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Aus: Ausgabe vom 13.10.2025, Seite 16 / Sport
Fußball

Eine Legende

Zum Tod des großen argentinischen Fußballtrainers Miguel Ángel Russo
Von André Dahlmeyer
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Miguel Ángel Russo (9.4.1956–8.10.2025)

Schlechte Nachrichten. Miguel Ángel Russo, Trainer von Boca Juniors, ist tot. Er starb am 8. Oktober mit 69 Jahren. Russo war das, was man eine »ehrliche Haut« nennt. Im heutigen Fußballbusiness praktisch nicht mehr anzutreffen, old school. Wo sonst vor allem polarisiert wird, brillierte er durch Rationalität und Fachkenntnis. Nie hörte man ihn einen Gegner kleinreden, wenn er etwas sagte, dann Gehaltvolles. Kaum je beschönigte er, Opferinszenierungen waren ihm fremd, die handelsübliche Folklore des Fußballs gab es für ihn nicht.

Respekt war Russos Währung. Es gibt wenige Fußballer in Argentinien, die auch von den Fans anderer Vereine hochgeschätzt wurden. Martín Palermo, Carlos Tévez (beide Boca), Sergio Agüero (Independiente) sind solche Spieler. Seltener noch ist so etwas bei Trainern. Von den Ausnahmen war Russo die Nummer eins. Alle mochten ihn, er war nicht überheblich, wenn er scheiterte, rastete er nicht aus.

Miguel Ángel Russo starb an Harnblasen- und Prostatakrebs, 2017 erstmals diagnostiziert, da war er gerade Trainer der Millonarios in Bogotá, Kolumbien. 35 Jahre arbeitete er als Fußballehrer, als Spieler war er ausschließlich bei Estudiantes de La Plata beschäftigt gewesen.

Russo fiel nicht besoffen von der Bank wie Branko Zebec, rauchte sich nicht tot wie Ernst Happel. Der befreundete katalanische Sänger Joan Manuel Serrat, der selbst dreimal Krebs hatte, sagte einmal zu Russo: »Krebs ist eine der wenigen demokratischen Erfahrungen, die dir in deinem Leben widerfahren. Er ist nicht ungerecht, aber beschissen.«

Der Vater starb, da war Russo gerade mal fünf Jahre alt. Erinnerungen an ihn hatte er keine. Aus Miguelito wurde Miguelo. Mit 33 musste er seine Spielerlaufbahn wegen Knieproblemen beenden. Er kickte bei Estudiantes de La Plata im zentralen Mittelfeld, ein Abräumer, technisch begabt, schaltete er sich auch immer wieder in die Offensive ein. Ein kompletter Spieler, ein Führungsspieler. Kapitän jenes unvergesslichen Teams, das 1982 das Metropolitano unter Trainer Carlos Salvador »Erlöser« Bilardo gewann. 1983 dann das Nacional, inzwischen mit Eduardo Luján Manera an der Kalklinie. Zwischen 1975 und 1988 bestritt Russo mehr als 400 Spiele für Estudiantes. Das Mittelfeld aus Russo, Marcelo Trobbiani (Weltmeister 1986), José Daniel Ponce (heute im chilenischen Minenbusiness unterwegs) und Alejandro Sabella (Trainer des Vizeweltmeisters 2014, Friede seiner Asche) war epochal.

Seinen ersten Trainerjob hatte er bei Atlético Lanús. In Lanús wurde Russo geboren, genau wie Diego Armando Maradona, mit dem Russo in Kinderjahren gegen Ältere auf den Bolzplätzen der Armenviertel antrat. Trainer war Russos Herzensjob. Anfang der 90er stieg Lanús wieder auf in die Primera División, die erste Liga, stieg wieder ab und stieg wieder auf. Russo gab nicht auf. Aufgeben war nicht seine Sache. Er liebte sein Land, verstand besser als viele andere die Vorbildfunktion des Sports.

1995 stieg Russo mit dem Klub seines Lebens, Estudiantes La Plata, wieder in die erste Liga auf. Eine weitere Heimat fand er bei »Rosenkranz« Central in Rosario. Bald war er ein Vereinsidol. 2023 wurde er mit Central argentinischer Meister, sensationell. Er spielte das Finale der Copa Conmebol (1997) und rettete den Klub mehrmals vor dem Abstieg. Das Wichtigste aber: Er verlor nie einen Klassiker gegen Erzrivalen Newell’s Old Boys, den Klub, der Lionel Messi ausgebildet hatte.

Seinen ersten Titel als Trainer gewann Russo 2005 mit Vélez Sarsfield, Mitte der 90er Jahre bester Vereinsklub der Welt (mit José Luis Chilavert im Kasten). Mit Vélez erreichte er auch die Halbfinals der Copa Sudamericana. 1996 hatte er bereits den chilenischen Traditionsklub Universidad de Chile aus der Hauptstadt Santiago in die Halbfinals der Copa Libertadores trainiert, wo die Trasandinos vom späteren Turniergewinner River Plate aus Buenos Aires eliminiert wurden. Auch seine beiden Titel mit Millonarios (Bogotá) sind Legende. Trainerbank und Chemotherapie gaben sich irgendwann die Hand. Die Verantwortlichen wussten Bescheid, die Spieler anscheinend nicht.

Der Triumph mit Vélez katapultierte Russo zum Head Coach von Boca Juniors. Dort hatte Vereinspräser Maurico Macri gerade Juan Román Riquelme vom FC Villareal ausgeliehen, was Macri den Posten des Oberbürgermeisters von Buenos Aires einbrachte und Jahre darauf die Präsidentschaft des gebeutelten Landes am Río de La Plata. Riquelme legte ein außerirdisches Niveau an den Tag, Boca Juniors holte 2007 zum sechsten Mal die Copa Libertadores. Die Finals gewann Boca mit einem globalen 5:0 gegen Grêmio Porto Alegre. Es ist das Vermächtnis von Miguel Ángel Russo.

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