Keiner flog übers Kuckucksnest
Von Ken Merten
Das Narrenschiff war nie seetauglich. Es liegt auf dem Meeresgrund, wo die Gespensterfische hausen, Hochgucker, gotteslästerlich-hässliche Kreaturen, missgeborene Abjekte; sie sind da, aber im Dunkeln und tief unten.
»In meiner Kindheit gab es keine Homosexuellen. Homosexuelle waren so etwas wie Geister«, sagt eine aus dem großen Personal in Svealena Kutschkes neuem Roman. Nicht nur Lesben und Schwule sind Gespenster, auch die psychisch Kranken und – wie die Homosexuellen – zu Unrecht Pathologisierten eines ganzen Jahrhunderts. Wie schon in »Stadt aus Rauch« geht es auch in Kutschkes fünftem Buch durch die Generationen und ihre Interdependenzen. Im 2017 bei Eichborn erschienenen Roman war es – kennt man, kennt man Mann – der in Lübeck angesiedelte Familienroman, mit dem Kutschke antisemitisch-deutschtümelnde Kontinuitäten vermittelte. »Gespensterfische« wiederum sind hundert Jahre Einsamkeit im trüben Wasser der (west-)deutschen Psychiatriegeschichte. Aber wie in »Stadt aus Rauch« gibt es hier und dort einen »sargschmalen Gang« und wird darüber sinniert, ob Menschen versteinern können (in »Stadt aus Rauch« konnten sie’s, in »Gespensterfische« würden sie es vielleicht gern, wenn sie die Angststörung schon lähmt). Auch hier ist der Faschismus Wesentliches: »Eckernförde? Die haben wir alle in die Gaskammern gebracht«, sagt eine Schwester (sie habe »ganz komisch gelächelt dabei«) in der tiefsten Bonner Republik darüber, was Menschen mit geistiger Behinderung und psychischen Erkrankungen widerfuhr, eine Verlegung, nicht andernorts, sondern vom angeblich »lebensunwerten« Leben in den als »gut, richtig, schön« titulierten Tod. Nach dem Mitmachen beim Massenmord der »Euthanasie« sitzen die Täterinnen und Täter von damals am Nordseestrand, grämen sich über die angeblichen Schikanen, die sie während der Entnazifizierung erlitten hätten, süffeln Sekt, um ihrem Alkoholismus zu entsprechen, und harren einer gerechten Strafe, die sie nie bekommen werden.
Ausreden wie Sand am Meer: »Und was mache man denn mit einem Kind, dessen Kopf nicht größer sei als eine Kinderfaust. Man könne doch erst von Mord sprechen, wenn man es mit einem Menschen zu tun habe. Das würde man doch selbst heute kaum anders sehen.« Faschismus ist, wenn staatlich verordnet alles Menschliche jederzeit abgetrieben werden kann, es sei denn, da steckt ein heranwachsendes Ausbeutungsmaterial und Kanonenfutter im Mutterleib von einer, die nicht Mutter sein kann oder will und selbst über ihren Körper entscheiden möchte. Faschismus ist auch: immer woanders. Kinder quälen? »Nienburg, nicht bei uns. Das muss auch in Schleswig gewesen sein. So was hat’s bei uns nicht gegeben.«
Auch wenn Kutschke aus faschistischer Fachliteratur zitiert, wenn dort »Sexualität als Dienerin an der gewaltigen Aufgabe der Arterhaltung« angeführt wird, als sei der Mensch Tier geblieben oder wieder geworden, ist die Kriminalisierung von Nichtheterosexuellen und deren Abwertung nichts, worauf etwa Faschisten ein Patent hätten. Schriftstellerin und Psychologengattin Olga Rehfeld etwa hätte einen Großteil ihres Lebens auch ohne die Machtübernahme der Nazis in der Klinik verbracht und tut es auch nach deren Niederlage. So oder so hätte man ihr das Schreiben verweigert: Als Mutter, wird ihr mitgeteilt, hätte sie eine Berufung, die nichts daneben mehr zuließe. So ist es eben nicht die Mutterschaft, sondern Medikationen und gewaltsame Therapiemaßnahmen, die erst jene Synapsen fehlverdongeln und Krankheiten provozieren, die zu behandeln man vorgibt.
Rehfeld wird anders Mutter und dafür zuständig sein, dass Pflegerinnen und wiederum ihre Töchter sich der Literatur zuwenden: Kutschke hat einen Kanon in den Roman einmontiert, René Pollesch (»In jede Wunde eine Tablette«) wird zitiert, Yoko Tawada, Sylvia Plath und neben vielen weiteren wieder und wieder Friederike Mayröcker. Paradigmatisch dazu das Prosaschnipsel jener aus »Die kommunizierenden Gefäße« (Suhrkamp 2003): »Lesen, lesen, lesen, schreie ich, solange noch Augen.«
Auch wenn – und wahrscheinlich weil – es in »Gespensterfische« tief nach unten geht, sind die Augen aller auf gleicher Höhe: Klientinnen und Klienten und medizinisches Personal sind bei Kutschke gleichrangig. Vielleicht auch, weil die Knickse und Knackse paritätisch verteilt sind: Onkel Doktor bedient sich vor Feierabend am Inhalt des Tablettenschranks, in alle Richtungen essgestörte Mütter und Töchter finden sich in den besten wie schlechtesten Familien. Bei einer bulimischen Zwölfjährigen wird die Vermutung laut, dass sie parentifiziert sei, also die Lasten der Eltern trage, die sie unmöglich stemmen könne, und sich deshalb Essen als Zuneigung zuführe, um es dann als die quälend übergroße Verantwortung auszuspeien.
Der Eindruck entsteht, dass die Parentifizierung nicht vor Volljährigen haltmacht. Mündigkeit als etwas Relatives: Der Impfgegner sorgt sich in Zeiten der Pandemie und dem damit einhergehenden sprunghaften Anstieg von häuslicher Gewalt um die beim Lockdown mit dem brutalen Vater eingesperrte Nachbarsfamilie – aber eben auch darum, dass man ihm mit Vakzin vergiftetes Blut transferiert hat.
Die Wirklichkeit begreifen die »Gespensterfische« allesamt allzumenschlich und alltagsphilosophisch »als eine Vereinbarung«. Oder wie Lewis Carrolls postmoderner Vordenker in »Alice im Wunderland«, der Hutmacher, sagt: »Ich bin nicht verrückt. Meine Realität ist einfach anders als deine.« Etwas, worauf sich auch Naziverbrecher berufen: Ihr Handeln war realistisch und der sozialen Vereinbarung entsprechend. Ihr Menschenbild ist ein anderes. Manche fallen für sie einfach nicht darunter.
Svealena Kutschke: Gespensterfische, Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2025, 237 Seiten, 24 Euro
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