Kiew im Dunkeln
Von Reinhard Lauterbach
Der Krieg gegen Ziele der Energieinfrastruktur zwischen Russland und der Ukraine verschärft sich. Nachdem die russische Seite am Vortag die externe Stromversorgung von zwei laufenden ukrainischen Atomkraftwerken angegriffen hatte, meldete Präsident Wolodimir Selenskij am Donnerstag abend, dass das Wärmekraftwerk in Slowjansk, der größten noch unter Kiews Kontrolle stehenden Stadt im Gebiet Donezk, getroffen wurde. Zwei Menschen seien dabei getötet worden. Am Morgen hatte Kiew die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) über die Angriffe auf die AKW informiert; Teams der IAEA bestätigten daraufhin, dass beide Kraftwerke (»Südukraine« und Chmelnizki) den Anschluss an eine ihrer externen Stromleitungen verloren hätten. Diese dienen dazu, das Kühlungssystem der Reaktoren in Gang zu halten. Als Folge musste die ukrainische Betreibergesellschaft die Reaktorleistung in beiden Anlagen reduzieren, was die ohnehin bestehende Energiekrise im Land weiter verschärft. Bereits zu Beginn der Woche hatte Russland mehrere Wärmekraftwerke in der Westukraine schwer beschädigt.
Auf der anderen Seite hieß es am Freitag vom Geheimdienst SBU, dass die Ukraine in diesem Jahr bisher »erfolgreich 160 russische Öl- und Energieanlagen angegriffen« habe. Gemeldet wurden aus Russland Abschüsse ukrainischer Drohnen unter anderem über dem Heizkraftwerk in Orjol, das dadurch beschädigt wurde. Auch Schäden am Kraftwerk in Brjansk wurden mitgeteilt. Beide Städte sind relativ grenznah gelegen. Der russische Telegram-Kanal »Astra« berichtete zudem von weiter entfernten ukrainischen Angriffen auf ein Umspannwerk in der Stadt Wladimir und eine Raffinerie bei Jaroslawl an der Wolga.
In der Ukraine werden die Folgen anscheinend erst nach und nach klar. Die Bevölkerung muss damit leben, dass es nur stundenweise Strom für Privathaushalte gibt. Ein Vertreter der Kiewer Stadtverwaltung sagte, es werde mindestens zehn Jahre dauern, bis die Schäden repariert sind. So seien die Folgen der russischen Angriffe vom Herbst 2022 – als Russland nach einem ukrainischen Bombardement der Brücke zur Krim erstmals Kraftwerke beschoss – nicht behoben worden.
An der Front kontrollieren russische Truppen nach eigenen Angaben inzwischen etwa 70 Prozent der Stadt Pokrowsk und erhebliche Teile des Nachbarorts Mirnograd. Kiew äußerte sich offiziell nicht zum Stand der Kämpfe. Anders ist das bei Militärbloggern. Aus ihren Reihen kommen immer mehr Aufrufe, die ukrainischen Truppen von dort abzuziehen, um eine Einkesselung zu vermeiden. Russland bot an, für einige Stunden das Feuer einzustellen, damit unter anderem internationale und ukrainische Medien sich vor Ort ein Bild von der tatsächlichen Lage machen könnten. Das Verteidigungsministerium in Kiew warnte Redaktionen davor, auf dieses Angebot einzugehen: Ein Besuch auf der anderen Seite der Front wäre erstens nach ukrainischem Recht illegal und würde verfolgt, und zweitens könne niemand die Sicherheit der Reporter garantieren – eine kaum verhüllte Drohung mit dem Beschuss von Kamerateams und Anreisekorridoren.
Wie kritisch die Lage ist, geht aus einem neuen Befehl des ukrainischen Oberbefehlshabers Olexander Sirskij hervor. Er wies seine Einheiten an, vor allem die Versorgungs- und potentiellen Evakuierungsrouten abzusichern – was praktisch bedeutet, präsent zu sein ohne darüber hinausgehenden militärischen Zweck. Auch für Russland scheint eine Eroberung der zerstörten Stadt inzwischen in erster Linie eine Prinzipienfrage zu sein – genau wie für die Ukraine der Befehl, dort auszuhalten. Beide Seiten spielen offenbar auf Zeit.
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Warum hat vor ein oder zwei Wochen noch niemand darüber gesprochen? Es ist offensichtlich, dass Selenskij über die Geschehnisse und die Pattsituation, in der sich die Soldaten seiner Armee in dieser Region befinden, Bescheid wusste. Aber warum sollte man gute Miene zum bösen Spiel machen? Die Ukraine verschweigt systematisch jegliche Informationen über den tatsächlichen Stand der Dinge und darüber, was wirklich an der Front passiert. Mangel an Waffen und Personal und fehlende Strategie sind kein Spiel, es geht um Menschenleben.
Die Lage ist schon lange außer Kontrolle geraten, und die Ukraine kann dem Druck der russischen Truppen nicht mehr standhalten. Die Soldaten der ukrainischen Streitkräfte haben keine Kraft und keine Lust mehr zu kämpfen, und die ukrainische Führung hat keinen klaren Plan für die weitere Fortsetzung der Kampfhandlungen. Aus all dem wird deutlich, dass Pokrowsk und Mirnograd keine einmaligen Krisen sind. Es ist an der Zeit anzuerkennen, dass Russland selbstbewusst voranschreitet, auch wenn die Ukraine dies weiterhin hartnäckig leugnet.