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Aus: Ausgabe vom 07.02.2024, Seite 12 / Thema
Arbeiterbewegung und Friedensfrage

Arbeiter schießen nicht auf Arbeiter

Die Zweite Internationale und ihr gescheiterter Kampf für den Frieden
Von Jan Pehrke
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»Wissen Sie, was das Proletariat ist? Massen von Menschen, die den Frieden lieben und den Krieg verabscheuen.« – Jean Jaurès, am 31. Juli 1914 ermordet von einem französischen Nationalisten, hier im Mai 1913 als Redner auf einer antimilitaristischen Kundgebung bei Paris

Arbeiter schießen nicht auf Arbeiter. Diese Haltung war im Zusammenhang mit dem laufenden Krieg in der Ukraine eher selten zu vernehmen. Die linke Europa-Parlamentarierin Özlem Alev Demirel immerhin argumentierte bei einer Gewerkschaftsveranstaltung noch mit dieser Position und bezeichnete die Arbeiterklasse als das erste Opfer dieses Kriegs. Denn die habe den Preis zu zahlen. Die russische und ukrainische Arbeiterklasse auf den Schlachtfeldern, in anderen Ländern aufgrund der ökonomischen Verwerfungen infolge der bewaffneten Auseinandersetzung. Am kraftvollsten nahm eine Gruppe von Gewerkschaftern diesen Standpunkt ein, die ihre Organisationen wieder auf einen Antikriegskurs bringen wollte und zum Verdi-Bundeskongress im September 2023 eine entsprechende Petition verfasste: »Es geht um die Haltung ›Arbeiter schießen nicht auf Arbeiter‹. Deswegen hat der Aufruf ›Sagt nein!‹ diesen Ton gewählt«, erläuterte Hedwig Krimmer, Initiatorin der Petition »Sagt nein! Gewerkschafter:innen gegen Krieg, Militarismus und Burgfrieden«, in der jungen Welt. In dem Aufruf wird auf die Geschichte der sozialistischen Bewegung Bezug genommen: »Wir haben nicht vergessen, was 1914 geschah: Die Gewerkschaftsführungen in ganz Europa schickten unter Bruch aller vorherigen Beschlüsse ihre Mitglieder in den Krieg – angeblich ›gegen den russischen Despotenzaren‹, tatsächlich aber für den Profit von Krupp, Thyssen und Co. Konsequenterweise wurde in ›Wahrnehmung der nationalen Verantwortung für Volk und Vaterland‹ der sogenannte Burgfrieden erklärt, und jede Klassen- und Arbeitskampfauseinandersetzung eingestellt, die Streikunterstützung ausgesetzt.«

In der Tat kapitulierte die europäische Arbeiterbewegung 1914 vor dem Krieg, wie der französische Historiker Georges Haupt in seinen beiden Büchern »Der Kongress fand nicht statt« und »Programm und Wirklichkeit« minutiös dargelegt und analysiert hat. Dabei gehörte die Verhinderung eines solchen Weltenbrandes zu den politischen Hauptzielen der Zweiten Internationale, als sie 1889 die Nachfolge der 1876 aufgelösten Internationalen Arbeiter-Assoziation antrat. »Das Proletariat ist die einzige wirksame Kraft des internationalen Friedens«, verkündete sie. Einer ihrer Aktivposten, der französische Sozialist Jean Jaurès, ließ ebenfalls keinen Zweifel an dieser Mission: »Wissen Sie, was das Proletariat ist? Massen von Menschen, die den Frieden lieben und den Krieg verabscheuen.«

Seit 1889 für den Frieden

Dementsprechend stand das Thema von Beginn an auf der Tagesordnung der Kongresse, die die Zweite Internationale regelmäßig abhielt. Gleich auf der Gründungssitzung in Paris kam es zu einer versöhnlichen Geste zwischen den Vorsitzenden der sozialistischen Parteien Frankreichs und Deutschlands, Édouard Vaillant und Wilhelm Liebknecht. »Nach dem furchtbaren Bruderkrieg, in dem unsere beiden Nationen sich zerfleischt, reichen sich so in unseren Personen gewissermaßen die beiden Völker die Hand: Das sozialdemokratische Deutschland und das sozialdemokratische Frankreich«, erklärte Liebknecht. Konkret befasste sich die Versammlung dann mit der Abschaffung der stehenden Heere und der Notwendigkeit einer allgemeinen Volksbewaffnung.

Zwei Jahre später in Brüssel debattierten die Abgesandten über Militarismus, und 1893 in Zürich dann über die Stellung der Sozialdemokratie im Kriegsfall. Die nachfolgenden Kongresse befassten sich mit der Kriegsfrage, dem Völkerfrieden, den internationalen Krisenherden, einer Schiedsgerichtsbarkeit als alternatives Konfliktlösungsmodell, dem Generalstreik als »äußerstes Mittel« und der Sicherung des Weltfriedens. 1912 bewog der erste Balkankrieg die Internationale sogar dazu, am 24. und 25. November einen außerordentlichen, nur dem Frieden gewidmeten Kongress abzuhalten. »In allen Beratungen, in allen Worten, in allen Gedanken der in Basel zusammengerufenen Internationale lag eine ergreifende Rührung und eine Art tragischen Ernstes. O ja, diese Tage werden uns allen unvergesslich bleiben, wie Bebel sagte (…) Man hat dort deutlich gesehen, dass für alle, denen es um den Frieden und um die Kultur der Menschheit zu tun ist, die Internationale des sozialistischen Proletariats eine große moralische Kraft ist, die letzte Zuflucht und die letzte Hoffnung«, schrieb Jean Jaurès. Die in Basel verabschiedete Resolution brachte in aller Deutlichkeit zum Ausdruck, dass die Arbeiter nicht gewillt waren, sich gegenseitig zu töten. »Die Proletarier empfinden es als ein Verbrechen, aufeinander zu schießen, zum Vorteile des Profits der Kapitalisten, des Ehrgeizes der Dynastien oder zur höheren Ehre diplomatischer Geheimverträge«, hieß es darin. Unter anderem wurde in der Deklaration davor gewarnt, die Spannungen zwischen England und Deutschland weiter zu schüren, ein Ende des Flottenausbaus wurde gefordert.

Es blieb nicht bei Worten. Schon Wochen vor dem 24. November fanden im Treptower Park in Berlin 200.000 Friedensbewegte zusammen. »Unvergesslich« war das dem damaligen SPD-Vorsitzenden Hugo Haase. Davon motiviert, kam es auf Initiative der deutschen Sozialdemokraten am 17. November europaweit zu Massenkundgebungen, wie es sie ein Jahr zuvor schon anlässlich der zweiten Marokko-Krise gegeben hatte, und auch im Dezember gingen die Arbeiter in vielen Hauptstädten für den Frieden auf die Straße.

Am 1. März 1913 veröffentlichten die deutschen und die französischen Sozialisten ein gemeinsames Manifest gegen den Krieg, wobei Bebel und Co. den von Jaurès verfassten Text allerdings etwas abschwächten. Im selben Jahr schlugen die schwedischen Sozialdemokraten die Internationale für den Friedensnobelpreis vor, und das Komitee akzeptierte die Kandidatur auch. Der Preis wurde jedoch nicht ihr verliehen, er ging aber sozusagen an die Familie. Der belgische Sozialist und Pazifist Henri La Fontaine, der sich besonders für eine internationale Schiedsgerichtsbarkeit einsetzte, erhielt die Auszeichnung. Am 31. Mai 1914 fand in Basel die Vollversammlung des deutsch-französischen Interparlamentarischen Komitees statt, das für eine allgemeine Abrüstung und für die Einrichtung von Schiedsgerichten eintrat. Auch im Reichstag setzte sich die SPD für eine Aussöhnung mit dem Erbfeind ein und plädierte etwa dafür, Elsaß-Lothringen einen Autonomiestatus zu verleihen.

Der Juli 1914

Wenig später hatte sich die Situation aber schon so zugespitzt, dass das Büro der Zweiten Internationale noch vor dem nächsten regulären Kongress, der für das vorletzte Augustwochenende geplant war, für den 29. und 30. Juli ein Sondertreffen sozialistischer Spitzenpolitiker am Sitz des Büros in Brüssel einberief. »Zurzeit kann sich die ohnehin schon ernste Lage von einem Augenblick auf den anderen noch bedeutend verschlimmern, und die Internationale ist auf ein wirksames und aktives Eingreifen nicht vorbereitet«, konstatierte Vaillant am 26. Juli. Auch der Vorsitzende der Sozialdemokraten, Friedrich Ebert, begrüßte eine Zusammenkunft, zeigte sich ansonsten aber ratlos. »Basel kann man doch nicht wiederholen«, meinte er mit Verweis auf den Kongress von 1912.

Gleich zu Beginn der Tagung sorgte der österreichische Sozialist Victor Adler für ein Stimmungstief, als er die Machtlosigkeit seiner Sozialdemokraten gegenüber den jüngsten Ereignissen eingestand, die mit der Kriegserklärung Österreichs an Serbien eine schlimme Wendung genommen hatten. »Die Partei ist wehrlos. Etwas anderes zu sagen, hieße das Bureau betrügen.« Der serbische Delegierte, dessen Situationsbericht alle mit Spannung erwartet hatten, erschien nicht. Auch Ebert und Maxim Litwinow von den Bolschewiki, der anstelle von Lenin nach Brüssel kommen sollte, fehlten.

Im Anschluss an Adler folgten zwar Gegenreden, auch warteten Emissäre aus anderen Ländern mit positiveren Nachrichten auf, aber die Grundstimmung blieb pessimistisch. Nicht einmal die öffentliche Veranstaltung im Cirque Royal am Abend mit Rosa Luxemburg, Jean Jaurès und anderen prominenten Vertretern der Arbeiterbewegung konnte das ändern, obwohl gerade die Rede von Jaurès bei den Tausenden Zuhörern Begeisterungsstürme hervorrief. Dem Sondergipfel gelang es am Ende nicht, »den gemeinsamen Friedenswillen des europäischen Proletariats kraftvoller und geschlossen zum Ausdruck zu bringen« und »eine gemeinsame energische Aktion abzusprechen«, wie die französische Seite im Vorfeld gefordert hatte. Statt dessen blieb es dabei, den regulären Kongress aus Dringlichkeitsgründen auf den 9. August vorzuverlegen und es den sozialistischen Parteien selbst zu überlassen, in welcher Weise sie auf die Kriegsgefahr reagieren wollten. »Das Internationale Sozialistische Bureau hat heute in seiner Sitzung vom 29. Juli die Delegierten aller vom Weltkrieg bedrohten Nationen angehört. (…) Es verpflichtet einstimmig die Proletarier aller betroffener Länder, Demonstrationen gegen den Krieg und für den Frieden und eine schiedsgerichtliche Regelung des österreich-serbischen Konfliktes nicht nur fortzusetzen, sondern sie noch zu verstärken«, hieß es in der Abschlussresolution.

Einen weiteren Tiefschlag erlitt die Internationale nur zwei Tage später durch das Attentat auf Jean Jaurès, der von einem französischen Nationalisten ermordet wurde. Romain Rolland bezeichnete den Tod der Ikone des Pazifismus als »eine Niederlage für die ganze Welt«. In der Tat trauten es sich die französischen Gewerkschaften ohne diese Galionsfigur nicht mehr zu, eine tatkräftige Opposition gegen den Waffengang zu bilden. Sie entschlossen sich, »die Prinzipien fallen zu lassen« und auf einen Generalstreik zu verzichten. Wenige Tage später weitete sich die Konfrontation zwischen Österreich und Serbien zu einem Weltkrieg aus, von einem entschlossenen Handeln der Arbeiterbewegung indessen keine Spur. Für den Historiker Haupt kam damit »die latente, aber tiefe Krise des europäischen Sozialismus« offen zum Ausdruck. »Ein langer Entwicklungsgang war an sein logisches Ende gelangt«, resümierte er an anderer Stelle.

Wer hat uns verraten ...?

Schon ihrer Anlage nach war die Zweite Internationale kaum geeignet, Bindekraft zu entfalten und die Proletarier aller Länder zu einen. Lange Zeit bestand ihre einzige Aktivität darin, im Zwei-Jahres-Rhythmus einen Kongress abzuhalten. Erst nach 1900 erhielt sie einen eigenen Sitz in Brüssel, ihr erster Sekretär, der spätere belgische Premierminister Camille Huysmans, nahm 1905 seine Arbeit auf. Eine zentrale Struktur mit Weisungsbefugnissen erhielt die Internationale – das war ihrer schwierigen Geburt nach dem Scheitern der Internationalen Arbeiterassoziation geschuldet – jedoch nie. Als »ein verbindendes, kein führendes Organ« charakterisierte Édouard Vaillant sie. Die Zweite Internationale blieb immer ein loser Verbund. Die einzelnen Parteien behielten ihre Autonomie und verteidigten sie gegen Bestrebungen, dem Brüsseler Büro mehr Kompetenzen zu verleihen. Schon die von dort kommenden Empfehlungen befolgten die Sozialdemokratische Partei Deutschlands und die anderen Mitgliedsorganisationen oftmals nicht.

Die SPD erwies sich auch sonst immer wieder als Bremsklotz. Besonders gegen das Mittel des Generalstreiks zur Bewahrung des Friedens sträubte sich die Partei, die aufgrund ihrer Stärke als »Großmacht der Internationale« galt. Sie fürchtete sich davor, damit Gegenmaßnahmen zu provozieren, die ihre Auflösung zur Folge hätten. Aus diesem Grund sprach sich Hermann Molkenbuhr, der zusammen mit August Bebel und Hugo Haase der Reichstagsfraktion vorsaß, bei einer parteiinternen Beratung im November 1913 deutlich gegen dieses Instrument aus, was die politische Polizei des Reiches erleichtert aufnahm. Molkenbuhr erklärte, »dass wir keine Verpflichtungen übernehmen wollen, die wir nicht erfüllen können. Deshalb werden wir uns den freiesten Spielraum bei der Festlegung der Gegenmittel im Kriegsfall sichern. Auf eine bestimmte Taktik werden wir uns dabei nicht einlassen.« Und Karl Kautsky geißelte später die Generalstreikidee sogar als »verbrecherischen Unsinn«, der von dem »ganz unmarxistischen Gedanken ausgehe, dass man alles kann, wenn man nur will«. Überhaupt positionierten sich die Sozialdemokraten nicht strikt und eindeutig gegen den Krieg. Bebel etwa unterschied zwischen gerechten und ungerechten Kriegen. Dementsprechend bekannte sich die SPD – angeblich abgesegnet von der Autorität eines Friedrich Engels – zur Landesverteidigung.

Generell passte sich die Sozialdemokratische Partei mehr und mehr der bürgerlichen Politik an. Ihre radikale Haltung in der Theorie, wie sie im Erfurter Programm von 1891 zum Ausdruck kam, entsprach kaum noch der Praxis. Erst später sollte der Revisionismus Eduard Bernsteins beides wieder zur Deckungsgleichheit bringen. Ermutigt durch ihre Wahlerfolge, hoffte die SPD, mittels Abstimmungen an den Urnen zur Macht zu gelangen. Engels teilte diese Einschätzung. 1893 prognostizierte er in einem Figaro-Interview, dass die Partei bald »aufgefordert sein würde, die Regierung mit Hilfe legaler Mittel zu ergreifen«. Dementsprechend maß die Leitung dem Legalismus große Bedeutung bei. So drängte sie in Brüssel erfolgreich darauf, die eigentlich schon für 1913 geplante Konferenz der Sozialistischen Internationale auf den 23./24. August 1914 zu verschieben, um sich besser auf die preußischen Landtagswahlen vorbereiten zu können, was sich schlussendlich als fatal erwies. »Der Kongress fand nicht statt«; für Georges Haupt zeigte sich in der Absage des Treffens symbolhaft das Scheitern der Internationale im Ringen um den Frieden, weshalb er seinem Buch den entsprechenden Titel gab.

Bei den anderen sozialistischen Parteien Europas zeigten sich ähnliche Entwicklungen wie bei der SPD. So kooperierte die britische Labour Party im Unterhaus mit der Liberalen Partei. Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Österreichs bekannte sich derweil zur Kulturmission des Landes auf dem Balkan und die Italienische Sozialistische Partei nach anfänglichem Zögern zu der Kulturmission Roms in Nordafrika. Und 1911 ließen sich Italiens Sozialisten gegen das Versprechen der Einführung eines allgemeinen Wahlrechts von dem Ansinnen abbringen, gegen den Tripolitanienkrieg einen Generalstreik zu organisieren. Den Kolonialismus im Allgemeinen lehnten immer nur sozialistische Gruppierungen aus solchen Ländern rundweg ab, die sich am Rennen um »den Platz an der Sonne« nicht beteiligten. In den Staaten, die mitmachten, gingen die Sozialisten dagegen Kompromisse ein.

Fehleinschätzungen

Dazu kamen falsche Annahmen. Lange glaubten SPD und Co., ihre schiere Existenz sei schon eine Friedensversicherung, weil die Regierenden die mögliche Kriegsfolge »Revolution« zur Mäßigung bewege. Zudem wechselten sich in den Jahren vor dem August 1914 kritische Phasen immer wieder mit ruhigeren ab, was ebenso zu trügerischen Schlussfolgerungen verleitete wie etwa der glimpfliche Ausgang der ersten und zweiten Marokko-Krise und anderen brenzligen Situationen.

Auch aus wirtschaftlichen Gründen sahen einige die Gefahr eines Waffenganges gebannt. Nach der Einschätzung des französischen Historikers und Ökonomen Louis Rougier zwang die schlechte Konjunktur die Staaten, ihre Rüstungsausgaben zu drosseln und vor Abenteuern zurückzuschrecken, zumal die Großmächte die Welt bereits größtenteils unter sich aufgeteilt und ihre Kolonialreiche arrondiert hatten. Die Verflechtungen galten ebenfalls als pazifizierendes Element. »Ich sage es offen: Die größte Garantie für die Aufrechterhaltung des Weltfriedens liegt heute in den internationalen Investierungen des Kapitals«, erklärte August Bebel. Und Jaurès pflichtete ihm bei. Er wollte in den ersten Globalisierungstendenzen den »Beginn einer kapitalistischen Solidarität« erkennen. Noch auf der Sondersitzung der Internationale Ende Juli 1914 in Brüssel zeigte er sich zuversichtlich: »Es wird wie während der Agadir-Krise sein«, sagte er mit Verweis auf den zweiten Marokko-Konflikt: »Wir werden noch Höhe- und Tiefpunkte erleben. Aber diese Krise wird sich wie die anderen lösen.«

Rosa Luxemburg teilte diese Auffassung. Sie stellte Wilhelm II. sogar »ein pazifistisches Zeugnis« aus. Am 28. Juli schrieb sie: »Man kann den kopflos gewordenen Leitern der deutschen Politik ruhig zugestehen, dass ihnen in diesem Augenblick jede andere Perspektive in lieblicherem Licht erscheint als die, um des habsburgischen Bartes willen alle Schrecknisse und Wagnisse des Krieges mit Russland und Frankreich oder gar letzten Endes mit England auf sich zu nehmen.« Und Haase führte während der Tagung aus: »Am kriegerischsten ist die liberale Bourgeoisie, sie ist antiserbisch und steht auf seiten Österreichs. Aber die Regierungskreise und die Großindustriellen lehnen den Krieg ab. Die Presse der Militärpartei erklärt, dass Deutschland keinerlei Interesse am Krieg hat. Aber wenn Russland angreift, greift Deutschland ein.« Er kündigte an: »Wir werden unsere Demonstrationen verstärken und sie noch kriegsfeindlicher gestalten« und dementierte Gerüchte über ein Stillhalteabkommen mit der Reichsregierung.

Tatsächlich aber versicherte das SPD-Reichstagsmitglied Albert Südekum dem Kanzler Theobald von Bethmann Hollweg in einem Brief, »dass – gerade aus dem Wunsche heraus, dem Frieden zu dienen – keinerlei wie immer geartete Aktion (Generalstreik oder partieller Streik, Sabotage und dergleichen) geplant oder auch nur zu befürchten sei.« Durch geschickte Manöver gelang es Bethmann Hollweg, die Sozialdemokratie einzubinden. Er machte sich dabei zum einen die Bereitschaft der Sozialdemokraten zum Verteidigungskrieg und zum anderen ihre Aversionen gegenüber Russland zunutze. Während die Militärs schon nach Russlands Teilmobilmachung formal eine »drohende Kriegsgefahr« erklärten und damit die entsprechenden Maßnahmen einleiten wollten, wartete der Reichskanzler noch auf ein stärkeres Zeichen aus Richtung Osten, »weil er sonst die Sozialisten nicht mit sich fortreißen könne«.

Mit der Generalmobilmachung kam dieses Signal schließlich, und Admiral Georg Alexander von Müller konnte in sein Tagebuch am 1. August zufrieden eintragen: »Stimmung glänzend. Die Regierung hat eine glückliche Hand gehabt, uns als die Angegriffenen hinzustellen.« Sicherheitshalber legte die Regierung den Reichstagsabgeordneten noch eine »Vorläufige Denkschrift und Aktenstücke zum Kriegsausbruch« vor. Von den darin präsentierten 30 Dokumenten zur Aufklärung darüber, »wie Russland Deutschland hinterging und den europäischen Krieg entfesselte«, waren nicht weniger als 18 gefälscht.

Gegen die Wirkung dieses Dossiers kam ein Artikel im Vorwärts, der die Strategie von Bethmann Hollweg und Co. enthüllte, die SPD durch das Spielen der Russland-Karte auf ihre Seite zu bringen, nicht mehr an. Und bald schwenkte das Blatt selbst um und kündete von der »zaristischen Barbarei«, während sich andere Parteizeitungen über die »Horden des Blutzaren« und die kosakische Bestialität verbreiteten und sich auch sonst nicht zurückhielten. »Schuld oder Unschuld, der Krieg ist da, der das deutsche Volk mit Knechtschaft und Vernichtung bedroht«, konstatierte etwa Friedrich Stampfer in einem von vielen sozialdemokratischen Organen verbreiteten Artikel, während die Bremer Bürger-Zeitung die SPD-Mitglieder aufforderte: »Tut eure grausame Pflicht.« Dem Historiker Dieter Groh zufolge hatte der »chauvinistische Taumel« fast alle Publikationen der Partei erfasst.

In anderen Ländern stellte es sich ähnlich dar. Die Labour Party stützte den Kriegskurs der britischen Regierung genauso wie die »Section française de l’Internationale ouvrière« den der französischen. Eine nicht unbeträchtliche Rolle dabei spielte auch die Angst, durch eine streng pazifistische Politik Wähler und Anhänger zu verlieren. Schon 1870 hatten einige Sozialdemokraten darauf gedrängt, gegen Frankreich mit ins Feld zu ziehen. So hielt Wilhelm Bracke zufolge der damalige Parteivorstand die Enthaltung von Bebel und Liebknecht bei der Abstimmung über die Kriegskredite für einen »taktischen Fehler«, da »die nationale Bewegung eine außerordentliche Kraft und Tiefe entfaltete und wir Grund hatten zu fürchten, die sozialdemokratische Bewegung könne, wenn sie sich der nationalen entgegenstemme, vorübergehend von derselben ganz verschlungen werden«.

Jean Jaurès hatte bereits 1904 auf dem Kongress der Internationale in Amsterdam das Problem des Auseinanderdriftens der einzelnen Sektionen erkannt. »In dem Maß, in dem sich das sozialistische Leben in jedem Land entwickelt, und in dem Maß, in dem es auf die Nation, von der es einen Teil bildet und in der es sich entwickelt, einen direkteren Einfluss ausübt, vermischt sich das sozialistische Leben immer mehr mit dem Leben selbst«, hielt er in seiner Rede fest. Und im August 1914 nahm diese Vermischung eine neue Qualität an. »Die Arbeiter haben kein Vaterland« – dieser Satz aus dem Kommunistischen Manifest hielt der damaligen Wirklichkeit nicht stand.

Jan Pehrke schrieb an dieser Stelle zuletzt am 18. Januar 2023 über die Auswirkungen der »Zeitenwende« für die deutschen Großunternehmen.

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