Gebrechlicher Rap
Von Thomas Salter
Es ist immer gut, ein Lebenszeichen von Earl Sweatshirt zu kriegen. Schon seit 2010, als er nach seinen ersten zwei Mixtapes (»Kitchen Cutlery« 2008 und »Earl« 2010) plötzlich von der Bildfläche verschwand und Fans ihn mit der »Free Earl«-Kampagne suchten, umgibt den Rapper aus Los Angeles diese leichte Aura von Gebrechlichkeit. Auch nach seiner Rückkehr 2012 aus Samoa, wohin seine Mutter den damals gerade mal Sechzehnjährigen aus Sorge über seinen Drogenkonsum verbannt hatte, und auch nach dem Erfolg seines ersten Albums »Doris« (2013), wirkte Earl immer fragil, was sich auch in den Titeln seiner Alben äußerte: etwa »I Don’t Like Shit, I Don’t Go Outside« (2015) oder »Sick!« (2022).
Um so schöner ist es, jetzt in Form seines fünften Albums »Live Laugh Love« von ihm zu hören, auf dem Cover ein leicht körniges Porträtfoto von Earl, ein langer, zerknitterter Joint baumelt zwischen den Lippen, eine Postkarte aus der Ferne, die sagt: Ich lebe, ich lache, ich liebe.
Das Album ist eine Art musikalisches Moodboard, elf Songs in gerade mal 24 Minuten, eine Pinnwand aus dahingekritzelten Sätzen, knisternden Ausrissen stimmungsvoller Soulplatten, wenig Drums, zerknitterten Basslines. Es sind Momentaufnahmen aus einem gemütlichen Leben nach den Exzessen seiner Zeit bei dem Kollektiv Odd Future um Tyler, the Creator. Streicherloops leiern wie von einer alten Bandmaschine, die zerrenden Bässe zwängen sich durch die Schaltkreise des Mischpults, Earl nuschelt tiefenentspannt zwischen den kuschligen Decken aus Vinylknistern hervor.
Besonders schön der Track »CRISCO«, wo aus den Drums alle Höhen und Tiefen rausgezogen sind, so dass sie kaum noch hörbar sind, dazu wabern verfremdete Frauenchöre durch die Luft. Earls Delivery auf diesen Beat ist so laid back, dass man fast meint, die Couch unter seinem Hintern knirschen zu hören. Dass der Rapper überhaupt Lust hätte, seinen gemütlichen Safe Space Studio zu verlassen, ist schwer vorstellbar.
Und das Video zum Track bestätigt diese Vermutung: Es dokumentiert mit ironischen Untertiteln das Casting, das Earl gemeinsam mit seiner Mutter abhielt, um jemanden zu finden, der statt seiner auf der vom Plattenlabel veranstalteten Album-Release-Party rappt. Das in VHS-Ästhetik gedrehte Video ist somit vielleicht auch kleine Hommage an die 2020 verstorbene maskierte Raplegende MF Doom, der sich bei Konzerten regelmäßig von ebenfalls maskierten Rappern vertreten ließ, um mit weniger Aufwand mehr Kohle einstreichen zu können.
Bloß dass Earl, Sohn einer Afroamerikanerin und eines schwarzen Südafrikaners, sich aus den vier »Bewerbern« seines Castings ausgerechnet den asiatischstämmigen Gary Murakami aussucht, der aber auch wirklich keine Ähnlichkeit mit ihm hat – auch wenn sie ihn danach in eine Boutique mitnehmen, um ihn wie Earl einzukleiden. Danach schickt Earl sein Double zur Vorbereitung auch noch kurz nach Samoa, Earls eigenen Ort der Verbannung, zeigt ihm zurück im Studio in Los Angeles seine Raps und füttert ihn mit unzähligen Joints, um ihn für die anstehende Herausforderung zu schulen.
In dem Video werden vielleicht vergangenes Trauma und gegenwärtige Ängste verarbeitet – aber mit einer so humorvollen Entspanntheit, dass man sich wirklich keine Sorgen mehr um Sweatshirt macht. Der Mann, inzwischen verheiratet und Vater, hat einfach Besseres zu tun.
Schön, dass es dir gut geht, Earl. Lass bald mal wieder von dir hören.
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