. 1944 verabschiedete die Partei ein Manifest mit dem Titel »Naya Kashmir« (Neues Kaschmir), das als das radikalste bürgerlich-demokratische Programm in ganz Indien galt. Das Programm war direkt von So­wjetrussland inspiriert und befürwortete Planwirtschaft, staatliche Industrie, die Abschaffung des Grundbesitzes und die Verteilung von Land an die Bauern ohne Kompensation für die Grundbesitzer. Das Dokument war auch in sozialpolitischer Hinsicht fortschrittlich, da es das allgemeine Wahlrecht für Erwachsene, Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit sowie Gleichheit für alle, unabhängig von Ethnie, Geschlecht, Religion usw., befürwortete. 1946 forderte die Partei sogar die vollständige Abschaffung der Monarchie, was schließlich zur Verhaftung von Abdullah und anderen Parteimitgliedern führte. Das Programm der Partei und der Charakter der Bewegung waren so progressiv, dass die hinduistische Rechte und die Faschisten im Bundesstaat begannen, sich für die Trennung von J. u. K. vom Rest Indiens einzusetzen, da sie die feudalen Verhältnisse im Bundesstaat erhalten wollten.

Im Juni 1947 führte das britische Indien-Reich den sogenannten Mountbatten-Plan ein, der die Teilung Britisch-Indiens in zwei unabhängige Länder, Indien und Pakistan, vorsah. Im Rahmen dieses Plans erhielten alle 565 Prinzenstaaten die Freiheit, zu entscheiden, ob sie sich Indien oder Pakistan anschließen oder unabhängig bleiben wollten. Tatsächlich forderten die britischen Imperialisten den Maharaja von J. u. K. auf, unabhängig zu bleiben. Die Briten verfolgten diese Politik, weil sie die sehr fortschrittliche Bewegung in diesem Staat von der demokratischen Bewegung in Indien trennen wollten. Außerdem betrachteten die Imperialisten den Staat als geopolitisch sensiblen Punkt, da er im Norden fast an die Sowjetunion, im Osten an China und im Süden an den indischen Subkontinent grenzte und zudem ein Tor zum Nahen Osten darstellte. Durch die Unterstützung der feudalen Monarchie wollten die Briten verhindern, dass der Staat in die Hände der Kommunisten geriet. Letztendlich erklärte der Maharaja von Kaschmir im Oktober 1947, zwei Monate nach dem Ende der britischen Herrschaft auf dem indischen Subkontinent, offen seine Entscheidung, unabhängig zu bleiben, was von der hinduistischen Rechten unterstützt wurde.

Die bürgerlich-demokratische Bewegung von J. u. K. war jedoch ideologisch und politisch so stark mit der indischen bürgerlich-demokratischen Bewegung verbunden, dass die reaktionären Pläne, den Staat von Indien zu trennen, nicht umgesetzt werden konnten. Vor diesem Hintergrund führten Stammesangehörige aus Nordpakistan unter der Führung und mit Unterstützung des britischen Imperialismus am 20. Oktober 1947 eine bewaffnete Invasion Kaschmirs durch. Die von den Massen losgelöste Regierung des Maharaja brach angesichts der Invasion zusammen, und der König floh aus der Region. In dieser kritischen Situation rief die National Conference unter Scheich Abdullah das gesamte Volk des Tals zum Widerstand gegen die Invasion auf. Zehntausende Kaschmiris, darunter auch Frauen, organisierten den bewaffneten Widerstand gegen die profeudale und proimperialistische Invasion, die darauf abzielte, Kaschmir zu besetzen. Die Führer der National Conference baten auch die neu gegründete indische Regierung um direkte militärische Hilfe. Schließlich unterzeichnete der Maharaja am 26. Oktober 1947 die Beitrittsurkunde zu Indien, um die Unterstützung durch Indien sicherzustellen. Die Briten versuchten ihrerseits, die indische Regierung unter Druck zu setzen, nicht einzugreifen, hatten damit jedoch keinen Erfolg.

Gebrochene Versprechen

Nach der Niederlage der Invasoren übernahm die National Conference vorübergehend die Verwaltung des Staates und führte sofort Reformen zur wirtschaftlichen Verbesserung der Lebensbedingungen der Bevölkerung ein. Die Partei führte weitreichende Landreformen durch, darunter die Umverteilung von Land an die Bauern ohne Entschädigung der Grundbesitzer, und beendete die Erbmonarchie. Dies führte sofort zu einer Reaktion der profeudalen Hinduisten, die nun ihre Taktik änderten und begannen, sich für die Anwendung der indischen Verfassung auf den Staat J. u. K. einzusetzen. Sie taten dies, weil die neue indische Verfassung bis dahin die Beibehaltung bestimmter Befugnisse der Monarchie in verschiedenen Staaten zuließ. Außerdem garantierte sie, dass kein Grundbesitzer ohne Kompensationszahlung enteignet werden durfte. Dies hätte eine faktische Umkehrung der fortschrittlichen Politik der Übergangsregierung in J. u. K. bedeutet.

Dennoch scheiterte die hinduistische Rechte mit ihren Forderungen. Statt dessen wurde 1949 in die neu verabschiedete indische Verfassung Artikel 370 aufgenommen, der J. u. K. einen Sonderstatus einräumte und eine eigene Verfassung, Flagge und Kontrolle über die meisten internen Angelegenheiten, mit Ausnahme von Verteidigung, Außenpolitik und Kommunikation, gewährte. Danach fanden 1951 zum ersten Mal Wahlen in J. u. K. statt, bei denen die National Conference alle 45 Sitze in der Staatsversammlung gewann. 1952 unterzeichnete die neue demokratisch gewählte Regierung in J. u. K. das »Delhi-Abkommen über den Beitritt« mit der indischen Regierung, um sich Indien anzuschließen. Die indische Regierung erhielt nur bei Verteidigung und Außenpolitik das letzte Wort, während die Regierung von J. u. K. in allen anderen Bereichen vollständige interne Autonomie genoss.

Allerdings ist die nachfolgende Geschichte eine der Verweigerung von Demokratie und gebrochener Versprechen gegenüber dem Volk von Kaschmir, da die herrschenden Klassen Indiens nie die ordnungsgemäße Umsetzung der dem Staat gewährten besonderen Autonomie zuließen. Besonders die Großbourgeoisie fühlte sich durch den radikalen Charakter der bürgerlich-demokratischen Bewegung in Kaschmir bedroht. Infolgedessen kam es sehr schnell zu Widersprüchen zwischen den beiden Seiten, die 1953 zur Verhaftung von Scheich Abdullah führten, der inzwischen zum Premierminister von J. u. K. gewählt geworden war. Er wurde erst 1964 aus der Haft entlassen, aber 1965 erneut verhaftet. Darüber hinaus untergrub die indische Regierung ständig die Autonomie des Bundesstaates, indem sie regelmäßig neue Verordnungen erließ (insgesamt 42), die den Geltungsbereich mehrerer indischer Gesetze auf den Bundesstaat ausweiteten.

Regelmäßige Eingriffe der indischen Regierung in die Wahlen wurden zur Norm. Die wachsende Unzufriedenheit unter der Bevölkerung schuf Raum für separatistische Bestrebungen, die schließlich von radikalen islamistischen Kräften aufgegriffen wurden. Der Rückzug der Sowjetunion aus Afghanistan im Jahr 1991 verschärfte die Lage im Bundesstaat, da Tausende von afghanischen Militanten in die Region strömten. Die Versuche, einen Weg zurück zur Wiederherstellung der Autonomie des Volkes von Kaschmir zu finden, scheiterten. Schließlich gelang der hindunationalistischen Regierung unter Premierminister Narendra Modi 2019 sogar die vollständige Aufhebung des Verfassungsartikels 370. Damit wurde der Sonderstatus des Bundesstaates J. u. K. offiziell beendet und die gesamte Region unter die direkte Herrschaft der indischen Regierung gestellt. Es ist dieser historische Verrat am Versprechen der Autonomie für das Volk von Kaschmir, der den Ruf nach dem »Recht auf Selbstbestimmung« Kaschmirs hervorgebracht und verstärkt hat.

Doch obwohl die Unterdrückung von Kaschmir nicht zu übersehen ist, ist der Ruf nach Selbstbestimmung und damit nach dem Recht auf Abspaltung von Indien ein linksradikaler Ruf, der in die Falle sektiererischer und reaktionärer Kräfte tappt. Ein kurzer Blick auf die nationale Frage in Indien bringt mehr Licht in diese Angelegenheit.

Einheit und Vielheit

Das Indien, wie wir es heute kennen, ist das direkte Ergebnis des Kampfes gegen den britischen Imperialismus, eines Kampfes, der zum ersten Mal das gesamte Volk des indischen Subkontinents zusammenbrachte. Zuvor bestand der indische Subkontinent aus verschiedenen Königreichen, die durch feudale Spaltungen gekennzeichnet waren und sich in ständigem Wandel befanden. Die britische Herrschaft gab dem gesamten Subkontinent zum ersten Mal feste territoriale Grenzen. Es sind jedoch nicht feste territoriale Grenzen, die Indien vereinten, sondern der Widerstand der verschiedenen Nationalitäten, Ethnien und Religionen gegen die unterdrückerische Fremdherrschaft. Allerdings schlossen sich die Völker des Subkontinents nicht nur zusammen, um gegen eine Fremdherrschaft zu kämpfen, sondern auch, um gegen die feudalen Spaltungen und die Rückständigkeit anzukämpfen, was dem gesamten Kampf einen bürgerlich-demokratischen Charakter verlieh. Das Indien, das wir heute kennen, ist ein direktes Ergebnis dieser bürgerlich-demokratischen Bewegung, in der die Völker ihre nationalen, religiösen und ethnischen Unterschiede überwanden. Dieser gemeinsame Kampf machte den neuen Staat Indien zu einem objektiven Fortschritt der Geschichte, einem Fortschritt, der gegen Sektierertum und Spaltung verteidigt werden muss.

Dieser progressive Charakter Indiens zeigt sich daran, dass keiner der Bundesstaaten, aus denen Indien besteht, einschließlich des Bundesstaates Jammu und Kashmir, auf religiös-reaktionären Grundsätzen, sondern dass jeder Bundesstaat in erster Linie auf der sprachlichen Einheit basiert. Einerseits demonstriert dies, wie das indische Volk religiöse und feudale Spaltungen überwunden hat. Andererseits wurden diese sprachlichen Trennungen beibehalten, um der Pluralität der Bevölkerung und ihrer Kultur sowie den Unterschieden in ihren konkreten Kämpfen Rechnung zu tragen. Diese Unterschiede wurden wiederum in der indischen Verfassung berücksichtigt, die selbst ein direktes Ergebnis des bürgerlich-demokratischen antiimperialistischen Kampfes ist.

Die indische Verfassung sieht drei verschiedene Listen vor, die die Gesetzgebungsbefugnisse zwischen den verschiedenen Bundesstaaten und der indischen Regierung aufteilen und der Verfassung einen demokratischen Charakter verleihen. So fallen beispielsweise Angelegenheiten wie Landwirtschaft, Gesundheit, öffentliche Ordnung, staatliche Steuern usw. in die alleinige Zuständigkeit der Landesregierungen. Diese Aufteilung der Gesetzgebungsbefugnisse verleiht jedem einzelnen Bundesstaat eine relative Autonomie, weshalb das Land auch als »Union von Indien« bezeichnet wird – eine Union relativ autonomer Bundesstaaten. Die dem Bundesstaat Jammu und Kaschmir versprochene Autonomie war im Vergleich zu den übrigen Bundesstaaten sogar noch größer, doch prinzipiell genießt jeder einzelne Bundesstaat in Indien ein gewisses Maß an Autonomie.

Die nationale Frage in Indien

Entscheidend ist jedoch, dass die Verfassung keinem Bundesstaat und keiner Nationalität das Recht auf Selbstbestimmung gewährt. Diese Ablehnung wird auch von der indischen kommunistischen Bewegung unterstützt, die argumentiert, dass Lenins These zum Recht der Nationalitäten auf Selbstbestimmung für die indischen Verhältnisse ungültig bleibt. Die marxistisch-leninistische Position zu dieser Frage basiert in erster Linie auf Marx’ Prinzip, dass »keine Nation frei sein kann, wenn sie andere Nationen unterdrückt«. Danach bereicherte und aktualisierte Lenin die Position zur nationalen Frage für die »Epoche des Imperialismus und den Vorabend der sozialistischen Weltrevolution«. In seiner berühmten Schrift »Die sozialistische Revolution und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen« aus dem Jahr 1916 betonte Lenin, dass ein marxistisches Verständnis der nationalen Frage »die Teilung der Nationen in Unterdrücker und Unterdrückte als grundlegend, bedeutsam und unter dem Imperialismus zwangsläufig postulieren muss«.

Für Lenin hatte daher in der Epoche vor der sozialistischen Revolution jede Trennung zwischen Nationalitäten zwangsläufig den Charakter der Unterdrückung einer Nationalität durch eine andere. Ausgehend von diesem Unterdrückungsverhältnis entwickelte Lenin die unabhängige Position der Kommunisten und der Arbeiterklasse zu dieser Frage. Lenin begründete das Selbstbestimmungsrecht und das Recht auf Sezession einer Nation und argumentierte, dass »das Proletariat gegen die erzwungene Zurückhaltung unterdrückter Nationen innerhalb der Grenzen des gegebenen Staates kämpfen muss, was bedeutet, dass es für das Recht auf Selbstbestimmung kämpfen muss«. Die Rechtfertigung der Selbstbestimmung liegt also in der Unterdrückung einer Nationalität durch eine andere.

Die indische kommunistische Bewegung bestreitet jedoch die Zwangsläufigkeit der Unterdrückung einer Nationalität durch eine andere unter den indischen Bedingungen. So argumentiert beispielsweise die Kommunistische Partei Indiens – Marxisten (KPIM) in ihrer Resolution zur »Nationalen Frage in Indien«, dass man in Indien »die Einteilung der indischen Nationalitäten in sogenannte Unterdrücker und Unterdrückte nicht postulieren kann«. Anders ausgedrückt: Die Unterdrückung einer Nationalität durch eine andere existiert in Indien nicht, zumindest nicht in einem Ausmaß, das Selbstbestimmung rechtfertigen würde. Statt dessen handelt es sich laut KPIM »heute eher um Klassenausbeutung und Unterdrückung durch die Großbourgeoisie, Großgrundbesitzer und ausländische Monopolisten«. Um die konkrete Situation in Indien zu verstehen, muss man auch das hierarchische Kastensystem berücksichtigen, das die Unterdrückung und Ausbeutung von Menschen einer Nationalität durch die Bourgeoisie und Großgrundbesitzer derselben Nationalität begünstigt. Die Unterdrückung verläuft primär zwischen den Klassen und Kasten, nicht zwischen den verschiedenen Nationalitäten.

Nach dieser Analyse haben die verschiedenen Nationalitäten und Staaten in Indien kein Recht auf Selbstbestimmung. Statt dessen stellt der Slogan der Selbstbestimmung unter den indischen Verhältnissen eine ernsthafte Bedrohung für die Einheit des Landes dar, die aufgrund des unvollendeten Kampfes gegen die feudalen Spaltungen weiterhin fragil ist. Darüber hinaus droht der engstirnige Nationalismus und Chauvinismus in Indien, den gemeinsamen Kampf der arbeitenden Massen gegen die Klassenausbeutung durch die Großbourgeoisie, die Großgrundbesitzer und die ausländischen Monopolisten zu untergraben.

Separatismus als Vorwand

In diesem Sinne erweisen sich die separatistischen Bewegungen als die größten Verbündeten der ausbeutenden herrschenden Klassen, da sie die Einheit der Arbeiterklasse zerstören. Die bisherige Geschichte der Kaschmir-Frage ist ein anschauliches Beispiel dafür, da die Forderung nach einer Abspaltung Kaschmirs von Indien die indischen Arbeiter in Hindus und Muslime gespalten hat. Darüber hinaus hat sich gezeigt, dass die separatistischen Forderungen in Indien oft die Klasseninteressen der regionalen Bourgeoisie oder der Großgrundbesitzer vertreten, die nationalistische Gefühle schüren, um einen größeren Anteil am von den arbeitenden Menschen geschaffenen Reichtum zu erhalten.

Die separatistischen Aktivitäten werden wiederum von der Zentralregierung als Rechtfertigung dafür genutzt, die Autonomie der Bundesstaaten zu untergraben, indem sie entweder die bürgerlichen und politischen Rechte der Bevölkerung eines Bundesstaates einschränkt oder Gesetze zu Angelegenheiten erlässt, die eigentlich zu den Befugnissen der Bundesstaaten zählen. Dies war 2020 zu beobachten, als die Regierung von Narendra Modi drei neue Agrargesetze einführte, die alle Landesgesetze zur Landwirtschaft außer Kraft setzten. Dies führte zu den berühmten Bauernprotesten in Indien, bei denen Bauern aus allen Ecken des Landes in die Hauptstadt Delhi marschierten.

Diese Tatsache zeigt, dass nicht nur die Autonomie des Bundesstaates Jammu und Kaschmir von der Zentralregierung untergraben wurde und wird, sondern die Autonomie fast aller Bundesstaaten. Das Beispiel des Bundesstaates Kerala wirft ein interessantes Licht auf diese Frage. Kerala, das seit Jahrzehnten von kommunistischen Parteien regiert wird, hat es versäumt, vergleichbar radikale Landreformen durchzuführen wie die bürgerlich-demokratische Regierung in Kaschmir. Dies liegt daran, dass der Bundesstaat Kaschmir in den ersten Jahren der Unabhängigkeit im Gegensatz zum Rest des Landes über eine größere Autonomie verfügte, die es der Landesregierung ermöglichte, radikale Reformen ohne das Eingreifen der Zentralregierung durchzuführen. In Kerala hingegen gelang es der Zentralregierung, solche radikalen Reformen zu untergraben.

Diese Tendenz, die Autonomie der Bundesstaaten anzugreifen, verstärkt sich unter der Herrschaft der hindunationalistischen Regierung Modi, die die Grenzen zwischen den Bundesstaaten aufheben und ein einheitliches Wirtschaftsgebiet für die Großbourgeoisie, die Großgrundbesitzer sowie das ausländische Finanzkapital schaffen will. Dabei wollen die genannten Klassen, die auf nationaler Ebene agieren, auch die regionale Kleinbourgeoisie und die kleinen und mittleren Bauern aus dem Wettbewerb verdrängen. Dies zeigt, dass der Widerspruch zwischen Zentrum und Bundesstaaten weniger ein Widerspruch zwischen den arbeitenden Menschen Indiens ist, sondern vielmehr in der Konkurrenz zwischen den herrschenden Klassen um einen größeren Anteil an der Ausbeutung der arbeitenden Menschen besteht.

Wider die Spaltung

Letztendlich ist die Hauptursache für die Vielzahl separatistischer Bewegungen in Indien das Versagen der herrschenden Ordnung, die grundlegenden Hoffnungen und materiellen Bedürfnisse der Bevölkerung zu erfüllen. Es sind die verstärkte Ausbeutung und das Leiden der Völker, die die Saat der Enttäuschung unter den Massen säen, die dazu verleitet werden, gegen ihre eigenen Klassenbrüder zu kämpfen, anstatt gegen die Herrschaft der Klassenunterdrückung.

Das Versprechen der Autonomie für das Volk von Kaschmir wurde im großen und ganzen gebrochen, aber dieselben Versprechen wurden auch für den Rest der arbeitenden Bevölkerung Indiens gebrochen. Der Kampf für Autonomie und Demokratie ist ein gemeinsamer Kampf für das gesamte Volk Indiens, ein Kampf, der sich gegen die gemeinsamen Feinde aller arbeitenden Menschen richtet, gegen die Großbourgeoisie, die Großgrundbesitzer und das ausländische Finanzkapital. Die Forderung nach der Abspaltung Kaschmirs ignoriert nicht nur die Tatsache, dass der Staat Kaschmir wie jeder andere Staat 1952 demokratisch beschlossen hat, sich Indien anzuschließen, sondern droht auch, die Einheit der Arbeiterklasse in Indien zu zerstören, der einzigen materiellen Kraft, die in der Lage ist, die Aufgabe der Gründung eines wahren demokratischen Landes zu übernehmen.

Satyajeet Malik studierte Staatswissenschaften an der Leuphana-Universität in Lüneburg und arbeitet als freier Journalist. 2026 erscheint sein Buch »Der digitale Raubzug. Wie Großkonzerne und Supermächte den Kolonialismus fortsetzen und global ausbeuten« im Quadriga-Verlag.

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