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Aus: Ausgabe vom 28.10.2025, Seite 12 / Thema
Geschichte der Arbeiterbewegung

Die eidgenössische Linke

Burgfrieden oder Landesstreik? Reform oder Revolution? Die Schweizer Linke zwischen den Weltkriegen
Von Dominic Iten
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Plakat der Initiative »Proporzwahl des Nationalrates« aus dem Jahr 1918, gestaltet von dem Schweizer Grafiker Melchior Annen

In den kommenden Tagen erscheint im Wiener Mandelbaum-Verlag »Die Linke in der Schweiz. Eine Einführung« von Dominic Iten. Wir dokumentieren daraus mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag einen Auszug aus dem Kapitel »Zwischen zwei Weltkriegen«. (jW)

Obwohl sich die Zweite Internationale gegen Militarismus und das imperialistische Ausgreifen der Nationalstaaten positioniert hatte, unterstützten linke Kräfte in den bürgerlichen Parlamenten Europas die Landesverteidigung – so auch in der Schweiz. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs stellte die Sozialdemokratische Partei der Schweiz (SPS) zugunsten der »Volksgemeinschaft« die Klassenfrage in den Hintergrund und stattete gemeinsam mit den anderen Parteien den Bundesrat mit Vollmachten aus. Aber je länger der Krieg andauerte, desto weniger ließ sich die beschworene Gemeinschaft aufrechterhalten. Der »Burgfrieden« bedeutete massive Angriffe auf die Arbeiter:innen, beispielhaft dafür steht die teilweise Außerkraftsetzung des Fabrikgesetzes, die der Bundesrat kraft seiner Vollmachten bei Kriegsausbruch veranlasste. Die Unternehmen konnten Überzeitarbeit einfordern, Löhne kürzen oder Sonntags- und Nachtarbeit einführen.

Als totaler Krieg begrenzte sich der Erste Weltkrieg nicht aufs Schlachtfeld, sondern wurde auch an der Heimatfront ausgefochten. Mann, Frau und Kind waren Teil des Krieges, alles wurde ihm untergeordnet. Während sich der Mann an der Außengrenze in den Dienst der »Volksgemeinschaft« stellte, hatte sich die Frau an der Heimatfront, also in der Produktion, als Familienoberhaupt und Heldenmutter zu behaupten. Damit wurden Frauen zu Trägerinnen wichtiger Arbeitskampfe. In Zürich, Basel und Lausanne beteiligten sie sich an Protesten gegen die anziehende Inflation, in Fabriken führten sie Streiks gegen Lohnkürzungen und Arbeitszeitverlängerungen. Die Zahl der weiblichen Mitglieder in den Gewerkschaften stieg an und schloss neue Arbeitsfelder mit ein. Im Herbst 1916 brach in den Zigarrenfabriken von Brissago ein Streik aus. Diese beschäftigten fast ausschließlich weibliches Personal – Mädchen von 14 Jahren bis hin zu älteren Frauen um die 70. Die durchschnittlichen Tageslöhne lagen zwischen 1.10 und 2.20 Schweizer Franken – bei einem Brotpreis von 57 Rappen pro Kilogramm. Die rund 500 streikenden Arbeiterinnen konnten eine Lohnerhöhung durchsetzen. Das größte Problem für die Frau im patriarchalen Familienmodell der Kriegszeit blieb derweil die Mehrfachbelastung von Mutterschaft, unbezahlter Reproduktions- und Lohnarbeit – ein Problem, das schon lange bestand, das aber erst mit dem Eindringen der Frau in die höhere Lohnarbeit artikuliert wurde.

Not und Verbote

Nach einer kurzen Krise bei Kriegsausbruch erlebten die Schweizer Export- und Teile der Nahrungsmittelindustrie einen Aufschwung – erstere wegen steigenden Bedarfs der kriegführenden Länder, letztere aufgrund abnehmender Importe. Wahrend die Arbeiter:innen hohe Reallohneinbußen hinnehmen mussten, konnte das Bauerntum von den zurückgehenden Nahrungsmittelimporten profitieren. Mit seiner Preispolitik drückte es auf die ohnehin sinkende Kaufkraft: Obwohl sie damit die Inflation weiter antrieben, stellte sich das Bürgertum nicht gegen die Preispolitik der Bauer:innen – weil es diese politisch für sich gewinnen wollte. Das Bauerntum wurde als Prellbock gegen die Linke eingesetzt – auch in einem ganz wörtlichen Sinne: Wurde wahrend des Krieges das Militär gegen die Arbeiter:innen eingesetzt, griff der Bundesrat in der Regel auf bäuerliche Truppen zurück.

So verschlechterte sich die Lage der Arbeiter:innen zusehends: Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot und Armut bis zu Unterernährung wurden zum Schweizer Alltag. Über dieses Elend regierte der rein bürgerlich besetzte Bundesrat hinweg und setzte der Bewegungsfreiheit der Arbeiter:innenbewegung enge Grenzen: Das Demonstrations- und Versammlungsrecht wurde beschnitten, Zeitungen wurden verboten, linke Volksinitiativen vom Bundesrat ignoriert. Unter diesen Umständen radikalisierten sich Teile der Linken fast zwangsläufig. Partei und Gewerkschaften erlebten starken Zulauf, internationale Verbindungen zum Kampf gegen den imperialistischen Krieg gewannen wieder an Bedeutung – aber ebendiese Frage offenbarte auch innere Differenzen. So wandte sich der linke Flügel der SPS gegen die »Sozialchauvinisten«, welche sich für die Landesverteidigung stark machten: 1916 drängte eine Koalition aus Zentristen und linkem Flügel die »Grütlianer« aus der Partei.

Im Ersten Weltkrieg wurde die Schweiz einmal mehr zum Treffpunkt politischer Flüchtlinge. Ihre offizielle Neutralität und eine relativ lockere Asylpraxis machten das Land zur Drehscheibe für oppositionelle Kräfte – wobei politische Flüchtlinge zwar toleriert wurden, aber unter scharfer Beobachtung der Bundesbehörden standen. Es bildeten sich bedeutende Exilmilieus: Lenin arbeitete in Bern und Zürich an seinen theoretischen Schriften und knüpfte wichtige Kontakte, etwa zu Fritz Platten. Unter dessen Leitung reiste Lenin später in einem versiegelten Eisenbahnwagen zurück nach Russland, wo er zum Führer der Oktoberrevolution aufstieg. Unterdessen betrieben im Cabaret Voltaire eingereiste Dadaist:innen Kunst als antibürgerliche Aktion und wurden zum Ausgangspunkt für Surrealismus, Performancekunst und spätere Punkästhetik.

Nach dem Zusammenbruch der Zweiten Internationale wurde die Schweiz im September 1915 zum Austragungsort der Zimmerwalder Konferenz, mit der Robert Grimm auf die internationale Vernetzung der sozialistischen Kriegsgegner:innen abzielte. Auch Schweizer Vertreter nahmen – ohne offizielles Mandat ihrer Partei – an der Konferenz teil. Die SPS beteiligte sich aber offiziell am zweiten Treffen in Kiental 1916. Dort verschärfte sich der Richtungsstreit, der sich bereits in Zimmerwald abgezeichnet hatte: Die »Zimmerwalder Linke« um Lenin plädierte für einen revolutionären Defätismus und drängte auf die Gründung einer Dritten Internationale, die Fraktion um Robert Grimm stellte sich dagegen und gab den Ausschlag für einen zentristischen Kompromiss. Erst als die Russische Revolution die politischen Kräfteverhältnisse neu ordnete und die Linke in globalem Maßstab radikalisierte, kam es zum offenen Bruch und zur Ausrufung der Dritten Internationale.

Die Schweizer Arbeiter:innen hatten sich schon kurz nach Kriegsbeginn gegen die wachsende Not zu organisieren versucht. Im August 1914 schlossen sich unter anderem der SGB, die SPS und Konsumgenossenschaften zu einer Notstandskommission zusammen, die Maßnahmen zur Behebung der sozialen Missstände verlangte – die Forderungen¹ scheiterten am Widerstand des Bürgertums, was landesweit Proteste ausloste. Gegen Ende des Krieges kam es zu überregionalen Streiks², in denen sich wirtschaftliche und politische Motive vermischten. Am 30. August 1917 wurde mit einem halbtägigen Generalstreik eine gerechtere Verteilung der Lebensmittel eingefordert – beteiligt waren unter anderem Zürich, Basel, Bern, Luzern, Schaffhausen, Genf, Baden und Aarau. Als der Bundesrat im darauffolgenden Winter eine obligatorische Hilfs- und Zivildienstpflicht einführen wollte, welche die gesamte männliche Bevölkerung der Befehlsgewalt der Armee unterstellt hätte³, schlossen sich der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) und SPS gegen den Militarisierungsversuch zusammen und schufen mit dem Oltener Aktionskomitee (OAK) eine Verbindung zwischen Partei und Gewerkschaftsbund.

Einzige Frau im Komitee war die Zürcherin Rosa Bloch-Bollag, die sich wahrend des Krieges als Rednerin und Agitatorin der Frauenbewegung einen Namen gemacht hatte. Sie war 1915 Mitorganisatorin der internationalen sozialistischen Frauenkonferenz in Bern, Mitglied des Zürcher SP-Vorstandes und seit 1917 Teil der Geschäftsleitung der SPS. Sie schrieb und redigierte Artikel für Zeitungen wie die Vorkämpferin, eine 1906 gegründete gewerkschaftliche Frauenzeitschrift, die in der Westschweiz als L’Exploitée erschien. Weil die Männer an der Außengrenze standen, wurden in gemischten Gewerkschaften auch vermehrt Führungspositionen von Frauen besetzt – das sei ein wichtiges politisches Übungsfeld gewesen, schrieb Bloch-Bollag in der Vorkämpferin. Am 10. Juni 1918 marschierte sie mit 1.300 Frauen zum Zürcher Rathaus, um gegen die miserable Versorgungslage zu protestieren.

Streik bricht zusammen

Als im Herbst 1918 die Zürcher Bankangestellten mit Unterstützung der Arbeiterunion⁴ in den Streik traten, fürchtete das Schweizer Bürgertum mit Blick auf die Nachbarländer den Zusammenbruch der bürgerlichen Ordnung – umgehend wurde Zürich militärisch besetzt. Das OAK rief den unbefristeten Generalstreik aus, vom 12. bis zum 14. November sahen sich ein wenig revolutionäres Programm und eine bröckelnde Streikfront mit einem entschlossenen Militär und bürgerlichen Ortswehren konfrontiert. Die provozierte Eskalation des Landesstreiks durch Bürgertum und Armeeleitung wurde im Vorfeld über die Presse und von Amtsinhabenden mit antikommunistischer Propaganda vorbereitet. Die Streikfront zeigte ihre ersten Schwächen in der Westschweiz und unter dem Eisenbahnpersonal, das sich relativ spät dem SGB angeschlossen hatte. Es fehlte an einheitlichen Zielen und Strategien, das ungleiche Kräfteverhältnis ließ den Streik rasch einbrechen. Eine unrühmliche Rolle spielte auch das OAK, welches sich am 13. November mit Verweis auf die militärische Übermacht des Staates der bundesratlichen Forderung nach einem bedingungslosen Streikabbruch fügte. Der spätere SPS-Bundesrat Ernst Nobs, damals Chefredakteur der sozialdemokratischen Tageszeitung Volksrecht, verurteilte die Kapitulation mit scharfen Worten: Niemals sei ein Streik schmählicher zusammengebrochen, »zusammengebrochen nicht unter den Schlägen des Gegners, nicht an der Entkräftung, nicht an der Mutlosigkeit der eigenen Truppen, sondern an der feigen, treulosen Haltung der Streikleitung«.

Unmittelbare Verbesserungen bewirkte der aufgegebene Landesstreik wenige, es folgte eine kurze Phase wilder Streiks – etwa in der Holzverarbeitung, im Bausektor und zunehmend auch im Dienstleistungsbereich. Diese spielten sich vor dem Hintergrund einer schweren Nachkriegsrezession ab: deflationärer Schock, hohe Arbeitslosigkeit und Lohnabbau. Die Streiks scheiterten häufig vor Ort, ermöglichten aber gesetzliche Durchbrüche in der Arbeitszeitfrage. Innerhalb weniger Monate sahen sich Staat und Kapital zu Konzessionen wie etwa der 48-Stunden-Woche gezwungen. Zu den mittelfristigen Erfolgen des Landesstreiks zählte auch die Änderung des Wahlrechts 1919. Während Jahrzehnten hatte sich der »Freisinn« als größte und am breitesten vertretene Partei mittels Mehrheitswahlrechts seine starke Stellung sichern können. Demgegenüber kam die SPS nur in städtischen Arbeiter:innenquartieren auf nennenswerte Resultate und kämpfte deshalb für ein Verhältniswahlrecht (Proporz), das die Sitze proportional zum Stimmenanteil verteilt.

Auf lange Sicht markiert der Landesstreik sowohl den Höhe- als auch einen Wendepunkt der Schweizer Linken: Mit dem Ausschluss der Grütlianer und durch die Versorgungskrise im letzten Kriegsjahr erlebte die SPS einen Linksrutsch, die Mobilisierung von 250.000 Streikenden in den Tagen vom 12. bis zum 14. November ist bis heute beispiellos geblieben. Zugleich ist seit Aufgabe des Streiks die institutionelle Einbindung der Partei und die Entschärfung ihres politischen Profils kontinuierlich vorangeschritten. Repression in Form von Tausenden Prozessen gegen die Streikführenden und rasche Konzessionen wie die Einführung des Proporzwahlrechts oder Arbeitszeitverkürzungen trieben die Integration der SPS ab 1919 voran. Der revolutionäre Aufbruch mündete in eine verwaltete Niederlage.

Links geteilt, rechts geeint

Angesichts der Herausbildung eines klassenübergreifenden Konsenses, der von Sozialpartnerschaft und Arbeitsfrieden getragen wurde, spaltete sich die SPS. Der international orientierte Kommunismus, von der Russischen Revolution beflügelt, lies sich mit der pragmatischen Interessenvertretung im bürgerlichen Staat schwer vereinbaren. Zum endgültigen Bruch kam es angesichts der Frage, ob die Schweizer Linke sich der Dritten Internationale anschließen sollte. Diese sah als Aufnahmebedingung eine zentralistische Struktur mit strikter Unterordnung der Einzelparteien vor, Zentrum und rechter Flügel der Parteien sollten verschwinden. Auf dem SPS-Parteitag im Dezember 1920 stellte sich eine Mehrheit gegen den Beitritt, worauf sich der linke Flügel der SPS mit der einige Jahre zuvor gegründeten Gruppe der »Altkommunisten« zur Kommunistischen Partei der Schweiz (KPS) vereinte. Die Hoffnung der KPS-Führung, es würden sich ihnen massenhaft SPS-Mitglieder anschließen, erfüllte sich nicht – es blieb bei einigen tausend. Mitglieder konnte die KPS vor allem in den größeren Deutschschweizer Städten, in der Metall- und Maschinenindustrie sowie unter den Bau- und Holzarbeiter:innen gewinnen.

Ihre Isolation schwächte die KPS im Kampf um wichtige Positionen. In Gewerkschaften, Presse und Genossenschaften stieß ihr Angebot zur Bildung einer Einheitsfront meist auf Ablehnung. Gewerkschaftsführungen nahmen die von der Dritten Internationale empfohlene Taktik der Fraktions- und Zellenbildung zum Anlass, hart durchzugreifen – so etwa im SMUV, dem damals größten Schweizer Gewerkschaftsverband. Kommunist:innen wurden ausgeschlossen, missliebige Sektionen aufgelöst. Gleichzeitig hatten die Gewerkschaften riesige Mitgliederverluste zu verzeichnen und harte Abwehrkämpfe zu führen – etwa gegen die »Lex Häberlin« von 1922, die ein härteres Vorgehen gegen unliebsame Linke hatte ermöglichen sollen.⁵ Vorstöße wie die SPS-Initiative auf eine einmalige Vermögensabgabe endeten in vernichtenden Niederlagen – nicht zuletzt, weil die antikommunistische Propaganda immer schriller wurde. Dass die SPS mit den ersten Proporzwahlen von 1919 zur zweitstärksten Fraktion im Nationalrat geworden war, vergrößerte ihren realpolitischen Einfluss kaum. Die Liberalen, die Konservativen und die neu entstandene Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB) spannten in den relevanten Fragen zusammen.

Vom europaweiten wirtschaftlichen Aufschwung der 1920er Jahre konnte auch die Schweizer Industrie profitieren. Prekarität und Arbeitslosigkeit verschwanden aber nicht landesweit und branchenübergreifend, die Lohnentwicklung blieb hinter den steigenden Profiten zurück. Das Kapital bemühte sich um die Beseitigung der eben erst erkämpften 48-Stunden-Woche und wurde dabei von politischer Seite kräftig unterstützt: Das Volkswirtschaftsdepartement erteilte eine Sonderbewilligung für die Verlängerung der Arbeitszeiten bis hin zur 52-Stunden-Woche.⁶ Es kam zu Protesten und zu Streiks, welche die Gewerkschaftsspitzen aber mit Verweis auf die schwierige Wirtschaftslage verloren gaben. Damit zeichnete sich eine Tendenz ab, Arbeitskämpfe bürokratischen Verbandsspitzen zu übergeben, das Streikrisiko zu mindern und die Spontaneität einzuschränken. Am Verhandlungstisch gewannen – auch um die Konjunktur nicht zu gefährden – Gesamtarbeitsverträge an Akzeptanz. Diese zweite große Welle von GAV-Abschlüssen betraf fast ausschließlich das Gewerbe.

Mühe bekundeten die Gewerkschaften derweil bei der Einbindung der Angestellten in Dienstleistung und Verwaltung, einer stetig wachsenden Schicht von Arbeiter:innen. Die Angestelltenverbände schlossen sich dem SGB nicht an und standen im Verlaufe der 1920er Jahre einer Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften eher ablehnend gegenüber. Angestellte organisierten sich in der Vereinigung schweizerischer Angestelltenverbände (VSA) und blieben organisatorisch vom SGB getrennt. Die ausgehandelten GAV erfassten die Angestellten bis in die 1970er Jahre kaum, so blieben einzelne Angestelltenbereiche im Vergleich zu den traditionellen Arbeiten schlecht bezahlt und wenig abgesichert.⁷

Ähnliches galt für die Frauen. Ihre traditionelle Rolle erfüllte das Bedürfnis des Kapitals nach Arbeitskräften, die schlecht bezahlt und je nach Konjunktur oder politischer Großwetterlage in den Haushalt, die Fabrik und wieder zurückgeschoben werden konnten. Obwohl die vielen Frauen im Dienstleistungsbereich unter prekären Bedingungen arbeiteten, blieb die organisierte Arbeiterbewegung vorerst eine Männerbewegung – auch weil proletarische Familien nicht von patriarchalen Mustern befreit waren. Tief verankerte Rollenbilder und rechtliche Diskriminierung standen der geschlechterübergreifenden Solidarität im Wege, außerdem wurde die Frau durch ihr vereinzeltes Eindringen in die Lohnarbeit nicht nur zur Genossin, sondern auch zur Lohnkonkurrentin. Die Folge war eine Unterschichtung, bei der Frauen schlecht bezahlte Arbeiten unter schlechteren Bedingungen erledigten.⁸

Schwächelnde Kommunisten

Allen Schwierigkeiten zum Trotz brachte die Zwischenkriegszeit in mehreren großen Städten und Kantonen linke Mehrheiten an die Macht. In Zürich, Basel, Bern, Biel, La Chaux-de-Fonds und Le Locle errang die SPS, zum Teil gemeinsam mit der KPS die absolute Mehrheit in der Exekutive. Die sozialdemokratische Reformpolitik brachte verbesserte Sozialeinrichtungen und Schulen, genossenschaftlichen Wohnungsbau und Sanierungen der Städte. Andererseits bedeutete die Regierungsbeteiligung eine tiefere Integration der SPS in die bürgerlichen Verhältnisse. In diesem Zusammenhang drängte sich auch die Frage um eine Bundesratsbeteiligung immer mehr auf – auf dem Parteitag 1929 setzten sich die Befürworter durch, bis zum Einzug der SPS in die Regierung dauerte es noch 14 Jahre.

Wahrend sich die SPS zur staatstragenden Partei entwickelte, litt die KPS unter anhaltendem Mitgliederverlust und scheiterte mit dem Versuch, eine radikale Alternative zur SPS-Politik aufzubauen. Hinderlich war dabei die immer stärkere Ausrichtung der KPS-Führung an ihrem sowjetischen Vorbild.⁹

In den Vordergrund rückten mehr und mehr der Nachvollzug der Politik der Komintern, eine eigenständige Analyse der Verhältnisse blieb aus. Ab 1929, nach dem VI. Weltkongress der Dritten Internationale, beschuldigte die KPS die Sozialdemokratie, als Handlanger des Bürgertums zum »Sozialfaschismus« zu tendieren. Auch in ihrem Verhältnis zu den Gewerkschaften vollzog die KPS eine Wende und gründete die Revolutionäre Gewerkschaftsopposition (RGO), nachdem die Strategie der Zellenbildung innerhalb bestehender Gewerkschaften gescheitert war. Diese Prozesse waren von lahmenden Debatten, Parteiausschlüssen und -rücktritten geprägt und wurden mit einem Verlust an innerparteilicher Demokratie bezahlt, wodurch die Partei weiter schrumpfte.

Anmerkungen

1 »Stundung der Mietzinsforderungen, Rationierung der Lebensmittel, Wiederinkraftsetzung des Fabrikgesetzes, Notstandsarbeiten, Festsetzung von Höchstpreisen und Mindestlöhnen, eine zentrale Kriegswirtschaftspolitik, die die Versorgung der Bevölkerung durch Schaffung von staatlichen Einkaufs- und Verkaufsmonopolen für Kartoffeln und Kohlen sicherstellen sollte« (AGAZ 1975, 161-2).

2 Im letzten Kriegsjahr initiierten die Gewerkschaften 1.800 Lohnverhandlungen, in 268 Fallen kam es zu Streiks. Die starke Inflation drückte die Reallöhne, 1918 waren sie rund ein Viertel tiefer als zu Kriegsbeginn.

3 Seit 1848 bestand in der Schweiz die allgemeine Wehrpflicht. Im Winter 1917/18 sollten jedoch alle Männer – also auch solche, die nicht oder nicht mehr einrückten – nach Bedarf in kriegswichtigen Betrieben, im Transport- oder Ernteeinsatz dienstverpflichtet und unter militärisches Kommando gestellt werden.

4 Zusammenschluss der Zürcher Arbeiter:innenbewegung, eine Union von Gewerkschaften, Partei und Vereinen.

5 Mit der »Lex Häberlin« wollte die bürgerliche Mehrheit die innere Ordnung gegen sozialistische Agitation schützen, scheiterte aber am von der Arbeiter:innenbewegung getragenen Referendum.

6 Eine Entwicklung, die in der »Lex Schulthess« gipfelte, welche gar die 54-Stunden-Woche vorsah. Die Ablehnung des Gesetzes 1924 erwies sich als Scheinerfolg, weil das Volkswirtschaftsdepartement in der Folge die Praxis der Sonderbewilligungen doch verstärkte.

7 »Kein Geringerer als Emil Lederer nennt es ›eine objektive Tatsache, wenn man behauptet, dass die Angestellten das Schicksal des Proletariats teilen‹. Ja, er wagt die Aussage: ›(…) der gesellschaftliche Raum, in dem wir noch die moderne Sklaverei finden (…), ist heute nicht mehr der Betrieb, in welchem die große Masse der Arbeiter arbeitet, sondern dieser soziale Raum ist das Bureau.‹« (Kracauer 1930, 13)

8 Nach den Erhebungen der schweizerischen Zentralstelle für Frauenberufe waren »in der Metallindustrie die Löhne der Frauen nur einige Rappen höher, als die der Jugendlichen (…) in der Holzindustrie sind sie sogar tiefer. (…) Von der Erlernung der Buchdruckerei und Lithographie ist die Frau noch ausgeschlossen. Sie kann auch nicht eine richtige Postlehre durchmachen. Die Frauen können in ihren Berufen nicht zu den höchsten Stellen steigen; sie werden in den unteren Posten darniedergehalten, auch wenn sie Begabung und Ausbildung und das Streben hatten, verantwortungsreiche Stellen zu bekleiden.« (Strub 1924, 365)

9 Die KPS folgte den Linien der Internationale – von der Einheitsfront über die Sozialfaschismusthese bis zur späteren Volksfrontwende. Die Kurswechsel erschwerten den Aufbau einer stabilen Basis und bestätigten die Politik der SPS als Gegenmodell zur Anbindung an die Internationale. Mit der Stalinisierung der Sowjetunion verlor diese weiter an Vorbildcharakter. Insofern beförderte die internationale Entwicklung zwar zunächst die Gründung der KPS, bewirkte aber schon bald deren Marginalisierung und stärkte den staatsnahen Kurs der SPS.

Dominic Iten: Die Linke in der Schweiz. Eine Einführung. Wien: Mandelbaum 2025, 149 Seiten, 14 Euro

Dominic Iten schrieb an dieser Stelle zuletzt am 26. Februar 2025 über die Schweizer Neutralität.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Michael P. aus Berlin (29. Oktober 2025 um 09:32 Uhr)
    Der Kampf der Linken in der Schweiz in dieser Zeit ist natürlich nicht ohne die wichtige Person von Fritz Platten (1883–1942) zu verstehen, denn sein Wirken als Schweizer Kommunist hatte maßgeblich nicht nur die Schweizer Arbeiterbewegung mitbestimmt. Als Organisator des berühmten Zuges, mit dem Lenin im Frühjahr 1917 vom Exil in Zürich ins revolutionäre Russland zurückkehrte, ging Platten in die Geschichte ein. In seinem Buch von: »Die Reise Lenins durch Deutschland«, aus dem Jahre 1924, berichtet er ausführlich darüber. Er gehörte zur Zimmerwalder Linken und er war 1919 Präsidiumsmitglied bei der Gründung der Komintern in Moskau. 1921 gehörte er zu den Gründungsmitgliedern der Kommunistischen Partei der Schweiz (KPS), für die er auch kurze Zeit im Nationalrat saß. Sein Lebensweg endete später tragisch und unaufgeklärt im Lager Lipowo bei Njandoma, in der Sowjetunion. Bleibt zu hoffen, dass sein Wirken im Buch ausführlich behandelt wird. Michael Polster

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