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Aus: Ausgabe vom 27.10.2025, Seite 15 / Politisches Buch
Ideologiekritik

Prozesse des Umbruchs

Wo das Denken aufhört: Fabian Scheidlers kritischer Parforceritt durch die Krisen der Gegenwart
Von Lothar Schröter
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Gestalten der Militarisierung: NATO-Generalsekretär Rutte und EU-Chefin von der Leyen (Brüssel, 30.9.2025)

Eine Voraussage: Auch dieses Buch wird in Presse, Funk, Fernsehen und wissenschaftlichen Fachpublikationen ebenso ignoriert werden wie von Teilen derjenigen Partei, die das Linkssein im Namen führt. Wie viele andere Veröffentlichungen auch (darunter das Buch des Rezensenten zu den Wurzeln, den Akteuren und der Rolle der NATO im Ukraine-Krieg), denn Wahrheiten passen nur schwer zur Kriegslogik hier und zum Opportunismus dort.

Wahrheiten vermittelt Fabian Scheidler, 2009 von der IG Metall ausgezeichnet mit dem Otto-Brenner-Preis für kritischen Journalismus und Autor des in viele Sprachen übersetzten Bestsellers »Das Ende der Megamaschine« (2015), zuhauf. Er unternimmt nicht weniger als einen kritischen Parforceritt durch die Krisen der Gegenwart, die mit der Herausbildung eines »Kriegsstaates« einhergehen. Ein Parforceritt, aber ein gelungener! Gelungen vor allem auch deshalb, weil Scheidler sich nicht scheut, auf die gesellschaftliche Seite dieser Übel hinzuweisen (wenn auch meist indirekt): auf das kapitalistische Gesellschaftssystem. Also dort anzusetzen, wo andere das große Flattern kriegen, wenn es gilt, auch nur ansatzweise die Systemfrage zu stellen, und die sich lieber für das Mitregieren im Kapitalismus anbieten.

Seine Aufmerksamkeit konzentriert Scheidler auf Fragestellungen, die mit den drei großen Krisen und Konflikten des vergangenen Jahrzehnts in Verbindung stehen. Dies sind der Ukraine-Krieg, der Nahostkonflikt mit dem genozidalen Krieg gegen die Palästinenser im Gazastreifen und die Covid-19-Pandemie. Zum Umgang mit letzterer hellt er interessante Zusammenhänge auf, die auch politisch Interessierten bislang mitunter verborgen geblieben sein dürften. Seine Befunde fasst er in dem Satz zusammen, dass »die Wurzeln des Desasters einige strukturelle Gemeinsamkeiten mit den Ursachen der hier diskutierten Kriege« haben: »Einmal mehr ist es die Besessenheit, alles erobern, alles haben, über alles verfügen können«, die zu »verheerenden Konsequenzen geführt« habe.

In den beiden genannten Kriegen sieht Scheidler zu Recht die Dreh- und Angelpunkte für die Entwicklungen in der Welt in der näheren und weiteren Zukunft. Vor allem in der Ukraine geht es um die Perspektiven der künftigen Weltordnung, und hier steht die Welt an einem Scheidepunkt, wie er eigentlich nur mit den Jahreszahlen 1917, 1945 und 1989/90 vergleichbar ist. Auch wenn Scheidler dies so nicht direkt formuliert – es ist der Tenor seiner Überlegungen.

Bei den Konflikten geht es dem Autor ein ums andere Mal um deren jeweilige Vorgeschichte, um die Mythen des Krieges, die Verwahrlosung des öffentlichen Diskurses und das schamlose Agieren der Mainstreammedien. Sein Punkt ist: »Wo über Konflikte und ihre Genese nicht mehr offen gesprochen werden kann, hört das Denken selbst auf.« Um begründete Einschätzungen insbesondere zum Ukraine-Krieg geben und eventuelle Ansätze für eine Friedenslösung finden zu können, müssen also die tieferen Ursachen, alle Hintergründe und die Interessen aller beteiligten Seiten analysiert und diskutiert werden. Dies geschieht auch in der Friedensbewegung und im linken politischen Raum nur teilweise oder gar nicht. Die Lektüre von Scheidler kann hier Anlass zur kritischen Selbstreflexion sein.

Jedenfalls ist bei Scheidler nachlesbar, woraus diese Kriege jeweils erwuchsen. Wenn das in der einen oder anderen Form auch andernorts nachvollzogen werden kann – Scheidler bringt es jeweils auf den Punkt. Und er fügt einiges neue oder wenig bekannte Material hinzu. Ein gutes, ein wichtiges Buch zur richtigen Zeit!

Das bleibt, auch bei zwei kritischen Bemerkungen. Scheidler folgt der These, dass es sich beim Einmarsch der russischen Streitkräfte in den Donbass »um einen völkerrechtswidrigen Angriff« gehandelt hat. Viel spricht aber dafür, dass der Ukraine-Krieg mit den im April 2014 vom ukrainischen Übergangspräsidenten Turtschinow angeordneten sogenannten Antiterrormaßnahmen begann, also der militärischen Operation in den Bezirken Lugansk und Donezk, die ihre Selbständigkeit erklärt hatten. Der Anführer der faschistischen Hooligangruppe C14 Karas erklärte am 8. Februar 2022 stolz: »Wir sind die Fahnenträger hier, weil wir einen Krieg begonnen haben, den es seit 60 Jahren nicht mehr gegeben hat.« Viele andere Zeugnisse ließen sich hinzufügen. Mit dem 24. Februar 2022 begann dann die zweite Phase des Ukrainekrieges.

Scheidler schreibt völlig korrekt, man habe es »mit drei ineinandergreifenden Prozessen des Umbruchs zu tun«. Mit einem »geopolitischen Übergang, der das Ende der westlichen Hegemonie einläutet«, einem »inneren Zerfall der ökonomischen, politischen und weltanschaulichen Fundamente westlicher Gesellschaften« und »einem sich anbahnenden Kollaps des bisherigen Gleichgewichts des Erdsystems«. Was bei ihm fehlt, ist der Schluss »Sozialismus oder Barbarei«.

Fabian Scheidler: Friedenstüchtig. Wie wir aufhören können, unsere Feinde selbst zu schaffen. Promedia, Wien 2025, 224 Seiten, 20 Euro

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