Prozesse des Umbruchs
Von Lothar Schröter
Eine Voraussage: Auch dieses Buch wird in Presse, Funk, Fernsehen und wissenschaftlichen Fachpublikationen ebenso ignoriert werden wie von Teilen derjenigen Partei, die das Linkssein im Namen führt. Wie viele andere Veröffentlichungen auch (darunter das Buch des Rezensenten zu den Wurzeln, den Akteuren und der Rolle der NATO im Ukraine-Krieg), denn Wahrheiten passen nur schwer zur Kriegslogik hier und zum Opportunismus dort.
Wahrheiten vermittelt Fabian Scheidler, 2009 von der IG Metall ausgezeichnet mit dem Otto-Brenner-Preis für kritischen Journalismus und Autor des in viele Sprachen übersetzten Bestsellers »Das Ende der Megamaschine« (2015), zuhauf. Er unternimmt nicht weniger als einen kritischen Parforceritt durch die Krisen der Gegenwart, die mit der Herausbildung eines »Kriegsstaates« einhergehen. Ein Parforceritt, aber ein gelungener! Gelungen vor allem auch deshalb, weil Scheidler sich nicht scheut, auf die gesellschaftliche Seite dieser Übel hinzuweisen (wenn auch meist indirekt): auf das kapitalistische Gesellschaftssystem. Also dort anzusetzen, wo andere das große Flattern kriegen, wenn es gilt, auch nur ansatzweise die Systemfrage zu stellen, und die sich lieber für das Mitregieren im Kapitalismus anbieten.
Seine Aufmerksamkeit konzentriert Scheidler auf Fragestellungen, die mit den drei großen Krisen und Konflikten des vergangenen Jahrzehnts in Verbindung stehen. Dies sind der Ukraine-Krieg, der Nahostkonflikt mit dem genozidalen Krieg gegen die Palästinenser im Gazastreifen und die Covid-19-Pandemie. Zum Umgang mit letzterer hellt er interessante Zusammenhänge auf, die auch politisch Interessierten bislang mitunter verborgen geblieben sein dürften. Seine Befunde fasst er in dem Satz zusammen, dass »die Wurzeln des Desasters einige strukturelle Gemeinsamkeiten mit den Ursachen der hier diskutierten Kriege« haben: »Einmal mehr ist es die Besessenheit, alles erobern, alles haben, über alles verfügen können«, die zu »verheerenden Konsequenzen geführt« habe.
In den beiden genannten Kriegen sieht Scheidler zu Recht die Dreh- und Angelpunkte für die Entwicklungen in der Welt in der näheren und weiteren Zukunft. Vor allem in der Ukraine geht es um die Perspektiven der künftigen Weltordnung, und hier steht die Welt an einem Scheidepunkt, wie er eigentlich nur mit den Jahreszahlen 1917, 1945 und 1989/90 vergleichbar ist. Auch wenn Scheidler dies so nicht direkt formuliert – es ist der Tenor seiner Überlegungen.
Bei den Konflikten geht es dem Autor ein ums andere Mal um deren jeweilige Vorgeschichte, um die Mythen des Krieges, die Verwahrlosung des öffentlichen Diskurses und das schamlose Agieren der Mainstreammedien. Sein Punkt ist: »Wo über Konflikte und ihre Genese nicht mehr offen gesprochen werden kann, hört das Denken selbst auf.« Um begründete Einschätzungen insbesondere zum Ukraine-Krieg geben und eventuelle Ansätze für eine Friedenslösung finden zu können, müssen also die tieferen Ursachen, alle Hintergründe und die Interessen aller beteiligten Seiten analysiert und diskutiert werden. Dies geschieht auch in der Friedensbewegung und im linken politischen Raum nur teilweise oder gar nicht. Die Lektüre von Scheidler kann hier Anlass zur kritischen Selbstreflexion sein.
Jedenfalls ist bei Scheidler nachlesbar, woraus diese Kriege jeweils erwuchsen. Wenn das in der einen oder anderen Form auch andernorts nachvollzogen werden kann – Scheidler bringt es jeweils auf den Punkt. Und er fügt einiges neue oder wenig bekannte Material hinzu. Ein gutes, ein wichtiges Buch zur richtigen Zeit!
Das bleibt, auch bei zwei kritischen Bemerkungen. Scheidler folgt der These, dass es sich beim Einmarsch der russischen Streitkräfte in den Donbass »um einen völkerrechtswidrigen Angriff« gehandelt hat. Viel spricht aber dafür, dass der Ukraine-Krieg mit den im April 2014 vom ukrainischen Übergangspräsidenten Turtschinow angeordneten sogenannten Antiterrormaßnahmen begann, also der militärischen Operation in den Bezirken Lugansk und Donezk, die ihre Selbständigkeit erklärt hatten. Der Anführer der faschistischen Hooligangruppe C14 Karas erklärte am 8. Februar 2022 stolz: »Wir sind die Fahnenträger hier, weil wir einen Krieg begonnen haben, den es seit 60 Jahren nicht mehr gegeben hat.« Viele andere Zeugnisse ließen sich hinzufügen. Mit dem 24. Februar 2022 begann dann die zweite Phase des Ukrainekrieges.
Scheidler schreibt völlig korrekt, man habe es »mit drei ineinandergreifenden Prozessen des Umbruchs zu tun«. Mit einem »geopolitischen Übergang, der das Ende der westlichen Hegemonie einläutet«, einem »inneren Zerfall der ökonomischen, politischen und weltanschaulichen Fundamente westlicher Gesellschaften« und »einem sich anbahnenden Kollaps des bisherigen Gleichgewichts des Erdsystems«. Was bei ihm fehlt, ist der Schluss »Sozialismus oder Barbarei«.
Fabian Scheidler: Friedenstüchtig. Wie wir aufhören können, unsere Feinde selbst zu schaffen. Promedia, Wien 2025, 224 Seiten, 20 Euro
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Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (27. Oktober 2025 um 10:28 Uhr)Ich bin in einem sozialistisch geprägten Land aufgewachsen und lebte von 1971 bis 1986 in der DDR. Aus dieser Erfahrung heraus kann ich den theoretischen Anspruch des Sozialismus nachvollziehen. Dennoch wirkt das Schlusswort »Sozialismus oder Barbarei« auf mich übertrieben. Menschliche Geschichte ist nie nur Barbarei – sie ist seit Jahrtausenden ein Ringen darum, besser zu leben, trotz aller Konflikte, Kriege und Ungerechtigkeiten. Kultur, Solidarität und Erkenntnis haben stets mitgewirkt. Die Krisen der Gegenwart – Kriege, ökologisches Desaster, gesellschaftliche Spaltungen – sind Ausdruck menschlicher Natur und historischer Dynamik. Wer Feinde sucht, wird sie finden. Nach dem Zerfall der Sowjetunion bestand die Chance, ein »europäisches Haus« mit Russland zu gestalten. Diese Gelegenheit wurde vertan. Heute erleben wir die Folgen: ein Europa, das sich erneut in Konfrontationen verstrickt und die Lehren der Geschichte ignoriert. Zum Sozialismus: Weltweit existieren nur noch fünf Staaten, die sich offiziell als kommunistisch oder sozialistisch bezeichnen – China, Kuba, Laos, Nordkorea und Vietnam. Auch dort zeigt sich, dass kein System – ob kapitalistisch oder sozialistisch – automatisch vor Machtmissbrauch und menschlicher Grausamkeit geschützt ist. Barbarei ist keine Systemfrage, sondern eine menschliche Herausforderung. Vielleicht wäre die treffendere Formel nicht »Sozialismus oder Barbarei«, sondern: Menschlichkeit oder Macht. Humanismus beginnt dort, wo die Menschlichkeit über das System triumphiert – und nicht umgekehrt.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Franz Schoierer (28. Oktober 2025 um 14:07 Uhr)»Auch dort zeigt sich, dass kein System – ob kapitalistisch oder sozialistisch – automatisch vor Machtmissbrauch und menschlicher Grausamkeit geschützt ist. Barbarei ist keine Systemfrage, sondern eine menschliche Herausforderung.« Hier stellen Sie arg oberflächlich und den Sozialismus diffamierend zwei völlig gegensätzliche Gesellschaften auf eine Stufe. Hätte nur noch gefehlt, dass – getreu der Totalitarismus-Doktrin – der Faschismus in diese Reihe gestellt wurde. Die Tatsache, dass jemand in der DDR aufgewachsen ist, heißt noch lange nicht, dass er sie auch verstanden hat. Sie sind im »Jahr 1987 in den Westen gekommen« wie in einem anderen Beitrag zu lesen ist. Mit Empathie für den Sozialismus scheint es auch heute nicht weit her zu sein, wenn herabwürdigend geschrieben wird: »Zum Sozialismus: Weltweit existieren nur [!] noch fünf Staaten, die sich offiziell als kommunistisch oder sozialistisch bezeichnen.« Abgesehen davon, dass Sie Kambodscha nicht erwähnt haben, sind das immerhin 1,6 Milliarden Menschen und 20 % der Weltbevölkerung.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim Seider aus Berlin (27. Oktober 2025 um 18:58 Uhr)In besonders dramatischen Momenten erübrigen sich langwierige philosophische Betrachtungen. Etwa dann, wenn man akut bedroht ist, in schäumenden Wassern unterzugehen. Dann gelangt man entweder ans rettende Ufer oder man verschwindet vom Antlitz der Erde. Ist die bisher gefährlichste Situation der Weltgeschichte, in die kapitalistische Ausbeutung, Hochrüstung und existentieller Raubbau an den Existenzbedingungen der Menschheit wirklich nicht Anlass genug darüber nachzudenken, was uns dieses Gleichnis sagen will, lieber Istvan Hidy? Die Welt ist so banal, dass sie uns wirklich nur noch wählen lässt zwischen Weiterexistenz oder Untergang. Was soll dann falsch daran sein, zu ihnen Sozialismus oder Barbarei zu sagen?
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