Bis zur Schmerzgrenze
Von Kristian Stemmler
Wer geglaubt hatte, die SPD werde in der Koalition mit der Union zumindest die größten Härten für Bezieher staatlicher Transferleistungen abwenden, sieht sich getäuscht. Die Spitzen der Parteien haben sich im Koalitionsausschuss, der am Mittwoch bis in die Nacht tagte, auf drastische Verschärfungen für die 5,5 Millionen Bürgergeldbezieher geeinigt – bis hin zu Totalsanktionen, also der kompletten Streichung der Unterstützung. Wie im Koalitionsvertrag vereinbart, sollen die Leistungen zudem nicht mehr »Bürgergeld« heißen, sondern »Grundsicherung«.
Es werde »eine wirklich gute neue Grundsicherung geben, und das Thema Bürgergeld wird damit der Vergangenheit angehören«, behauptete Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) bei einer Pressekonferenz in Berlin am Donnerstag. Die »Mitwirkungspflichten« würden deutlich verstärkt, die Sanktionen verschärft.
Wer nicht spurt, wird künftig umgehend abgestraft. Wer auf die »neue Grundsicherung« angewiesen ist und einen ersten Termin beim Jobcenter versäumt, solle künftig sofort zu einem zweiten Termin eingeladen werden. Wer diesen Termin »schwänzt«, dem soll die monatliche Überweisung um 30 Prozent gekürzt werden. Bleibt ein Betroffener auch einem dritten Termin fern, werden die Geldleistungen komplett eingestellt. Wird eine Arbeitsaufnahme verweigert, droht ebenfalls die komplette Streichung. Von Sanktionen verschont werden sollen lediglich Menschen, die psychisch krank sind oder andere gesundheitliche Hemmnisse haben.
Bärbel Bas (SPD) gab sich keine Mühe, den repressiven Charakter der Änderungen zu verschleiern. »Wer nicht mitmacht, wird es schwer haben«, drohte die Bundesarbeitsministerin. »Wir verschärfen die Sanktionen bis an die Grenze dessen, was verfassungsrechtlich zulässig ist.« Große Spareffekte seien nicht zu erwarten, so Bas: »Der Betrag wird sehr klein sein.« Sie verwies auf die »Faustformel«, dass eine Milliarde Euro gespart werden könne, »wenn wir 100.000 Menschen mehr aus dem Bürgergeld herauskriegen durch Anreize«.
Für scharfe Kritik sorgte die »Reform« des Bürgergelds bei Opposition und Verbänden. Linke-Kochefin Ines Schwerdtner erklärte gegenüber der Rheinischen Post: »Bevor man bei den Ärmsten spart, sollte die Regierung besser nach oben gucken und schauen, welche starken Schultern mehr tragen können.«
Arbeiterwohlfahrt-Präsident Michael Groß erklärte: »Es kann nicht wahr sein, dass der Bundesregierung angesichts all der Krisen, die wir erleben, nichts Besseres einfällt, als schon wieder am Sozialstaat zu sägen.« Millionen von Familien würden durch die Pläne bestraft. Das Kinderhilfswerk warnte vor Sanktionen für Familien mit Kindern. Es dürfe »keine Mithaftung von Kindern für ihre Eltern geben«, erklärte Bundesgeschäftsführer Holger Hofmann.
Geeinigt haben sich die Koalitionäre auch bei weiteren Themen. Die »Aktivrente«, mit der Menschen im Rentenalter 2.000 Euro im Monat steuerfrei dazuverdienen können sollen, soll bereits zum 1. Januar 2026 starten. Es soll ein neues E-Auto-Förderprogramm geben, für das bis 2029 Milliardenbeträge bereitgestellt werden. Drei Milliarden Euro sollen im schuldenfinanzierten Sondervermögen für die Infrastruktur umgeschichtet werden, innerhalb des Zeitraums 2026 bis 2029. Strittig bleibt, wie die Bundesregierung zum endgültigen EU-weiten Aus für Neufahrzeuge mit Verbrennermotor im Jahr 2035 steht.
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