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Aus: Ausgabe vom 13.10.2025, Seite 15 / Politisches Buch
Neuere Geschichte der Philippinen

Kolonialer Treibstoff

Die nächste »Rückeroberung« durch die USA: Rainer Werning und Jörg Schwieger haben ein »politisches Lesebuch« über die Philippinen herausgegeben
Von Arnold Schölzel
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Protestaktion gegen Präsident Marcos und Vizepräsidentin Duterte (Quezon-Stadt, 28.7.2025)

Das Territorium der Philippinen umfasst mehr als 7.600 größere und kleinere Inseln, auf denen heute etwa 116 Millionen Menschen leben – bei einem Bevölkerungswachstum von jährlich 1,63 Prozent. 13 Millionen erwachsene Philippiner arbeiten im Ausland; auch die Bundesrepublik warb schon vor 60 Jahren dort erstmals Arbeitskräfte an, in diesem Jahr erneut. Das Land ist eines der größten Ausbeutungsreservoire des internationalen Kapitals, als dessen Handlanger brutale einheimische Dynastien, gestützt auf Klientelsysteme, fungieren. Gegenwärtig haben sich zwei von ihnen, die Marcoses und die Dutertes, zusammengetan, stellen Präsident und Vizepräsidentin. Außenpolitischer Hauptprogrammpunkt: rückhaltlose Loyalität zu den USA und Zündeln gegen China, etwa durch Stationierung jener US-Raketensysteme vom Typ »Typhon« (seit April 2024), die ab 2026 auch in der Bundesrepublik aufgestellt werden sollen.

Die Überweisungen der Arbeitsmigranten in Höhe von fast 40 Milliarden US-Dollar (2023) tragen etwa zehn Prozent zum Bruttoinlandsprodukt bei. Die knapp 400.000 philippinischen Seeleute machen rund ein Viertel aller Beschäftigten auf den Meeren der Welt aus – stets schlechter bezahlt als ihre europäischen oder amerikanischen Kollegen.

Solche Details des modernen Kolonialismus sind dem von Rainer Werning und Jörg Schwieger herausgegebenen Sammelband »Von Marcos zu Marcos. Die Philippinen seit 1965« zu entnehmen. Außerdem dies: Das Erzeugen von Extraprofit bestimmt auch die inneren Verhältnisse. Vinzenz Bosse nennt das Land in seinem Beitrag »Backoffice und Callcenter der Welt«: »In Sachen KI der Techgiganten geht es um Tausende fleißige Geisterarbeiter:innen, die vor ihren Bildschirmen Milliarden digitale Mikrotasks ausführen, die die Grundlagen für die technologische Revolution KI liefern.« Denn, anders als die Rede von »künstlicher Intelligenz« suggeriere, »sind KI-Systeme nicht in der Lage, selbstständig Daten zu verarbeiten, Muster zu erkennen und zu lernen.« Dahinter verbergen sich Menschen, »die Klick für Klick die Trainingsdaten für die KI-Algorithmen generieren, kategorisieren und überprüfen«. Und zwar auf den Philippinen für ein paar Cent pro Stunde. Bosse nennt das »weltmarkttaugliche Ausbeutungsverhältnisse« auf Basis von Hungerlöhnen. Diese Zustände sind der Unterbau des Gesellschaftsgefüges im globalen Norden.

Bosse ist einer von 40 Autoren, die Werning und Schwieger für den Band gewonnen haben. Hinzu kommen acht philippinische Interviewpartner – von Bischof und Friedensaktivist Antonio Ablon bis zum vor kurzem im niederländischen Exil verstorbenen Repräsentanten der »Nationalen Demokratischen Front der Philippinen« (NDFP) Luis G. Jalandoni. Werning und Schwieger, die mit vielen eigenen Beiträgen vertreten sind, beschäftigen sich seit 50 Jahren mit den Philippinen. Dieser Band ist neben dem von ihnen herausgegebenen »Handbuch Philippinen«, das mehrere Auflagen erlebt hat, so etwas wie die »Summe« dieser Arbeit.

Entstanden ist ein facettenreiches, faszinierendes Panorama des Landes, das wieder einmal, so der Soziologe Walden Bello in seinem Text, eine »Rückeroberung« durch die USA durchlebt. Der amtierende philippinische Präsident Ferdinand Marcos unterzeichnete im Frühjahr 2024 das neue Abkommen zur drastischen Ausweitung der US-Militärpräsenz auf den Inseln. Das war gut 32 Jahre nach der Räumung der damals größten US-Militärstützpunkte außerhalb der USA, Subic Bay und Clark Air Base. Der Protest der NDFP gegen das Großmanöver »Balikatan«, das im Frühjahr 2025 auch mit deutschen Beobachtern stattfand, ist eindringlich: »Dies ist keine Trainingsübung mehr, sondern eine umfassende Kriegsvorbereitung.« Die Kriegsmaschinerie verteidige nicht, sondern »sie konsumiert. Und sie benutzt das philippinische Volk als Treibstoff.«

Nach Lektüre dieses Buches lässt sich verallgemeinern: Die Bevölkerung der Philippinen wird nicht nur militärisch als »Treibstoff« be- und vernutzt. Hier sei nur erwähnt, dass allein unter dem seit März beim Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag inhaftierten Expräsidenten (2016 bis 2022) ­Rodrigo Duterte innerhalb von zwei Jahren 27.000 Menschen wegen angeblicher Drogenkriminalität ermordet wurden. So funktioniert Extraausbeutung, und das seit Jahrhunderten. Bei Zwischenwahlen am 12. Mai 2025 errang aber dennoch der Duterte-Clan in seinem Stammsitz Davao, der Hauptstadt der Insel Mindanao, einen Erdrutschsieg.

Die Herausgeber haben den Band, den sie »politisches Lesebuch« nennen, in acht Abschnitte (unter anderem Geschichte, Gesellschaft und Politik, Wirtschaft, Philippiner im Ausland, Klima und Umwelt, die Linke) und einen »Schlussakkord« gegliedert. Der Anhang enthält Internetadressen philippinischer Medienportale und Kontaktadressen von Organisationen. Vergleichbar Informatives zu einem anderen Land scheint es auf dem deutschsprachigen Buchmarkt derzeit nicht zu geben.

Rainer Werning, Jörg Schwieger (Hrsg.): Von Marcos zu Marcos. Die Philippinen seit 1965. Promedia, Wien 2025, 264 Seiten, 24 Euro

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