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Aus: Ausgabe vom 15.10.2025, Seite 12 / Thema
Antisemitismus

Demokratieabbau mit gutem Gewissen

Antisemitismus ist keine Meinung, aber die instrumentellen Antisemitismusvorwürfe sind ein Angriff auf demokratische Grundrechte
Von Gerhard Hanloser
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Blaupause für den autoritären Staatsumbau. Polizisten führen eine propalästinensische Demonstrantin ab (Berlin, 11.10.2025)

Das unter dem Eindruck des deutschen Faschismus verfasste Grundgesetz veranschlagt Meinungs-, Kunst-, Presse- und Demonstrationsfreiheit als höchste Werte. Sie zu schützen und zu wahren sollte eine wesentliche Erkenntnis aus der Erfahrung mit dem »Dritten Reich« darstellen. Allerdings: Nicht jede Meinung ist tolerierbar, etwa wenn sie einen deutlich positiven Bezug zur Nazivergangenheit herstellt. So sorgen Bestimmungen und Gesetze zur Volksverhetzung sowie die Verbote des Zeigens faschistischer Symbole für eine justitiable Handhabung im Falle neofaschistischer Bekundungen. Der Paragraph 86a des Strafgesetzbuches verbietet den Hitlergruß, das Hakenkreuz und die SS-Runen. Man könnte meinen, das Verbot der Nazinachfolgepartei mit dem Namen »Sozialistische Reichspartei« 1952 gehorchte der antifaschistischen Logik des Grundgesetzes – dieser Logik folgend verlangen Antifaschisten wie die »Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten« (VVN-BdA) ein Verbot der NPD oder auch der AfD.

Wehrhafte Demokratie

Als bürgerliche »wehrhafte Demokratie« verstand sich die BRD mit ihrer Rechtsordnung im Kalten Krieg jedoch nicht in erster Linie als antifaschistischer Staat. Vielmehr sahen sich die zu guten Teilen aus ehemaligen Nazis rekrutierten Eliten der BRD im Kampf mit »totalitären« Gegenmodellen wie jenen der Sowjetunion oder der DDR, die mit dem Nazifaschismus auf eine Stufe gestellt wurden. Dabei musste ignoriert oder geleugnet werden, dass im realen Sozialismus der DDR sozialökonomisch und personell viel weitgehendere Konsequenzen aus dem Faschismus gezogen wurden.

Die Vertreter der BRD als Verteidiger der bürgerlichen Ordnung des Westens meinten und meinen, ihre Rechtsordnung mit vagen Begrifflichkeiten wie »Verfassungswidrigkeit« oder einer gebotenen »Verteidigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung« aufrechterhalten zu müssen. Sie schränkten mit Radikalenerlass und Berufsverboten die politische Meinungs- und Organisationsfreiheit vieler mehr oder weniger radikaler Linker ein, weil sie in ihrer Wahrnehmung eine Gefahr für die Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland darstellen würden. Mittlerweile sieht die historische Forschung diese Maßnahmen selbst als einen Verfassungsbruch an, unter anderem, weil die Gewaltenteilung unterlaufen wurde und von politischer Seite erheblicher Druck auf die formal unabhängige Justiz ausgeübt worden sei.

Das Verbot der KPD 1956 entsprach vollends der antikommunistischen Logik, wonach die BRD im westlich-kapitalistischen Lager ein Bollwerk gegen den Bolschewismus darzustellen habe. Damit knüpften die BRD-Eliten nicht nur an ein tragendes Element der Naziideologie, den Antibolschewismus, an, sondern schufen im europäischen Rahmen einen ideologischen wie praktischen Exzeptionalismus: eine parlamentarische Demokratie ohne Kommunistische Partei sein zu wollen.

Nach dem Untergang des sozialistischen Lagers und der daraus resultierenden Schwäche einer Linken, die das kapitalistische System hätte ankratzen können, und angesichts der Zunahme rechtsextremer Aktivitäten und ihrer Akzeptanz in bürgerlichen Kreisen hat sich so manche Priorität in den Verfassungsschutzbehörden gewandelt. Doch die alte Feindbestimmung bleibt bestehen. Das konnte man etwa an der fast schon genussvoll inszenierten Wiederaufführung der RAF-Hysterie der 1970er Jahre angesichts der Verhaftung Daniela Klettes und der Fahndung nach dem abgetauchten Burkhard Garweg ablesen. Oder auch daran, wie staatlicherseits auf die Mordserie des rechtsterroristischen NSU reagiert wurde und wie schnell man zu einem »business as usual« zurückkehrte.

In einem besonderes relevanten Bereich wiederholt sich aktuell das bekannte Muster, den »Feind der Demokratie« immer links auszumachen – nämlich bei der Solidarität mit Palästinensern in Deutschland und den Demonstrationen gegen den Krieg Israels in Gaza. Die Feindbestimmung ist klar: Pro-Palästina-Aktivisten verstoßen gegen Selbstbild, Außenpolitik und Wirtschaftsinteressen der BRD. Nach dem 7. Oktober 2023 wurde die Demonstrationsfreiheit stark eingeschränkt, Demoparolen wurden kriminalisiert und in den Bereich der Volksverhetzung gerückt. Doch der Angriff auf verbriefte und im Grundgesetz garantierte Rechte ist umfassender und startete bereits vor dem 7. Oktober. Anlässlich der Documenta in Kassel 2022 (Documenta 15), bei der Stimmen des globalen Südens präsentiert wurden, welche in vielfältiger Form »Siedlerkolonialismus« und den dagegen ausgeübten Widerstand thematisierten, wurde eine staatliche Betreuung oder gar Zensur der Kunst gefordert. Die Shows des menschenrechtlich bewegten, etwas egomanischen Ex-Pink-Floyd-Musikers Roger Waters, der sich als die Stimme der Unterdrückten geriert und sich für einen Kulturboykott Israels einsetzt, sollten in Deutschland keine Bühne bekommen, fanden dann aber doch allesamt statt, teilweise nach juristischen Klagen.

In all diesen Fällen wurde von einer breiten Front aus Politik, Medien und Nichtregierungs- bzw. Lobbyorganisationen die Notwendigkeit einer Einschränkung von Meinungs-, Kunst- und Demonstrationsfreiheit hervorgehoben. In all diesen Bereichen traf die geforderte Zensur oder Repression linke Akteure, die sich mit Palästinensern solidarisierten. Von Waters über die verantwortliche Kuratorengruppe der Documenta 15 namens »Ruangrupa« bis zu den Palästina-Aktivisten der Berliner Sonnenallee oder des Oranienplatzes handelt es sich um Vertreter der globalen Linken. Dass sie von Repressionsbemühungen betroffen sind, ist in der Geschichte der BRD und ihres Umgangs mit linken Künstlern und Aktivisten nichts Neues. Deutsche Gerichte verteidigen allerdings bislang die Kunstfreiheit weit couragierter als die Demonstrationsfreiheit. Genau deshalb wollten in den vergangenen Monaten und Jahren zivilgesellschaftliche wie parteigebundene Akteure darauf einwirken, dass auch auf den Feldern der Kultur und Kunst, die bislang noch als relativ freie Spielwiesen begriffen wurden, die Staatsräson zu gelten hat.

AfD-Politiker, Union-Vertreter, aber auch die Friedrich-Naumann-Stiftung der FDP und das vom ehemaligen Grünenpolitiker Volker Beck geleitete Tikvah-Institut bemühen sich, Einfluss auf Politik und Entscheidungsträger im Kulturbereich auszuüben. Die Hauptaufgabe mancher NGO-Vertreter scheint es zu sein, verhindern zu wollen, dass es nicht zu Veranstaltungen mit linken, propalästinensischen Vertretern kommt. Dies betreiben sie bislang mit großem Erfolg und in Kooperation mit den überall eingesetzten, in großer Mehrheit proisraelischen Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung. Der neue konservative Medien- und Kulturstaatsminister Wolfram Weimer ist ein vehementer rechter Kulturkämpfer und will den Kurs weiter verschärfen. Er wehrt eine angemessene Erinnerung kolonialer deutscher Verbrechen ab und folgt der Matrix, dass die deutschen Lehren aus dem Holocaust Israel-Solidarität und in erster Linie Abwehr eines »israelbezogenen Antisemitismus« seien. Folgerichtig hat er jüngst den linksliberalen Moderator Jan Böhmermann und das Haus der Kulturen der Welt (HKW) scharf attackiert, weil sie den Berliner Rapper Chefket im Rahmen einer Veranstaltungsreihe eingeladen hatten. Dieser rappt zwar für Völkerverständigung und Toleranz, doch das Bild des Künstlers in einem Palästina-Pullover nahm Weimer zum Anlass, diesem das Verbreiten antisemitischer Inhalte vorzuwerfen.

Kampf gegen Antisemitismus?

Neu ist, dass nicht mehr der altbekannte Antibolschewismus und der Antikommunismus gegen Linke ins Feld geführt werden, sondern die Begründung selbst »links« und »antifaschistisch« erscheint, insofern sie sich als »Kampf gegen den Antisemitismus« ausgibt. Das ist in der Tat eine neue Diskursanordnung und verwirrt nicht zuletzt einige Linke. Antisemitismus ist schließlich keine bloße Meinung, es erfordert politisches Engagement, sich gegen ihn einzusetzen und ihn zu ahnden. Nur vor dem Hintergrund dieser ideologischen Anordnung ist erklärbar, warum subjektiv sich selbst als »links« und »antifaschistisch« Verstehende auf den Gegenkundgebungen zur »All Eyes on Gaza«-Demonstration mit ihren Fahnen der Antifaschistischen Aktion oder der VVN-BdA neben Israel-Fahnen aufliefen. Sie, wie auch die Redaktion der traditionsreichen linken Monatszeitschrift Konkret, können in propalästinensischem Aktivismus nur »Antisemitismus« als Motiv erblicken und meinen tatsächlich, gegen »Antisemiten« ihre Stimme zu erheben, wenn sie Israel bedingungslos verteidigen.

Doch wie in den meisten Fällen liegt hier eine zu schlichte Konstruktion des »Antisemitismus« vor. Zentral für die inhaltliche Entleerung des Begriffs und die Verwendung des Antisemitismusvorwurfs als Herrschaftsinstrument sind das Konzept des »israelbezogenen Antisemitismus« und der sogenannte Drei-D-Test, wonach Dämonisierung, Delegitimierung und ein Doppelstandard in der Behandlung Israels antisemitisches Denken anzeigen würden. Als verbindlich gilt in Deutschland mittlerweile eine ähnlich schwammig gelagerte Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA), die es erlaubt, Kritik an Israel schnell in den Bereich des Antisemitischen zu schieben. Sie wird von führenden Antisemitismusforschern schlichtweg als unwissenschaftlich abgelehnt. Betrachtet man, wer alles in den vergangenen Jahren von Antisemitismusverdikten betroffen ist und war, wird darüber hinaus eine rassistische Komponente deutlich: »Ruangrupa«, die Moderatorin des Wissenschaftsformats »Quarks« vom Westdeutschen Rundfunk, Nemi El-Hassan, der kamerunische Philosoph Achille Mbembe.

Überdrehte Ankläger der Bühnenshows Roger Waters hielten sich nicht lange beim dauernd herbeizitierten Schwein mit Davidstern auf – neben dem auch ein christliches Kreuz und ein Halbmond, also generell Symbole monotheistischer Religionen, zu sehen waren –, sondern wollten in absichtlicher Verkennung des künstlerischen Rollenspiels mit Nazilodenmantel auf die Gesinnung des Musikers selbst schließen. Dieser kommt allerdings politisch eher aus dem britischen Trotzkismus und bezieht sich in fast jedem Interview positiv auf seinen Vater, der im Zweiten Weltkrieg gegen die Nazis kämpfte und dabei starb.

Bei nahezu jeder Repression gegen palästinasolidarische Menschen wurde das Naziargument herangezogen. So behauptete die Berliner Polizei sehr früh, dass der umstrittene und problematische Spruch »From the River to the Sea, Palestine will be free« verboten sei. Der Paragraph 86a StGB wurde kurzerhand als Rechtsgrundlage herangezogen. Die Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer Organisationen ist darin geregelt, unter Bezugnahme auf Fahnen, Abzeichen, Uniformstücke, Parolen und Grußformen. Die Parole verweist aber erkennbar nicht auf solche, die mit deutschen Naziorganisationen verbunden sind. Welche »Terrororganisation« gemeint ist, bleibt hier erst einmal im Dunklen. Der Neuköllner Rechtsanwalt Ahmed Abed, Vorstandsmitglied in der Internationalen Liga für Menschenrechte, erklärte damals: »Die Berliner Polizei versucht mit unprüfbaren Antiterroreinstufungen und wahllosen Terrororganisationsverbindungen, das Grundrecht auf Meinungsfreiheit zu umgehen.«

Von Duisburg bis Berlin

An verschiedenen Orten, beispielsweise in Duisburg, hat die Polizei die Verwendung der Parole »From the River to the Sea, Palestine will be free« untersagt. In Düsseldorf hatte das Polizeipräsidium darauf hingewiesen, dass die Verwendung dieser Parole bei einer propalästinensischen Versammlung in der NRW-Landeshauptstadt Düsseldorf am 2. Dezember 2023 strafbar gewesen sei. Nach einer Klage der Demonstrationsveranstalter hat das Verwaltungsgericht Ende September 2024 entschieden, dass die Polizei richtig gehandelt habe. Zwar sei die Parole nicht per se antisemitisch, sie sei aber ein Kennzeichen sowohl der seit dem 2. November 2023 verbotenen Vereinigung »Samidoun Deutschland« als auch der palästinensischen Hamas als Terrororganisation. Beide hätten sich die Parole »durch ständige Übung«, so das Gericht, zu eigen gemacht, weswegen die Verwendung der Parole »grundsätzlich verboten« sei.

In gleichem Sinne hatte die Staatsschutzkammer des Landgerichts Berlin eine Frau mit iranischer Staatsbürgerschaft für die Verbreitung der Parole wegen Verwendens von Kennzeichen terroristischer Organisationen schuldig gesprochen und zu einer Geldstrafe von 130 Tagessätzen zu je zehn Euro verurteilt. Sie hatte zwischen November und Dezember 2023 über ihr öffentlich einsehbares Instagram-Profil in zwei Fällen die Parole gepostet. Hintergrund für diese Verfolgung einer Demonstrationsparole ist die Verbotsverfügung des Bundesministeriums des Inneren vom 2. November 2023, die das Zeigen von Flaggen und Symbolen der Hamas und schließlich auch den Ausspruch »vom Fluss bis zum Meer« in sämtlichen Sprachen untersagt. Viele Generalstaatsanwaltschaften entschieden daraufhin, die Parole konsequent zu ahnden. Damit wurde die Parole von seiten deutscher Gerichte zu einer Hamas-Parole vereindeutigt.

Eine Interpretation der Parole, die besagt, dass zwischen Jordan und Mittelmeer ein freier Staat für alle dort lebenden Menschen aufzubauen sei, die also eine Utopie von einer Einstaatenlösung für alle Religionen und Volksgruppen darstellt, wurde damit ebenfalls diskursiv und juristisch negiert. Unterstellt wurde, die Parole transportiere die in der Tat antisemitische Vorstellung eines judenfreien Palästinas. Dabei wird wissentlich ignoriert, dass linke Antizionisten zwar die Staatlichkeit Israels angreifen, aber nicht die Existenz und das Leben von Juden im historischen Raum Palästina. Wollte die Bundesrepublik am liebsten in den 1950ern ein Staat ohne Kommunisten sein, so will sie nun dank der Staatsräson – die lautet: »Israel unterstützen« – ein formierter Staat mit einer angepassten Zivilgesellschaft sein, in der es keine Antizionisten geben darf. Dass die BRD damit eine jüdische Tradition angreift, die in Deutschland etwa durch den Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbund repräsentiert wurde, ficht den guten staatstreuen Bürgern nicht an. Dieser Linie folgend sieht der Verfassungsschutz die Vereinigung »Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost« als Gefahr für den deutschen Staat an und listet sie unter »säkularer propalästinensischer Extremismus«.

Und die Pressefreiheit?

Nimmt man Kunst- und Demonstrationsfreiheit so ernst, wie es das Grundgesetz einmal vorsah, kommt man entgegen all der genannten Entscheidungen zu dem Ergebnis: Selbst wenn auf einer Demonstration für die Rechte der Palästinenser eine einzelne antisemitische und judenfeindliche Parole gerufen werden sollte, rechtfertigt dies kein präventives Verbot von israel- oder palästinabezogenen Demonstrationen. Selbst wenn bei über 1.000 beteiligten Künstlern bei einer riesigen Kunstschau zwei oder drei eindeutig antisemitische Bildkomponenten auftauchen, rechtfertigt dies nicht eine staatliche Kulturaufsicht.

Wenn in bezug auf die Palästina-Solidarität also Attacken auf die Kunst-, Meinungs- und Demonstrationsfreiheit vorliegen, wie steht es um die Pressefreiheit? Laut »Reporter ohne Grenzen« sollen seit dem 7. Oktober 2023 fast 200 Medienschaffende durch Angriffe der israelischen Armee getötet worden sein. Mit Duldung Ägyptens wurde internationalen Journalisten der Zugang in das Kriegsgebiet verwehrt. Das veranlasste Medienschaffende dazu, einen offenen Protestbrief zu verfassen. Mehr als 50 Journalisten forderten Israel und Ägypten auf, allen ausländischen Medien freien und ungehinderten Zugang zum Gazastreifen zu gewähren. Zu den Unterzeichnern gehörten Reporter von britischen und US-amerikanischen Nachrichtensendern wie BBC News, Sky News, ITV News, Channel 4 News, CNN, NBC, CBS und ABC. Israel gewährte schließlich Reportern Zugang, wenn sie sich in israelische Militäreinheiten »einbetten« ließen. Proteste von deutschen Medienvertretern großer Nachrichtensendungen sind bislang nicht bekannt geworden.

Bisher durchgeführte Studien zur Berichterstattung westlicher Medien über vorangegangene Kriege Israels im Gazastreifen kamen immer wieder zu dem Schluss, dass israelische Perspektiven deutlich präsenter waren als palästinensische. Ein zentraler Grund hierfür sei der sogenannte Ingroup Bias. Dieser in der Forschung immer wieder belegte Grundsatz besagt, dass Akteure, die von Journalisten als kulturell, religiös oder politisch anders wahrgenommen werden, in der Berichterstattung marginalisiert werden. Dagegen wird Akteuren, denen sich der jeweilige Journalist eher zugehörig fühlt, disproportional viel Raum gegeben. Man könnte es auch schlicht rassistische Voreingenommenheit nennen. In Deutschland erfuhr dies eine zusätzliche Verschärfung durch die moralisch aufgeladene und staatlicherseits propagierte »Solidarität mit Israel«.

Die in Deutschland hegemonialen Medien schrieben zuweilen ungeprüft voneinander ab, sparten kritische Fragen aus und verzichteten auf investigativen Journalismus. Besonders in den Wochen und Monaten nach dem 7. Oktober 2023, also dem Ausbruch von formierten und bewaffneten Truppen aus dem abgeriegelten Streifen und den sich anschließenden Massakern, Greueltaten und Geiselnahmen, waren die Medien in einer semantischen Dauerschleife, deren Hauptaussage lautete: Nichts rechtfertigt den 7. Oktober; aber in Hinblick auf die israelische Gegenreaktion, die als Verteidigung begriffen wurde: Das alles rechtfertigt der 7. Oktober.

Als vorgebliche »vierte Gewalt« im Staat kritisieren diese Medien nicht politische Entscheidungen, die juristisch fragwürdig sind, sondern befeuern und bekräftigen in moralisierender Form politisch opportun erscheinende Urteile, wie man an der Berichterstattung über die Boykottkampagne BDS gegen Israel sehen kann. Sehr oft wird sie kurzerhand als »antisemitisch« bezeichnet. Kaum eine journalistische Stimme wies darauf hin, dass der Anti-BDS-Beschluss des Bundestages nur einen nichtbindenden Beschluss darstellt, den selbst der wissenschaftliche Dienst des Bundestages als begrifflich untauglich kritisierte. Er wäre in Gesetzesform verfassungswidrig. Medial wurde dies kaum in Frage gestellt. Erst in den vergangenen Monaten drehte sich die Stimmung in deutschen Medien: Es wurde über geheimgehaltene Waffenlieferungen der Ampelregierung an Israel berichtet, jüngst war ein kritisches Deutschlandfunk-Interview mit Charlotte Wiedemann zur deutschen Israel-Politik zu vernehmen, oder es fanden sich auch einige hervorstechende Kommentare, die sich tatsächlich einmal kritisch mit der Staatsräsondoktrin auseinandersetzten.

Doch über Monate ging die öffentliche Debatte am Wesentlichen vorbei: an der Frage nach der Zukunft Israels und Palästinas angesichts einer unerträglichen Besatzung, nach der Zukunft der Palästinenser angesichts von Vertreibung und Siedlerapartheidsstrukturen und danach, wie ein Krieg gestoppt werden kann, der aufgrund von Bekundungen rechtsextremer, führender israelischer Politiker schon frühzeitig und wegen seiner Eskalationsdynamik als Genozid hätte begriffen werden müssen.

Gerhard Hanloser gab 2020 den mittlerweile vergriffenen Sammelband »Linker Antisemitismus?« beim Wiener Mandelbaum-Verlag heraus. An dieser Stelle schrieb er zuletzt am 8. August 2025 über die Geschichte des »linken« Bellizismus vom Golf- bis zum Gazakrieg: »Imperialismus der feinen Herren«

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  • Leserbrief von Rayan aus Unterschleißheim (16. Oktober 2025 um 17:42 Uhr)
    Das teilweise »Zurückrudern« der deutschen Medien in den letzten paar Monaten ist meines Erachtens einfach nur Ausdruck der grundsätzlichen Propagandastrategie. Schon als Kind in den 1980ern war es eine Art Hobby von mir, Ost- und Westpropaganda im TV zu vergleichen. Ostpropaganda war in der Regel so plump, dass sie von vielen sofort erkannt wurde. Die Plumpheit entstand größtenteils daraus, dass sie zu 100 Prozent verbreitet wurde. Der Westpropagandaanteil besteht bis heute dagegen bei den jeweiligen Themenbereichen »nur« zu durchschnittlich ca. 85 bis 95 Prozent aus Fehlinformation und/oder suggestiver Hirnwäschesprache. (Mit der neuerdings öfters beobachteten Ausnahme von (scheinbar) plötzlich auftretenden Akutkonflikten, bei denen kurzzeitig auch 100 Prozent gefahren werden, um den Confirmation-Bias voll ausnutzen zu können.) Damit können sich die hiesigen Propagandisten immer auf eine angebliche Vielseitigkeit der Perspektiven berufen, da der Aufwand bisher sehr hoch war, die tatsächliche, für Propaganda typische Einseitigkeit, nachzuweisen. (KI könnte das künftig ändern. Einzelne Auswertungen wie u. a. in Chomskys »Die Konsensfabrik« zusammengefasst, gab es aber bereits auch bisher.) Durch diese »90-Prozent-Propaganda«, die durchaus auch entsprechend zeitlich verschoben gesponnen werden kann, ist die Wirkung des Brainwashings insgesamt um ein Vielfaches effektiver.

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