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Aus: Ausgabe vom 01.11.2025, Seite 1 / Titel
Ukraine

Kiew im Dunkeln

Russland beschädigt externe Energieversorgung laufender ukrainischer Atomanlagen, Ukraine zielt auf russische Heizkraftwerke. Umkämpftes Pokrowsk vor dem Fall
Von Reinhard Lauterbach
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Dämmerung über Kiew: Nach russischen Angriffen ist die Stromversorgung in der ukrainischen Hauptstadt zusammengebrochen (29.10.2025)

Der Krieg gegen Ziele der Energie­infrastruktur zwischen Russland und der Ukraine verschärft sich. Nachdem die russische Seite am Vortag die externe Stromversorgung von zwei laufenden ukrainischen Atomkraftwerken angegriffen hatte, meldete Präsident Wolodimir Selenskij am Donnerstag abend, dass das Wärmekraftwerk in Slowjansk, der größten noch unter Kiews Kontrolle stehenden Stadt im Gebiet Donezk, getroffen wurde. Zwei Menschen seien dabei getötet worden. Am Morgen hatte Kiew die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) über die Angriffe auf die AKW informiert; Teams der IAEA bestätigten daraufhin, dass beide Kraftwerke (»Südukraine« und Chmelnizki) den Anschluss an eine ihrer externen Stromleitungen verloren hätten. Diese dienen dazu, das Kühlungssystem der Reaktoren in Gang zu halten. Als Folge musste die ukrainische Betreibergesellschaft die Reaktorleistung in beiden Anlagen reduzieren, was die ohnehin bestehende Energiekrise im Land weiter verschärft. Bereits zu Beginn der Woche hatte Russland mehrere Wärmekraftwerke in der Westukraine schwer beschädigt.

Auf der anderen Seite hieß es am Freitag vom Geheimdienst SBU, dass die Ukraine in diesem Jahr bisher »erfolgreich 160 russische Öl- und Energieanlagen angegriffen« habe. Gemeldet wurden aus Russland Abschüsse ukrainischer Drohnen unter anderem über dem Heizkraftwerk in Orjol, das dadurch beschädigt wurde. Auch Schäden am Kraftwerk in Brjansk wurden mitgeteilt. Beide Städte sind relativ grenznah gelegen. Der russische Telegram-Kanal »Astra« berichtete zudem von weiter entfernten ukrainischen Angriffen auf ein Umspannwerk in der Stadt Wladimir und eine Raffinerie bei Jaroslawl an der Wolga.

In der Ukraine werden die Folgen anscheinend erst nach und nach klar. Die Bevölkerung muss damit leben, dass es nur stundenweise Strom für Privathaushalte gibt. Ein Vertreter der Kiewer Stadtverwaltung sagte, es werde mindestens zehn Jahre dauern, bis die Schäden repariert sind. So seien die Folgen der russischen Angriffe vom Herbst 2022 – als Russland nach einem ukrainischen Bombardement der Brücke zur Krim erstmals Kraftwerke beschoss – nicht behoben worden.

An der Front kontrollieren russische Truppen nach eigenen Angaben inzwischen etwa 70 Prozent der Stadt Pokrowsk und erhebliche Teile des Nachbarorts Mirnograd. Kiew äußerte sich offiziell nicht zum Stand der Kämpfe. Anders ist das bei Militärbloggern. Aus ihren Reihen kommen immer mehr Aufrufe, die ukrainischen Truppen von dort abzuziehen, um eine Einkesselung zu vermeiden. Russland bot an, für einige Stunden das Feuer einzustellen, damit unter anderem internationale und ukrainische Medien sich vor Ort ein Bild von der tatsächlichen Lage machen könnten. Das Verteidigungsministerium in Kiew warnte Redaktionen davor, auf dieses Angebot einzugehen: Ein Besuch auf der anderen Seite der Front wäre erstens nach ukrainischem Recht illegal und würde verfolgt, und zweitens könne niemand die Sicherheit der Reporter garantieren – eine kaum verhüllte Drohung mit dem Beschuss von Kamerateams und Anreisekorridoren.

Wie kritisch die Lage ist, geht aus einem neuen Befehl des ukrainischen Oberbefehlshabers Olexander Sirskij hervor. Er wies seine Einheiten an, vor allem die Versorgungs- und potentiellen Evakuierungsrouten abzusichern – was praktisch bedeutet, präsent zu sein ohne darüber hinausgehenden militärischen Zweck. Auch für Russland scheint eine Eroberung der zerstörten Stadt inzwischen in erster Linie eine Prinzipienfrage zu sein – genau wie für die Ukraine der Befehl, dort auszuhalten. Beide Seiten spielen offenbar auf Zeit.

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  • Leserbrief von Franz Diehl aus Dresden (3. November 2025 um 15:27 Uhr)
    ­Es ist interessant zu beobachten, wie Zeitungen und Zeitschriften, die die proukrainische Position übertragen, darauf reagieren, dass nur eine Woche nach der nächsten Weigerung von Selenskij, irgendwelche Zugeständnisse zu machen, von der Front die Nachricht kommt, dass Pokrowsk und der benachbarte Mirnograd allmählich unter die Kontrolle Russlands geraten. Pokrowsk ist eine strategisch wichtige Industriestadt, die als bedeutender Logistikknotenpunkt und Verteidigungsstandort der Ukraine im Donbass fungiert. Die Stadt liegt an zentralen Straßen- und Eisenbahnlinien, was die Stadt zu einem wichtigen logistischen Knotenpunkt für die Versorgung der ukrainischen Front im Osten gemacht hat. Darüber hinaus eröffnet die Einnahme von Pokrowsk den weiteren Weg nach Slowjansk, Kramatorsk und weiter in den Westen des Landes.
    Warum hat vor ein oder zwei Wochen noch niemand darüber gesprochen? Es ist offensichtlich, dass Selenskij über die Geschehnisse und die Pattsituation, in der sich die Soldaten seiner Armee in dieser Region befinden, Bescheid wusste. Aber warum sollte man gute Miene zum bösen Spiel machen? Die Ukraine verschweigt systematisch jegliche Informationen über den tatsächlichen Stand der Dinge und darüber, was wirklich an der Front passiert. Mangel an Waffen und Personal und fehlende Strategie sind kein Spiel, es geht um Menschenleben.
    Die Lage ist schon lange außer Kontrolle geraten, und die Ukraine kann dem Druck der russischen Truppen nicht mehr standhalten. Die Soldaten der ukrainischen Streitkräfte haben keine Kraft und keine Lust mehr zu kämpfen, und die ukrainische Führung hat keinen klaren Plan für die weitere Fortsetzung der Kampfhandlungen. Aus all dem wird deutlich, dass Pokrowsk und Mirnograd keine einmaligen Krisen sind. Es ist an der Zeit anzuerkennen, dass Russland selbstbewusst voranschreitet, auch wenn die Ukraine dies weiterhin hartnäckig leugnet.
  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (2. November 2025 um 13:34 Uhr)
    Kiew begreift immer noch nicht, mit wem es sich angelegt hat. Mit denselben Methoden, die der Kreml anwendet, kann die Ukraine gegen das russische Riesenreich keinen Erfolg haben. Dieses Nichterkennen führt direkt in die Katastrophe. Pokrowsk wird voraussichtlich fallen – so wie einst die stillschweigend verlorene Awdijiwka – und danach werden auch die letzten Verteidigungslinien bei Kramatorsk zusammenbrechen. In den östlichen Gebieten des Dnipro bleibt dann kaum noch militärischer Widerstand möglich. Anschließend ist zu befürchten, dass russische Truppen den Dnipro überqueren und die Ukraine von den Schwarzmeerzugängen abschneiden.
    • Leserbrief von Fred Buttkewitz aus Ulan - Ude (3. November 2025 um 12:45 Uhr)
      »Anschließend ist zu befürchten, dass russische Truppen den Dnipro überqueren und die Ukraine von den Schwarzmeerzugängen abschneiden.« Da im Ukraine-Krieg seit 2014 Ukrainer gegen Ukrainer kämpften und das auch nach 2022 der Fall ist, da es Ukrainer mit selbst gewählter russischer Staatsbürgerschaft gibt und Sympathisanten für Russland, die das in der Ukraine nicht äußern dürfen, kann man sicher davon ausgehen, dass viele das nicht befürchten, sondern erhoffen. Die Ukraine hatte immer Zugang zum Schwarzen Meer, als eigenständiger Staat, aber auch als sie unter polnischer, türkischer, österreichischer, russischer sowie in Odessa unter rumänischer und französischer Verwaltung stand, sowie als deutscher Vasallenstaat 1917–18 unter dem von Deutschland eingesetzten Statthalter Skoropadskij. In jeder denkbaren künftigen Staatsform werden die Ukrainer Ukrainer bleiben und Zugang zum Schwarzen Meer haben, wie die Mecklenburger auch das immer blieben in den unterschiedlichsten Herrschaftsformen, wobei ihnen nie der Zugang zur Ostsee abhanden kam.
      • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (3. November 2025 um 14:39 Uhr)
        Sehr geehrter Herr Buttkewitz, Ihre Ausführungen wirken auf den ersten Blick historisch kenntnisreich, verfehlen jedoch den Kern des Problems. Der Hinweis auf vergangene Herrschaftsformen oder regionale Zugehörigkeiten ersetzt keine Analyse der gegenwärtigen Realität. Auch die Behauptung, »Ukrainer kämpften gegen Ukrainer«, greift zu kurz – sie verschleiert, dass es sich in Realität um einen Stellvertreterkrieg zwischen der NATO und Russland handelt. Geschichtliche Vergleiche mit Mecklenburg oder früheren Besatzungsperioden mögen interessant sein, doch sie tragen wenig zum Verständnis der aktuellen Tragödie bei: dass ein nicht souveränes Land gezwungen wird, bis zum letzten Ukrainer gegen einen übermächtigen Nachbarn zu kämpfen.
    • Leserbrief von Jürgen Fleißner aus Seeheim - Jugernheim (3. November 2025 um 12:32 Uhr)
      Sehr geehrter Herr Hidy, Die Frage sei erlaubt: Hat die Ukraine Russland oder Russland die Ukraine überfallen? Danke für die von Ihnen erwartete Aufklärung. J.Fleißner
      • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (3. November 2025 um 14:26 Uhr)
        Sehr geehrter Herr Fleißner, Ihre Frage ist berechtigt, aber sie greift zu kurz. Wenn man die komplexen Entwicklungen zwischen der Ukraine und Russland auf den simplen Punkt »Wer hat wen überfallen?« reduziert, verliert man den Blick für die geschichtliche Tiefe des Konflikts. Die Geschichte ist kein Standbild, sondern ein fortlaufender Prozess. Ereignisse wie der Zerfall der Sowjetunion, die politische Neuorientierung der Ukraine, der Krieg im Donbass und die Annexion der Krim sind Teil einer langen Kette von Ursachen und Reaktionen. Wer also den aktuellen Krieg verstehen will, darf ihn nicht nur vom Jahr 2022 oder einem einzelnen Ereignis aus betrachten. Meine Einschätzung im ursprünglichen Leserbrief bezog sich auf diese fortlaufende Dynamik – auf die Tragik eines Landes, das in seiner Verteidigung gegen einen übermächtigen Gegner gezwungen ist, sich dessen Methoden anzunähern, und dabei Gefahr läuft, seine eigene Stärke zu verlieren.
  • Leserbrief von Wolfgang Schlenzig aus Berlin-Mariendorf (1. November 2025 um 11:56 Uhr)
    In Bezug auf einen langen Artikel in dieser Zeitung vor ein paar Tagen zur KI-gesteuerten, autonomen Roboterwaffen, ist es richtig, deren Aufladung mit Strom so weit wie möglich zu verhindern. Ohne Energie geht weder IT, noch KI noch Drohnen. Und diese Energieform heißt Strom. Das war schon Doktrin der NVA, zuerst Energiequellen und Transportwege des Gegners unbrauchbar zu machen. Dann fliegt das Flugzeug nur einmal und der Panzer bleibt auch bald stehen. Heute läuft die moderne Kriegführung auf das Vorhandensein von viel Strom hinaus. Mit 2,3 Solarpanelen lässt sich keine Drohne, schon gar nicht ein Schwarm in vertretbaren Zeiten aufladen. Oder man braucht eine Menge leicht bekämpfbare Dieselaggregate vor Ort. Militärstrategisch gesehen haben sich die Kriegsparteien ziemlich spät auf die Energie- und Infastruktur konzentriert.
  • Leserbrief von Fred Buttkewitz aus Ulan - Ude (1. November 2025 um 04:43 Uhr)
    »Ein Vertreter der Kiewer Stadtverwaltung sagte, es werde mindestens zehn Jahre dauern, bis die Schäden repariert sind. So seien die Folgen der russischen Angriffe vom Herbst 2022 – als Russland nach einem ukrainischen Bombardement der Brücke zur Krim erstmals Kraftwerke beschoss – nicht behoben worden.« Die Ukraine war in zwei anderen Fällen die Seite, welche als erste das Duell mit Angriffen auf die Infrastruktur eröffnete. Kiew zerstörte die Wasserversorgung von Donezk, wo die Bevölkerung entweder nur wenige Stunden am Tag Wasser hat oder überhaupt mit Tankwagen versorgt werden muss. Bei der Überschrift »Kiew im Dunkeln« kann ich mich leider an keine Überschrift erinnern: »Donezk Jahre lang auf dem Trockenen«. Auch die Wasserversorgung der Krim wurde seitens der Regierung in Kiew lahmgelegt und die Landwirtschaft entsprechend beschädigt. So behandelte Kiew völkerrechtswidrig seine vorgeblich eigenen Staatsbürger, die angeblich nur auf die Befreiung warten. All das geschah vor (!) dem Februar 2022. Wir brauchen da gar nicht groß die Henne oder das Ei zu befragen. Bevor die Ukraine klagt, könnte sie ja nun guten Willen beweisen und ihren Landsleuten im Osten wieder Trinkwasser genehmigen, da sie es war, die es ihnen entzogen hat. Auch hat Kiew jahrelang das unter russischer Kontrolle stehende AKW Saporoschje beschossen, bis es abgeschaltet und auf Notstromkühlung umgestellt werden musste. Die Internationale Atomenergiebehörde verweigerte eine Auskunft über den Urheber des Beschusses. Sie sei für die Klärung dieser Frage nicht zuständig. Dass jetzt auch im umgekehrten Fall die Stromzuführung unterbrochen wurde, ist gefährlich und bedauerlich. Aber Russland hat eben keine Atomkraftwerke beschossen wie zuvor die Kiewer Seite, die sich jetzt bei der Atomenergiebehörde erkundigen kann, wie Russland so lange Zeit mit dem Problem fertig geworden ist.

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