Gegründet 1947 Sa. / So., 18. / 19. Oktober 2025, Nr. 242
Die junge Welt wird von 3054 GenossInnen herausgegeben
Aus: Ausgabe vom 18.10.2025, Seite 1 / Titel
Erwerbslosigkeit

Existenz am Minimum

Bürgergeld: Warme Mahlzeit, zweites Paar Schuhe und geheizte Wohnung oft Luxus. Hälfte der Eltern verzichtet für Kinder auf Essen
Von Luca von Ludwig
464406439(1).jpg

Es reicht kaum zum Leben, für unerwartete Ausgaben schon mal gar nicht: Das Bürgergeld, mit dem der Staat seine industrielle Reservearmee, die Erwerbslosen, am Leben hält, falls er sie doch noch einmal braucht. Um den Lohndruck aufrechtzuerhalten, muss diese »Daseinsfürsorge« so gestaltet sein, dass sie so nah an der Grenze des gerade noch Ertragbaren liegt wie nur möglich. Der Paritätische Gesamtverband legte am Freitag neue Zahlen zum Ausmaß der miserablen Lage der Bürgergeldbeziehenden vor. Doch Hunger hin, Kälte her, die Bundesregierung hält Kurs auf »Reformen«, die den Mangel noch verschärfen sollen.

Für mehr als die Hälfte der Menschen im Bürgergeldbezug ist es finanziell nicht möglich, defekte Möbel zu ersetzen, etwa jeder dritte kann sich keine neue Kleidung oder auch nur jeden zweiten Tag eine vollwertige warme Mahlzeit leisten, für rund ein Fünftel ist ein Ersatzpaar Schuhe oder das ausreichende Heizen der Wohnung unmöglicher Luxus, so die Erhebung. Etwa zehn Prozent leisten sich keinen Internetzugang, rund 20 Prozent haben offene Schulden, die sie nicht begleichen können. »Es ist ein Skandal, dass Millionen Menschen nicht einmal das Nötigste haben«, kommentierte Joachim Rock, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen, die Ergebnisse.

Bei den Zahlen zur Ernährung geht es nicht nur ums bloße Sattwerden: Kaum ein Zehntel der Befragten hält es für möglich, sich gesund zu ernähren, was sich mit früheren Erhebungen des wissenschaftlichen Beirates des Agrar- und Ernährungsministeriums deckt. Mehr als die Hälfte der Eltern im Bürgergeldbezug verzichtet zugunsten ihrer Kinder auf Essen. Der Wohlfahrtsverband AWO verwies am Freitag zudem auf die »galoppierende Inflation« bei den Lebensmittelpreisen im vergangenen Jahr. So seien unter anderem Fleisch, Milch, Obst und Eier im September deutlich teurer gewesen als im Vorjahresmonat, während es bei den Bürgergeld-Regelsätzen Nullrunden gab.

Schon am Donnerstag gab das Statistische Bundesamt bekannt, dass sich rund fünf Millionen Menschen das genügende Heizen ihrer Wohnung nicht leisten können. Auch hier sind die Erwerbslosen besonders betroffen: In vielen Städten decken die von den Jobcentern festgelegten »Kosten der Unterkunft« nicht mehr die tatsächlichen Preise. Immer mehr müssen sich deshalb vom »Existenzminimum« noch etwas absparen, um nicht das Dach über dem Kopf zu riskieren.

Die Pläne der Regierung sehen vor, Bürgergeldbeziehern künftig beim Verpassen von Jobcenter-Terminen Gelder auch komplett streichen zu können. Am Projekt der »Totalsanktionen« hatten sich bereits vergangene Regierungen versucht – durchgekommen ist damit beim Verfassungsgericht bisher noch keine. Das heißt allerdings nicht, dass es so bleiben muss. Auch mehrere Erhebungen, die zeigen, dass Friedrich Merz’ Rede vom nicht mehr finanzierbaren Sozialstaat schlichtweg falsch ist, bringen die Regierung nicht von ihren Vorhaben ab. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt stagnieren die Kosten für die staatliche Daseinsfürsorge. Aber der Unionskanzler braucht Geld für die Aufrüstung und lässt sich dabei von ökonomischen Rechenlektionen nicht beirren.

Tageszeitung junge Welt am Kiosk

Die besonderen Berichterstattung der Tageszeitung junge Welt ist immer wieder interessant und von hohem Nutzwert für ihre Leserinnen und Leser. Eine gesicherte Verbreitung wollen wir so gut es geht gewährleisten: Digital, aber auch gedruckt. Deswegen liegt in vielen tausend Einzelhandelsgeschäften die Zeitung aus. Überzeugen Sie sich einmal von der Qualität der Printausgabe. 

links & bündig gegen rechte Bünde

Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.