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Aus: Ausgabe vom 30.10.2025, Seite 12 / Thema
Philosophie

Kein unschuldiger Begriff

Im Namen des »Fortschritts« sind immer auch Verbrechen begangen worden, wie die Geschichte des Kolonialismus zeigt. Brauchen wir den Begriff noch?
Von Annette Schlemm
Fortschritt für wen? Hinter jeder erfolgreichen Entwicklung im kapitalistischen System ballt sich noch viel mehr Armut. Blick auf Luxusappartements in São Paulo von der Favela Paraisópolis aus

Das 20. Jahrhundert war einerseits eine Epoche schrecklicher Ereignisse, aber es war auch ein Jahrhundert, in dem wir ungestümen Fortschritt auf vielen Gebieten erlebten und erwarteten, dass es so weitergehen würde. Die junge Welt fragte am 17. April 1970 ihre jungen Leserinnen und Leser: »Was tust Du am Donnerstag, dem 6. Januar des Jahres 2000?« Viele der eingeschickten Antworten beschrieben den zukünftigen Alltag, aber in den meisten Vorstellungen war die Gesellschaft vorangegangen in Richtung Kommunismus. »Mit uns zieht die neue Zeit …«, dieser Liedtext drückte die Stimmung dieser Jahrzehnte treffend aus. Dass die neuen Zeiten besser werden, schien selbstverständlich. Ob jemand das Gedankengut der Arbeiterklasse mittrug oder einfach aus den eigenen Erfahrungen schöpfte, das eigene Leben schien nur eine Richtung zu kennen: »Schneller, höher, weiter.«

Können die Kinder und Enkel dieser Träumerinnen und Träumer das überhaupt noch nachvollziehen? Viele von ihnen beteiligen sich an Bewegungen zur Rettung der Welt vor der Klimakatastrophe und den allgegenwärtigen Naturzerstörungen. Sie haben guten Grund, ihren Eltern und Großeltern wegen deren weltverschleißendem Leben Vorwürfe zu machen. Wer sich etwa mit postkolonialen Überlegungen beschäftigt, wird dort eine starke Kritik und Ablehnung der Begriffe »Entwicklung« und auch »Fortschritt« finden. Mein Buch mit der titelgebenden Frage »Fortschritt als Fehlschritt?« beginne ich mit einem Bericht über den Horror des deutschen Kolonialismus im heutigen Namibia, wo Menschen der Volkgruppen der Herero und Nama, die sich gegen den Landraub der deutschen Einwanderer zur Wehr setzten, auch im Namen des »Fortschritts« zum großen Teil brutal ausgelöscht wurden. Eine der heutigen Namarepräsentantinnen wehrt sich dagegen, diese Vorgänge als »Entwicklung« zu bezeichnen. Dies sei »die größte Lüge des Nordens. Es ist die vermeintliche Großzügigkeit einer Zivilisation, die auf unserer Unterdrückung beruht.« Auch der Begriff des »Fortschritts«, in dessen Namen solche Raubzüge unternommen wurden, hat spätestens damit seine Unschuld verloren.

Dialektische Verwicklungen

Die Vorstellung des Fortschritts enthält in sich die Behauptung oder Vermutung des Voranschreitens der menschlichen Zivilisation bzw. der Welt zum Besseren oder Vollkommenen. Im Deutschen wurde diese Bewegung auch als »Fortgang« bezeichnet und der griechische Ursprung des lateinischen Wortes »progressus« bezieht sich auf das »Fort-schlagen« beim Rudern. Doch nicht jede Entwicklung ist Fortschritt, denn Entwicklungsprozesse enthalten über das Fortschreitende hinaus auch die Momente der Regression und der Stagnation. Auch prozessartige Verläufe ohne eine qualitative Veränderung gelten nicht als progressiv. Die Vorstellungen von Fortschritt setzen generell einen dynamischen Zeitverlauf voraus. Zum Fortschritt gehören Verbesserungen im und für das Leben – besonders angesichts von Verhältnissen, die als untragbar eingeschätzt werden. Der Begriff muss verteidigt werden gegen die unter bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen in jedem Fortschritt steckende Tendenz, auf seinem Weg zu viel Ressourcen und ähnliches zu vernichten oder als Herrschaftslegitimation benutzt zu werden.

Wie ist der Gedanke des Fortschritts überhaupt in die Welt gekommen? Wir wissen, dass viele naturnah lebende Menschen sich den Zeitenlauf eher als Kreislauf vorstellten und vorstellen. In der europäischen Antike entstand dann die Vorstellung einer bestimmten Abfolge von Zeitaltern. Hesiod zufolge, der etwa 700 v. u. Z. lebte, sank die Qualität des Lebens von Zeitalter zu Zeitalter, beginnend mit dem Zeitalter des Goldes, das dann überging in die Zeitalter des Silbers, der Bronze, der Heroen und schließlich in das Zeitalter des Eisens. Xenophanes (5. Jhd. v. u. Z.) ging dann von einer Verbesserung aus, denn »allmählich finden sie suchend das Bessere«. In den Zeiten Francesco Petrarcas (1304–1374) war das Fortschreiten vor allem eine Bewegung weg vom Gegebenen, das als untragbar erlebt und bewertet wurde. Petrarca schrieb: »Um den Nöten dieser unserer Sterblichkeit zu entkommen und sich höher aufzuschwingen, bildet das Nachsinnen über den Tod und über das menschliche Unglück eine Art erste Stufe; die zweite aber ist das heftige Verlangen und Streben, nach oben zu steigen (…).«

Die neuzeitliche europäische Fortschrittsvorstellung könnte eine starke Anregung dadurch erhalten haben, dass im 17. Jahrhundert Menschen aus dem vorher entdeckten amerikanischen Kontinent Kritik an der europäischen Kultur übten und vor allem das Privateigentum und die Vorherrschaft des Geldes nicht akzeptierten. Um die eigene, das heißt die europäische Kultur gegen solche Kritiken zu immunisieren und sie zu legitimieren, eignete sich die von Anne Robert Turgot (1727–1781) entwickelte Stadientheorie der aufeinanderfolgenden Jäger-, Hirten- und Ackerbaukulturen gut, weil durch sie die indigenen Menschen als Zurückgebliebene abgewertet werden konnten.

Im 18. und 19. Jahrhundert erlebte Europa durch den aufstrebenden Kapitalismus eine ungeahnte Entwicklung. Sie wurde begleitet durch eine weitere Ausformung des Fortschrittsdenkens durch Marquis de Condorcet, Johann Gottfried Herder, Immanuel Kant und andere. Es wird auch vermutet, dass die christliche Orientierung auf eine Endzeit hin die »moderne« abendländische Vorstellung vom Fortschreiten in der Zeit begünstigt hat. Dass die Entwicklung der Menschheit voranschreitet, wurde nicht nur als eine zwangsläufige Schritt-für-Schritt-Abfolge vorgestellt, sondern sollte letztlich zur Vollkommenheit der Menschengattung führen. Unterstellt wurde, dass sich dabei eine ursprüngliche Anlage der Menschheit verwirklicht. Auch Ernst Bloch ging beispielsweise von einem »vorweltlichen Daß-Faktor« nicht nur im menschlichen Streben, sondern als »Tragekern der Welt«, als »Wirkungskraft und Samen« des Weltlaufs aus. Auf diese Weise bekommt das Voranschreitende eine unbedingte Dominanz über regressive Phasen der Entwicklung.

Kein Universalschlüssel

In der Hegelschen Philosophie scheint diese hoffnungsvolle Dominanz des Fortschrittlichen – anders als bei Schelling, aus dem Bloch vor allem schöpft – durch die Dialektik begründet. Allerdings wäre eine einfache »Umstülpung« seiner »Logik« ins Materialistische, die aus dem Voranschreiten der logischen Begriffe in Hegels Argumentation eine reale, materielle Entwicklung macht, zu einfach. Auch in der Weltgeschichte analysierte Hegel den »Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit« nur bis zu seiner Gegenwart, über die Zukunft mochte er nicht spekulieren. Aber vor allem die Tatsache, dass es an der damaligen Gegenwart genug zu überwinden und zu verbessern galt, führte dazu, dass der Fortschrittsgedanke immer wieder aufgegriffen wurde – vor allem von jenen, die im bisherigen Fortschritt schlecht wegkamen.

Der Marxismus ist eingebettet in die Vorstellung eines erwarteten aufwärtsstrebenden Stromes der Zeiten. Friedrich Engels meinte, mit mathematischer Sicherheit auf eine bevorstehende soziale Revolution schließen zu können. Und Karl Marx ging von »natürlichen Entwicklungsphasen« aus, die man »weder überspringen noch wegdekretieren« könne. Gleichzeitig setzten Marx und Engels Widerhaken gegen eine zu deterministisch gedachte Geschichtsphilosophie, denn die Abstraktionen (von »der« Geschichte) geben »keineswegs (…) ein Rezept oder Schema, wonach die geschichtlichen Epochen zurechtgestutzt werden können«. Schon im Jahr 1877 schrieb Marx in einem Brief an eine Zeitungsredaktion, dass es keinen übergeschichtlichen »Universalschlüssel« gäbe. Auf eine Nachfrage der russischen Sozialrevolutionärin Wera Sassulitsch wiederholte er diesen Gedanken im Jahr 1881 noch einmal im Zusammenhang mit der Frage der Entstehung des Kapitalismus: »Die ›historische Unvermeidlichkeit‹ dieser Bewegung ist also ausdrücklich auf die Länder Westeuropas beschränkt.« Trotzdem tradierte sich in der Arbeiterbewegung eher eine deterministische Vorstellung von einer stufenförmigen fortschreitenden Aufeinanderfolge der Gesellschaftsformationen. Im Rückblick auf die alte Arbeiterbewegung kritisierte Walter Benjamin: »Es gibt nichts, was die deutsche Arbeiterschaft in dem Grade korrumpiert hat wie die Meinung, sie schwimme mit dem Strom. Die technische Entwicklung galt ihr als das Gefälle des Stromes, mit dem sie zu schwimmen meinte.«

Selbstverständlich hat sich vieles in den vergangenen Jahrzehnten und Jahrhunderten stark zum Besseren verändert. Es gibt viele Dimensionen des Fortschritts, durch die das Leben in großen Bereichen der Welt besser wurde. Es werden mehr Güter hergestellt, die Lebenserwartung steigt stetig, die Kindersterblichkeit sinkt, die Alphabetisierungsrate steigt und die tägliche Arbeitszeit sank, zumindest bis in die 1980er Jahre hinein. Gleichzeitig jedoch stiegen die Umweltprobleme, wie das Aussterben von Arten in Fauna und Flora. Auch wenn man die Lebensqualität in Städten zum Beispiel daran misst, »wie weit sich ein Kind mit einem Dreirad sicher bewegen kann« (so der ehemalige Bürgermeister von Bogotá), ist die Bilanz eher negativ. Die Treibhausgasemissionen schreiten ebenso voran wie die globale Temperaturerwärmung. Auch mehrere der planetaren Belastungsgrenzen werden mehr und mehr überschritten. Solch ein Voranschreiten hängt meist mit dem zusammen, was wir bisher als Fortschritt schätzten.

In Frage gestellt

Auch Kritiken am Fortschritt gibt es schon seit der Antike. Der römische Dichter und Philosoph Lukrez schilderte im ersten Jahrhundert vor unserer Zeit das Voranschreiten unserer Bedürfnisse und die Folgen: »Damals also war es ein Fell, jetzt erfüllen Gold und Purpur mit Sorgen das Leben der Menschen und reiben es auf in Kriegen.« Menschen in anderen Weltregionen gingen nicht diesen Weg. Die !Kung, eine Gruppe indigener Völker, antworteten auf die Frage, ob sie nicht Ackerbau und Viehzucht betreiben wollten: »Warum sollten wir etwas anpflanzen, wo es doch so viele Mongongonüsse auf der Welt gibt?«

Seit längerer Zeit wird weniger gefragt, warum sich die Menschen in anderen Regionen nicht so entwickelten wie die Europäer, deren Weg als das »Normale« betrachtet wird. Statt dessen wird eher gefragt, warum gerade in Europa spätestens seit dem Mittelalter sich ständig beschleunigende Entwicklungen auftraten. Spätestens für kapitalistische Verhältnisse machte Karl Marx die Notwendigkeit verständlich, dass diese Gesellschaftsordnung »sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend revolutionieren« muss, und Friedrich Engels ergänzte, dass in dieser Epoche »jeder Fortschritt zugleich ein relativer Rückschritt« ist, »in dem das Wohl und die Entwicklung der einen sich durchsetzt durch das Wehe und die Zurückdrängung der andern«.

Häufig wird diese Erfahrung des notwendigen Voranschreitens in eine Art übergeschichtlicher »Geschichtsphilosophie« verallgemeinert, dann wird von einem »starken Fortschrittsbegriff« gesprochen. Eine solche Geschichtsphilosophie enthält meist eine deterministische Vorstellung des Fortschritts, die »davon ausgeht, dass alle Ereignisse durch vorhergehende Bedingungen festgelegt sind« (Kurt Bayertz). Der Satz von Marx, wir könnten »naturgemäße Entwicklungsphasen weder überspringen noch wegdekretieren«, ließe sich auch so interpretieren. Verbunden ist diese Vorstellung häufig mit einer Teleologie, also der Annahme einer Vorherbestimmtheit des Ziels der Entwicklung, die meist als Prozess der Vervollkommnung gedacht wird. Problematisch ist daran vor allem die Tendenz, einzelne Menschen bzw. ganze Epochen nur in Bezug auf ihre Bedeutung für das Erreichen dieses Ziels zu bewerten. Angemessener als diese verabsolutierte deterministische Vorstellung ist es eher, von einer konkreten inhaltlichen Bedingtheit historischer Prozesse, von Möglichkeitsfeldern und von einer Vielzahl an bedingenden Faktoren auszugehen.

Trümmer auf Trümmer

Heutzutage schlägt das Pendel wieder um, denn oft werden Denkweisen zuerst in die eine, dann aber in die andere Richtung verabsolutiert. Ein 2020 erschienenes Büchlein mit Essays der Schriftstellerin Ursula K. Le Guin wird beispielsweise untertitelt mit: »Warum uns Fortschritts-Utopien an den Rand des Abgrunds führten«. Tatsächlich finden sich im Hintergrund jeder Zeit der Fortschrittseuphorie auch schon Kritiker. Jean-Jacques Rousseau etwa betonte im 18. Jahrhundert, dass »in dem Maß, in dem unsere Wissenschaften und Künste zur Vollkommenheit fortgeschritten« sind, auch »unsere Seelen verderbt worden«. Friedrich Nietzsche wusste schon lange, dass der Fortschritt »bloß eine moderne Idee, das heißt eine falsche Idee« sei. Oswald Spengler schreibt in seinem Buch »Der Untergang des Abendlandes«: »Niemand erwartet von einer Raupe, die er täglich wachsen sieht, dass sie möglicherweise ein paar Jahre damit fortfährt. (…) Der Geschichte des höhern Menschentums gegenüber aber herrscht ein grenzenlos trivialer Optimismus in Bezug auf die Zukunft.«

Solche Fortschrittskritik wurde in der DDR abgetan als »Pessimismus des Kleinbürgertums, das sich von der ökonomischen Konkurrenz der Bourgeoisie bedroht fühlt«. Ein kluger linker Autor wie Walter Benjamin jedoch konnte dem Fortschritts­optimismus durchaus eine kritische Position entgegenstellen, denn »dass es so weitergeht, ist die Katastrophe«. Sehr bekannt geworden ist auch seine Interpretation eines Bildes von Paul Klee, des »Angelus Novus«: »Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert.« Ansatzweise erkannten das auch schon die Aufklärer: Johann Gottfried Herder stellte bereits fest, dass die Weltveränderer, wenn sie einen neuen Schritt taten, auch immer Lücken hinterließen und dabei Unschuldiges zertraten.

Auch in der Geschichtsschreibung beginnen kritische Stimmen Gehör zu finden. Der indische Historiker Dipesh Chakrabarty etwa bemängelt, dass nichteuropäische Geschichtswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler sich immer auch auf die europäische Geschichte als die »Norm« beziehen müssen, während das andersherum nicht so sei. Er bezeichnet das als »asymmetrische Ignoranz«.

Inzwischen verschlechtert sich die Bilanz des Voranschreitens auf dem Weg der Technisierung und des nicht für alle erreichten Wohlstands von Jahr zu Jahr. Wenn die Naturzerstörungen so groß werden, dass die Lebensbedingungen grundsätzlich in Frage gestellt werden, bekommt Ursula Le Guin mit ihrer starken Abwertung des Fortschrittsbegriffs recht. Auch die Rolle der Fortschrittserzählung bei der Rechtfertigung von kolonialen und kapitalistischen Machtverhältnissen muss kritisiert werden.

Leben ohne Fortschritt?

Müssen wir deshalb vollständig Abstand vom Fortschrittshoffen und -denken nehmen? Es gibt auch andere Vorstellungen. Der Philosoph Karl Löwith berichtete, dass beispielsweise in Japan von Veränderungen in der Zukunft sowieso eher eine Verschlechterung erwartet wird. Für Nietzsche ist die Welt »in jedem einzelnen Augenblick fertig«. Und der Kulturhistoriker Hans Peter Duerr meinte, die »Heiden und Wilden« würden »ja bekanntlich gar nicht ›perfekt‹ werden«, allerdings aus dem Grund, »weil ihnen das Leben so gefällt, wie es ist«. Doch mit dem Verlust des Fortschrittsgedankens sind auch große Probleme verbunden, wie sich an einem vom Dichter Emil Cioran formulierten Ideal zeigt: »In der Verlangsamung ausharren, nichts als dahinleben, die Ungerechtigkeit des Daseins mit Würde ertragen, sich der Erwartung, dem Drang der Hoffnung entziehen, einen Schwebezustand zwischen Aas und Atem zu halten suchen.« Die Ungerechtigkeit des Daseins mit Würde ertragen? Wie sympathischer ist da doch ein Satz aus dem letzten Brief des 1945 hingerichteten Widerstandskämpfers Johann Schmidt: »Ich sterbe nicht als Verbrecher, sondern für meinen Glauben an eine bessere Zukunft.«

Nur Privilegierte, denen es an kaum etwas mangelt, können alles so behalten wollen, wie es ist. Menschen sind immer arbeitende, das heißt die Welt verändernde Wesen. Es kommt nur darauf an, die Gesellschaft so zu gestalten, dass diese Veränderungen allen Menschen, und auch Tieren und den natürlichen Lebensgrundlagen, zugute kommt. Dabei auftretende Ungerechtigkeiten müssen bekämpft werden – dies ist eine Dimension des Fortschritts, die sich nicht in der Menge von hergestellten Gütern bemessen lässt. Wenn wir keinen Fortschritt in den gesellschaftlichen Verhältnissen mehr fordern und erkämpfen könnten, würden noch existierende Herrschaftsformen wie Patriarchat, eine auf Profit ausgerichtete Wirtschaft, Ausbeutung, Unterdrückung und Rechtlosigkeit hingenommen. Wenn die Welt derart im argen bliebe, gäbe es keine Alternative zu rechtspopulistischer und faschistoider Politik mehr. Schon Ernst Bloch meinte, wenn es keine vernünftige, emanzipative Alternative zum schlechten Gegebenen gibt, wird die Sehnsucht danach aufgesogen durch reaktionäre Kräfte.

Rettung eines Begriffs

Welches Verhältnis zum Fortschritt wäre also vernünftig? Der Historiker und Philosoph Heinz Dieter Kittsteiner ging davon aus, dass jede Epoche eine »gemeinsame Grundaufgabe« habe. Angesichts der aktuellen Gefährdung der Lebensgrundlagen muss die Grundaufgabe unserer Epoche darin bestehen, ein möglichst zivilisiertes Überleben möglichst vieler Menschen in Frieden und mit einem möglichst hohen Lebensniveau zu sichern. Das erfordert eine sozialökologische Transformation. Wir können nicht mehr bloß »zurück zur Natur« – das wollte übrigens auch Jean-Jacques Rousseau, trotz seiner Zivilisationskritik, nicht. Bisher hätte man sich vielleicht entscheiden können, auf Fortschritt zu verzichten. Heute ist eine bestimmte Form von Fortschritt, und zwar der, der vom Abgrund wegführt, unabdingbar. Früher war Fortschritt möglich – heute ist er zur Überlebensbedingung geworden.

Die hier verwendeten Zitate sind bibliographisch zugeordnet im neu erschienenen Buch von Annette Schlemm: »Fortschritt als Fehlschritt? Eine rettende Kritik«, Schmetterling-Verlag, Stuttgart 2025.

Annette Schlemm schrieb an dieser Stelle zuletzt am 11. Oktober 2022 über Climate-Engineering: »Kokettieren mit dem Plan B«

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  • Leserbrief von Joachim Becker aus Eilenburg (3. November 2025 um 15:18 Uhr)
    Die gesellschaftlichen Verhältnisse in den realsozialistischen Ländern, auch in der DDR, sind trotz Defizite und Mängel, fortschrittlich gewesen. Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit, Armut und Perspektivlosigkeit sind für uns DDR-Bürgerinnen und Bürger bis zur Annexion der DDR durch die BRD, fremde Begriffe gewesen. In der DDR hatte jede/r eine gesicherte Existenz. Niemand musste um seinen Arbeitsplatz bangen, niemand musste fürchten, seine Wohnung zu verlieren. Schon mit diesem sozialen Fortschritt sind wir den kapitalistischen Gesellschaften, auch der BRD, um einiges voraus gewesen. Nach der sogenannten Wende 1989/90 sind all diese sozialen Errungenschaften wieder rückgängig gemacht worden, was wir als Rückschritt statt als Fortschritt bezeichnen müssen.
    • Leserbrief von Peter (3. November 2025 um 16:44 Uhr)
      Vieles ist relativ. Ich hatte auch nach der sogenannten Wende immer ein Dach über dem Kopf. Habe eine gute Gesundheitsversorgung, wenn ein neues Auto nötig war, wurde es ohne Wartezeit angeschafft. Die Kinder haben eine gute Ausbildung und interessante Arbeit. Reisen konnte ich in viele schöne Länder in Amerika, Afrika, Europa und Asien. Davon hätte ich in der so fortschrittlichen DDR ein Leben lang nur träumen können. Zwischen dem Blick aufs große Ganze und dem individuellen kann viel sein.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Enrico M. aus Ottenhagen (30. Oktober 2025 um 23:51 Uhr)
    Begriffe als ideelle Produkte vorangegangener Denkprozesse können weder schuldig noch »unschuldig« sein. Auch der Begriff des »Fortschritts« ist zu groß für die kleine Brille moralischer Empörungsbetrachtungen. Damit sieht man lediglich dessen antagonistischen Charakter in der Klassengesellschaft. Das hat bereits Marx beklagt (MEW 12: 4). Der Begriff selbst kann dafür allerdings nix. Denn der gewünschte gesellschaftliche und soziale Fortschritt hat stets sowohl eine ökonomische wie politische Bedingtheit. Z.B. die Sklaverei. Sie »ist eine ökonomische Kategorie von höchster Wichtigkeit« (MEW 4:132 ff). Z.B. das Kolonialsystem. Es ist ein wesentlicher Faktor zur Sprengung der feudalen Fesseln der Produktion (MEW 25: 344 ff). Z.B. die Ursprüngliche Akkumulation. Sie ist in ihrer ekelhaften Brutalität notwendige »Vorgeschichte des Kapitals« (MEW 23: 742). D.h. historischer Fortschritt beruht auf ökonomischem Fortschritt. Was dabei die jeweils neuen Produktionsweisen verlangen, wird stets von den sie vertretenden sozialen Schichten ohne moralische Skrupel vertreten. Siehe z.B. die Merkantilisten (James Steuart), jene Theoretiker der jungen Bourgeoisie des 18. Jahrhunderts. Die gnadenlose Entwicklung der Produktivkräfte hält dabei keiner auf Dauer an (MEW 37: 488 ff). Siehe z.B. den Untergang des europäischen Realsozialismus. Das Unbehagen der Annette Schlemm rührt nun ganz richtig aus Ihrer Ahnung: Sozialer Fortschritt ist kein automatisches Kind des technologischen Fortschritts. Aber warum ist das so? Weil wir noch immer »einer Gesellschaft angehören, worin der Produktionsprozess die Menschen, der Mensch noch nicht den Produktionsprozess bemeistert« (MEW 23: 95). Am Begriff »Fortschritt« sich abzuarbeiten ist somit wenig hilfreich. Es gilt »das Geheimnis der bürgerlichen Produktion« unter die Leute zu bringen: »ihr Beherrschtsein durch den Tauschwert« (MEW 13: 134).
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (30. Oktober 2025 um 17:06 Uhr)
    Alter Wein in neuen Schläuchen bleibt alter Wein. Den Gedanken abzulehnen, dass die Menschen in ihrer Entwicklung fortschreiten werden, hat Methode. Vor allem dann, wenn es um die geistige Vorbereitung dafür geht, Stagnation und Rückschritt als etwas völlig Normales zu akzeptieren und historischen Pessimismus zu legitimieren. Was für eine schreckliche Losung »Vorwärts nimmer, rückwärts immer!« Und das angesichts einer denkbaren Perspektive, dass die Gesellschaft durchaus in der Lage sein könnte, »aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit hinauszutreten«.
  • Leserbrief von Hans-Jürgen Joseph aus Berlin (30. Oktober 2025 um 11:16 Uhr)
    Der Beitrag ist mir insgesamt zu »kopflastig«. Das Verhältnis von Basis und Überbau dürfte auch in Reflexionen über den Fortschritt hineingehören. Dass das Sein das Bewusstsein bestimmt, sollte nach wie vor Geltung haben, auch wenn es möglicherweise von marxistischen Theoretikern zuweilen zu deterministisch verstanden wurde. Gerade die ungeheure Macht von Digitalunternehmen in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, die sowohl ungeahnten Fortschritt repräsentieren, aber zugleich Rückschritt bis hin zur Vernichtung der Gattung Mensch implizieren, drängen zur Vergesellschaftung der Produktionsmittel und zur Überwindung des Privateigentums an diesen. Der Fortschritt der Menschheit und seiner Fortexistenz hängt letztlich von eben dieser Eigentumsfrage ab. Gelingt es der Menschheit nicht, diese soziale Revolution durchzuführen, dann ist es mit jedwedem Fortschritt zu Ende!