Mädchen mit Problemen
Von Ronald Kohl
Die kluge Frau baut vor. Malou (Zoe Stein) hatte zwar schon mit 14 ein glänzendes Abitur abgelegt, doch die Schulbank drückt sie jetzt, kurz vor der Volljährigkeit, doch noch einmal, allerdings unter falschem Namen und heimlich. Nicht einmal ihren drei Freundinnen, mit denen sie gemeinsam in einer geräumigen Altbauwohnung im Berliner Prenzlauer Berg in einer WG lebt, erzählt sie etwas davon. Das kann sie auch gar nicht. Schuld daran ist ihre extreme Intelligenz.
Schon als kleines Mädchen, als sie noch von einer Pflegefamilie zur nächsten gereicht wurde, las Malou wissenschaftliche Literatur. So erfuhr sie viel zu zeitig, dass Wurst nichts anderes ist als in Gedärm gepresstes Fleisch. Sie musste sich auf der Stelle übergeben und spricht seit diesem Tag mit niemandem mehr auch nur ein Wort.
In »Danke für nichts« treffen wir auf keine Figur, die nicht irgendeine Delle in der Biographie hätte. Das ist also normal. Und die Mädchen benehmen sich für ihr Alter auch weitestgehend unauffällig. Sie schwänzen Beratungsgespräche und träumen von der großen Liebe. Nur Katharina (Lea Drinda) tanzt ab und an aus der Reihe. Dann versucht sie, sich umzubringen. Oder tut sie jedes Mal nur so? »Für mich wirkt das Ganze eher wie Maude als wie Herold«, sagt Michi (Jan Bülow), der vom Jugendamt bezahlte Bezugsbetreuer der WG, nachdem er erfahren hat, dass Katharina Unmengen von Schlaftabletten geschluckt hat. Umgehend begibt er sich an ihr Bett, freilich mit Zigarette im Mundwinkel, denn Michi ist Kettenraucher, und bläst ihr Qualm ins Gesicht, um sie wieder zu sich zu bringen; die Mädels hatten es immerhin mit Salzwasser versucht, während auch sie darüber stritten, ob es sich bei Katharinas Versuchen um Show oder Absicht handelt. Besonders knifflige Fragen klärt der Film übrigens gerne mit Hilfe witzig aus dem Off kommentierter Rückblenden.
Aufschlussreich für mich war vor allem ein Interview, das Regisseurin Stella Marie Markert während der Münchner Filmfestspiele gegeben hat. Hier erwähnt sie eher nebenbei, wie stressig die letzten Wochen der Fertigstellung waren: der Termindruck wegen der Einladung zum Festival, zudem hatten alle im Schnittraum nebenbei noch Jobs am Laufen, »mussten Geld verdienen«. Diese Umstände machen verständlich, warum die Regisseurin sich dafür entschieden hat, ein, wie sie es ausdrückt, »privilegiertes Bild« zu zeichnen: Im Film tauchen, wie bereits angedeutet, so ziemlich alle denkbaren Probleme auf, nur keine materiellen. Das Zusammenleben der vier Mädchen lässt sich als eine Gemeinschaft beschreiben, in der »Sozialisation nicht über Besitz erfolgt«, um mal den ehemaligen RAF-Aktivisten Christian Klar zu zitieren.
Wobei die familiären Hintergründe unterschiedlicher nicht sein könnten. Eines der Mädchen wurde mit dem sprichwörtlichen goldenen Löffel im Mund geboren. Eine andere hingegen nicht einmal mit einem aus Holz: Die hochbegabte Malou landete vier Stunden nach ihrer Geburt in einer Babyklappe. Ricky (Safinaz Sattar) wiederum kam vor vielen Jahren mit ihren Eltern nach Berlin. Ihre Mutter stammt aus einer Familie, die schon zu Odysseus’ Zeiten im Mittelmeer gefischt und ihre Fänge selbst vermarktet hat. Mit dem großen Wunschprojekt der Mutter, ein kleines, aber feines Fischgeschäft in Kreuzberg zu eröffnen, gab es recht bald unerwartete Schwierigkeiten. So ist es hierzulande eben nicht gestattet, das Büro in einer Garage unterzubringen. »Bill Gates!« erwiderte Rickys fassungsloser Vater den Herren vom Gewerbeaufsichtsamt. Doch die zeigten sich uneinsichtig. So reiste die Familie irgendwann wieder in Richtung Heimat ab. Nur die noch minderjährige Ricky blieb zurück. Da sie sich unsterblich in Madonna verknallt hatte, konnte sie ohne ihre geliebte Bravo nicht mehr leben.
Doch nun wird es plötzlich eng. Weil sie sich zu sehr um die vielleicht doch suizidal veranlagte Katharina gekümmert hat, versäumte es Ricky, rechtzeitig vor der Erlangung der Volljährigkeit ihren Asylantrag zu stellen. Wenn sie doch wenigstens einen Ausbildungsvertrag vorlegen könnte! Aber wie einen bekommen – ohne Schulabschluss? Denn dass sie den hat, weiß sie noch gar nicht (siehe oben). Also Happyend? Nicht unbedingt, denn das betreute Wohnen endet für alle mit dem 18. Lebensjahr.
»Danke für nichts« besticht mit einer zwar »privilegierten«, aber dennoch schlüssigen und flott erzählten Geschichte. Die häufig anzutreffende Perfektion im Spiel lädt überdies dazu ein, sich den Film mehrmals anzuschauen. Für ehemalige DDR-Bürger ist »Danke für nichts« ohnehin ein Muss, weil wir Horst Drindas aschfahler Enkeltochter Lea Drinda, und damit irgendwie doch auch der Enkeltochter des von ihm in »Zur See« verkörperten Kapitäns Hans Karsten, gelegentlich beim Göbeln zuschauen dürfen (wie dem sächsischen Koch auf seiner ersten Fahrt).
»Danke für nichts«, Regie: Stella Marie Markert, Deutschland 2015, 108 Min., Kinostart: Donnerstag
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