Aus Leserbriefen an die Redaktion
Dialektik des Fortschritts
Zu jW vom 30.10.: »Kein unschuldiger Begriff«
Der Beitrag ist mir insgesamt zu »kopflastig«. Das Verhältnis von Basis und Überbau dürfte auch in Reflexionen über den Fortschritt hineingehören. Dass das Sein das Bewusstsein bestimmt, sollte nach wie vor Geltung haben, auch wenn es möglicherweise von marxistischen Theoretikern zuweilen zu deterministisch verstanden wurde. Gerade die ungeheure Macht von Digitalunternehmen in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, die sowohl ungeahnten Fortschritt repräsentieren, aber zugleich Rückschritt bis hin zur Vernichtung der Gattung Mensch implizieren, drängt zur Vergesellschaftung der Produktionsmittel und zur Überwindung des Privateigentums an diesen. Der Fortschritt der Menschheit und seiner Fortexistenz hängt letztlich von eben dieser Eigentumsfrage ab. Gelingt es der Menschheit nicht, diese soziale Revolution durchzuführen, dann ist es mit jedwedem Fortschritt zu Ende!
Hans-Jürgen Joseph, Berlin
Geoid voll Müll
Zu jW vom 30.10.: »Familienkrach bei ›Boschianern‹«
Früher, als alles noch besser war, so zum Ende des Fordismus und noch nicht ganz durchgesetzten Neoliberalismus, da hat die IGM noch richtig argumentiert und gekämpft: Arbeitszeitverkürzung sichert Arbeitsplätze, und hat sie mit einem Streik auch noch durchgesetzt. Zwischendurch war in derselben Organisation auch von qualitativem Wachstum die Rede. Das Credo des seit zweihundert Jahren andauernden Kapitalozäns, der lineare Wachstumsfetisch, ist an sein Ende gekommen, die Zeit des Abstiegs des »Wertewestens« hat begonnen. Das Geoid der Erde ist zwar grenzenlos, aber nicht unendlich. Ihre der Sonne zugewandte Querschnittsfläche wird mit einer konstanten Energiemenge pro Quadratmeter bestrahlt (»Solarkonstante«), und wenn sie nicht wärmer werden will, muss sie diese Energiemenge wieder abstrahlen. Die Menschheit verheizt derzeit an einem Tag fossile Energie, für die eine Million Tage zum Einfangen und Speichern der Sonnenenergie notwendig waren. Nun sind nicht Peak Oil oder anderer Ressourcenmangel das limitierende Problem, sondern die Aufnahmefähigkeit des Planeten für Müll, vornehm »Externalisierung« genannt. Mit der Politik der hohen Kamine und wie derzeit mit der Einleitung von radioaktiv verseuchtem Wasser in den Pazifik bei Fukushima wird die lokale Konzentration von Dreck nur verdünnt, nicht »entsorgt«. Was hat das mit dem Familienkrach beim Bosch zu tun? »Der Bosch« ist unter den eben dargestellten Randbedingungen der Profitkonkurrenz ausgesetzt und muss sich gegen die unsichtbare Hand behaupten. Wenn die unsichtbare Hand halt Elektroautos kauft, für die nur ein Drittel oder ein Viertel der Bauteile gegenüber einem Verbrenner benötigt werden, hat das Folgen für die benötigte Menge an Arbeitskraft. Die Argumentation vom FDPler Rülke, weiterhin auf den Verbrennungsmotor zu setzen, setzt ihn dem Verdacht aus, ein Gewerkschafter zu sein: In Großbritannien haben Gewerkschaften, als die Dampfloks abgeschafft wurden, gefordert, Heizer auf der Elektrolok mitfahren zu lassen.
Heinrich Hopfmüller, Stadum
Katastrophenschutz
Zu jW vom 30.10.: »Im Würgegriff«
Ich habe in den letzten Stunden große Angst um Freunde ausgestanden, die sich derzeit auf Kuba befinden. Die erlösenden Nachrichten kamen zum Glück sehr bald. Die kubanische Regierung hat es, trotz der von den USA und ihren Vasallen immer wieder angeprangerten »Misswirtschaft«, nicht nur geschafft, über 70.0000 Menschen aus den betroffenen Regionen zu evakuieren, sondern auch die Touristen aus vielen Ländern zu schützen. Das bedeutet Aufwand und kostet vor allem Geld. Um so mehr beeindruckt mich die Ruhe und Gelassenheit, mit der dieses geschundene kubanische Volk auch mit Naturgewalten umgeht. In den meist kapitalistisch regierten Ländern drumherum gibt es Tote, furchtbare Zerstörung und vor allem – ihrem Schicksal überlassene Menschen. Was passiert in Florida, wenn »Melissa« dort auf Land trifft? Mar-a-Lago wird es nicht treffen, aber die einfachen Menschen in Florida, dem »Sunshine State« der USA, werden unter den Auswirkungen des Hurrikans zu leiden haben. Welches System ist menschlicher? Das US-amerikanische, imperialistische und kriegstreibende System oder die ach so verteufelte »kommunistische Diktatur« auf Kuba? Und ich danke all jenen Staaten, die wieder in der UN-Vollversammlung für eine Beendigung der Blockade Kubas stimmten. Es sind diese Staaten, die wissen: Die USA und ihre Vasallen sind nicht der Nabel der Welt.
Andreas Eichner, Schönefeld
»Opportunismus allerorten«
Zu jW vom 16.10.: »›Es gibt einen beängstigenden Opportunismus‹«
Richtige Analyse, richtige Erkenntnis, aber falsche Schlussfolgerung. Die galoppierende, chaotische Entwicklung des Kapitalismus nach dem Untergang des Staatssozialismus führt zum permanenten Ausnahmezustand. Richtig! Die Hauptländer des Westens, die G7, sehen sich durch China, Russland und Länder des globalen Südens immer mehr in die Enge getrieben. Die dafür ursächlichen Widersprüche sind aber antagonistische, die sich nicht durch eine »bessere«, »vernünftigere« oder »gute« Politik im bestehenden System beheben lassen. Dazu bedarf es der brutalen, vollumfänglichen Gesellschaftstransformation. Das ginge nur, wenn dessen Grundcharakteristika – Geldfetisch, Profit, Konkurrenzkampf, Machtgier, Ausbeutung – beseitigt würden. Das letzte Gefecht scheint zu nahen. Aber wer führt es? Offensichtlich nicht die Arbeiter, wie es in der »Internationale« suggeriert wird. Nichts Organisiertes dafür zu sehen, weit und breit. Opportunismus allerorten, ja sogar bei der Linkspartei. Sind die, die um 1945 geboren wurden, die letzte Generation im Frieden, ehe die furchtbaren Waffen weltweit sprechen?
Wolfgang Schlenzig, Berlin
Die Hauptländer des Westens, die G7, sehen sich durch China, Russland und Länder des globalen Südens immer mehr in die Enge getrieben.
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