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Aus: Ausgabe vom 23.10.2025, Seite 11 / Feuilleton
Kino

Weder Reue noch Einsicht

Spurensuche: Kirill Serebrennikows Verfilmung von Olivier Guez’ Roman »Das Verschwinden des Josef Mengele«
Von Wolfgang Nierlin
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1956: Josef Mengele lebt unter dem Namen Gregor in Buenos Aires

São Paulo 2023. Studierende der Medizin beschäftigen sich mit dem menschlichen Skelett und untersuchen dabei »echte Knochen«. Als ihnen ihr Professor eröffnet, diese würden von dem berüchtigten KZ-Arzt Josef Mengele stammen, der in Auschwitz grausame Experimente mit Lagergefangenen durchführte, blickt er in ratlose Gesichter. Denn offensichtlich ist den jungen Studierenden Mengeles Biographie nicht bekannt. Damit korrespondiert, dass der Naziverbrecher, der über viele Jahre in verschiedenen lateinamerikanischen Ländern Verstecke fand, erst geraume Zeit nach seinem Tod im Jahre 1979 durch DNA-Tests identifiziert werden konnte. Der russische, im deutschen Exil lebende Regisseur Kirill Serebrennikow, der für seinen neuen Film »Das Verschwinden des Josef Mengele« den gleichnamigen Tatsachen­roman des französischen Autors Olivier Guez adaptiert hat, betreibt in der Folge mit seiner ebenso vielschichtigen wie abschweifenden Spurensuche geschichtliche Aufklärung, besonders auch für die Nachgeborenen. Indem nicht chronologisch erzählt wird, sondern elliptisch zwischen verschiedenen Zeiten und Orten gewechselt, vermittelt das Material immer wieder überraschende Korrespondenzen und Kontinuitäten.

Inhaltlich handelt der überwiegend in Schwarzweiß fotografierte Film von einem Schuldigen ohne Schuld- und Unrechtsbewusstsein, der sich verstecken muss, darunter leidet, schließlich politisch frustriert, verhärmt und verarmt zunehmend einsamer wird, bis er schließlich stirbt. Zwar kann er 1956 unter falschem Namen noch nach München reisen, seine großbürgerliche Familie in seinem Geburtsort Günzburg besuchen und zwei Jahre später seine verwitwete Schwägerin Martha (Friederike Becht) heiraten, doch spätestens nach der Verhaftung von Adolf Eichmann im Mai 1960 wachsen auch bei Josef Mengele (August Diehl) Angst und Paranoia. Seine Ausbrüche und Tiraden gegen frühere Gesinnungsgenossen und die »Profiteure der Geschichte« werden heftiger. Sein Hass auf das neue demokratische Deutschland sowie auf die USA wächst stetig. Der »zähe deutsche Geist« werde wieder auferstehen, faselt Mengele und träumt dabei nach wie vor vom großen Reich mit Führer. Doch zunehmend müde und isoliert, wird ihm sein Leben immer unerträglicher. Der Krieg sei für ihn noch nicht vorbei, sagt er einmal.

In dieser Situation bittet er seinen 1944 geborenen Sohn Rolf (Max Bretschneider) aus erster Ehe, ihn zu besuchen. Dieser konfrontiert den Vater mit seinen Verbrechen, fragt ihn nach seiner Verantwortung. Doch dieser schweigt, zeigt weder Reue noch Einsicht, verteidigt die unmenschliche Nazi­ideologie und schimpft über den Zeitgeist. Der Vater-Sohn-Konflikt spiegelt dabei sowohl die Sprachlosigkeit der deutschen Nachkriegsgesellschaft als auch das irritierende Selbstverständnis der Ewiggestrigen. In einer erschütternden, in Farbe gehaltenen Passage konfrontiert Serebrennikow das mangelnde Unrechtsbewusstsein, aber auch den Zuschauer mit den »medizinischen« Greueltaten in Auschwitz. Immer wieder spitzt der Regisseur auch in der Verwendung von Symbolen das Unbegreifliche dieses Zivilisationsbruches zu. Zugleich bricht er des öfteren mit einer schweifenden Kamera aus der symmetrisch-hierarchischen Ordnung überkommener Machtverhältnisse aus, distanziert sich durch die jeweils gewählte Perspektive von seiner Hauptfigur, um auf Nebenschauplätzen vermeintliche Randfiguren aufzuspüren. Diese misstrauischen und auch widerständigen Beobachter sind die wahren Zeugen der Geschichte.

»Das Verschwinden des Josef Mengele«, Regie: Kirill Serebrennikow, Frankreich/BRD/Mexiko u. a. 2025, 135 Min., Kinostart: heute

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