Gegründet 1947 Montag, 13. Oktober 2025, Nr. 237
Die junge Welt wird von 3036 GenossInnen herausgegeben
Aus: Ausgabe vom 13.10.2025, Seite 5 / Inland
Eigenbedarfskündigung

Der Boden unter den Füßen

Gaby B. lebt seit knapp 40 Jahren in Berlin-Friedrichshain. Nun wird ihre lange bestehende Sorge wahr: Kündigung wegen Eigenbedarfs
Von David Siegmund-Schultze
5.jpg
Einzelschicksale mit System: Der Kampf gegen Gentrifizierung geht weiter

Sie kriegt kaum Luft, muss in den Hinterraum gehen, um dreimal tief durchzuatmen. Gerade hatte Gaby B. noch eine Kundin frisiert, wie sie es jeden Tag dutzendfach tut. Dann kam in dem Friseursalon der Anruf, der ihr den Boden unter den Füßen wegzureißen droht. Der junge Mann von gegenüber ist am Hörer, der vor kurzem zusammen mit seiner Partnerin ihre Wohnung gekauft hat. Gaby ahnt schon Schlimmes an diesem Tag im Juni vergangenen Jahres. Ob sie sich denken könne, warum er anrufe, fragt er. »Ja«, antwortet Gaby – und schiebt sofort nach: »Ihr wollt Eigenbedarf anmelden.« Die Stimme am anderen Ende der Leitung bejaht. Der Schock sitzt tief. Das, was sie lange befürchtet hat, tritt nun ein: Ihr Wohnraum, ihr Lebensmittelpunkt ist bedroht.

Irgendwie schafft es die 63jährige Gaby an diesem Tag, den Schalter noch mal umzulegen, einfach weiterzuarbeiten. Freundlich mit den Kunden zu sprechen, als wäre nichts passiert. Doch als sie nach Feierabend ausgerechnet dem jungen Paar, das in ihre Wohnung ziehen will, in die Arme läuft, platzt es aus ihr heraus: »Wie könnt ihr mich aus meinem Zuhause rausschmeißen? Wisst ihr überhaupt, was ihr mit mir macht?« Gaby ist aufgekratzt, voller Enttäuschung, Wut und Trauer. Am liebsten hätte sie noch geschrien: »Schämt euch, so etwas macht man nicht!« Die junge Frau entschuldigt sich, sie müssten selber bald aus ihrer Wohnung raus und hätten nichts anderes gefunden. Doch was soll Gaby damit anfangen?

In Ostberlin geboren, ist sie 1986 in die 59-Quadratmeter-Wohnung in Friedrichshain gezogen. Damals war ihr Sohn noch nicht mal ein Jahr alt, er ist in der Wohnung groß geworden. Und sie hat seitdem ihr Leben hier verbracht. Im selben Jahr begann sie in dem Friseursalon um die Ecke zu arbeiten. »Kati Witt und Helga Hahnemann wurden hier schon die Haare geschnitten.« Auch wenn sie schon seit Jahren unter Rückenschmerzen frisiert, arbeitet sie gerne in dem Laden, hat ein enges Verhältnis zu ihren Kollegen. Und sie hat ihren Sportverein, ihr ganzes Umfeld in dem Kiez. Wer käme sie noch besuchen, wenn sie an den Stadtrand ziehen müsste, fragt sie sich.

Auch ihr wurde schon angeboten, die Wohnung zu kaufen, doch als Friseurin verdiente sie nicht genug, um sich das leisten zu können. Mehrfach haben die Eigentümer ihrer Wohnung gewechselt, für sie spielte das lange keine Rolle: Die Miete ging immer an dieselbe Hausverwaltung. Das änderte sich 2014. Ein Anwalt kaufte ihre Wohnung und machte von Anfang an klar, dass er sie heraushaben wollte. Alle paar Jahre kamen Briefe mit der Frage, ob sie nicht ausziehen wolle. Er bot ihr Geld. Gaby fühlte sich von ihm unter Druck gesetzt. Die unterschwellige Angst, ihr Vermieter könnte sie wegen Eigenbedarfs kündigen und aus ihrer Wohnung verdrängen, belastete sie jahrelang. Doch Anfang 2024 verkauft er die Wohnung an das junge Paar von nebenan, und Gaby hofft, dass nun endlich Ruhe ist, die Sorgen endlich weg sind.

Dann kam der Anruf auf der Arbeit. Wider Erwarten passierte nach dem Tag erst mal ein Jahr lang nichts. Erst Ende Juli 2025 kam der Brief mit der Eigenbedarfskündigung. »Seit diesem Tag bin ich nur noch am Laufen: Ich organisiere, mache Behördengänge, gehe zu Besichtigungen.« Der Mann auf dem Amt versichert ihr neben einem großen Stapel von Anträgen auf einen Wohnberechtigungsschein, dass sehr viele Menschen in ihrer Situation stecken. Eine vergleichbare Wohnung in Friedrichshain zu finden scheint wie eine Mammutaufgabe. Momentan zahlt sie 530 Euro warm, etwa 170 Euro wird sie wohl mehr aufbringen müssen – sehr viel Geld bei Gabys geringem Einkommen. »Eigentlich will ich nicht raus, aber darum geht es ja nicht, was ich will oder nicht.«

Nach dem Gespräch mit ihrem Anwalt ist klar, dass sie juristisch kaum eine Chance hat, sich gegen die Eigenbedarfskündigung zu wehren. Sie wird versuchen, vor Gericht einen Härtefalleinwand geltend zu machen, um den Verlust der Wohnung wenigstens hinauszuzögern. Dafür muss sie ihre Wohnungssuche dokumentieren und Listen mit den Anfragen und Absagen führen. Doch ihr fällt es schwer, sich dahinterzuklemmen. Ihr fällt es schwer, zu kochen, sauberzumachen, ihren Alltag zu bewältigen. Gaby hat schon viel durchgestanden, doch die Situation bringt sie an ihre Grenze. Die größte Angst: »Dass ich das psychisch nicht schaffe.« Und dass sie in der Wohnungslosigkeit enden könnte.

Tageszeitung junge Welt am Kiosk

Die besonderen Berichterstattung der Tageszeitung junge Welt ist immer wieder interessant und von hohem Nutzwert für ihre Leserinnen und Leser. Eine gesicherte Verbreitung wollen wir so gut es geht gewährleisten: Digital, aber auch gedruckt. Deswegen liegt in vielen tausend Einzelhandelsgeschäften die Zeitung aus. Überzeugen Sie sich einmal von der Qualität der Printausgabe. 

links & bündig gegen rechte Bünde

Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.

Regio: