Affen sind auch nur Menschen
Von Jens Walter
Die Schimpansin Wounda kann es gar nicht erwarten, aus ihrem Verschlag herauszukommen. Als die Tierpfleger den Schieber öffnen, schwingt sich die von einer schweren Krankheit genesene Affendame auf den Käfig und von dort an den Hals einer älteren Dame. Kurz vor ihrer Auswilderung in die Freiheit nimmt Wounda ihre Retterin, Jane Goodall, in den Arm. Wie kaum eine andere steht diese Filmszene für das Lebenswerk der britischen Primatenforscherin. Nun ist Goodall am 1. Oktober im Alter von 91 Jahren in Los Angeles gestorben.
In einer Mitteilung der Vereinten Nationen heißt es, die Forscherin, Umweltschützerin und UN-Friedensbotschafterin habe »unermüdlich für unseren Planeten und all seine Bewohner gearbeitet«, sie hinterlasse ein außergewöhnliches Vermächtnis für die Menschheit und die Natur. UN-Generalsekretär António Guterres schrieb, er sei »zutiefst betrübt« über die Nachricht von ihrem Tod.
Als 26jährige reist Goodall 1960 zur Erforschung einer Gruppe von Schimpansen in das Gebiet des heutigen Gombe-Nationalpark im britischen Treuhandgebiet Tanganjika (heute Tansania). Als Erste erkennt sie bei den Affen Wesenszüge und Verhaltensweisen, die vom Menschen bekannt sind – gute wie schlechte. »Damals in den frühen 60er-Jahren glaubten viele Wissenschaftler, dass nur Menschen einen Verstand haben, dass nur Menschen in der Lage sind, rational zu denken«, sagt sie in dem Dokumentarfilm »Jane«, in dem viele Aufnahmen aus der frühen Zeit ihrer Forschung zu sehen sind. »Zum Glück war ich nicht an der Universität und wusste diese Dinge nicht«, fügt sie vershcmitzt hinzu.
Goodall hat ihre Position dem britisch-kenianischen Anthropologen Louis Leakey zu verdanken. Ihre Familie hat nicht das Geld, um ihr ein Studium zu finanzieren. Trotzdem will sie ihren Kindheitstraum von einem Leben unter wilden Tieren unbedingt wahr machen. Sie verdingt sich als Sekretärin und Kellnerin, bevor sie zu einer ersten Reise nach Afrika aufbricht, bei der sie Leakey kennenlernt.
Leakey, der sich von ihren Kenntnissen und ihrer Begeisterung beeindruckt zeigt, beauftragt sie damit, eine Gruppe Schimpansen an den Ufern des Tanganijka-Sees im Norden des heutigen Tansania zu erforschen. Gerade ihre Unvoreingenommenheit erkennt er eine Stärke. Leakey sendet zwei weitere Frauen aus: Die 1985 in Ruanda ermordete US-Amerikanerin Dian Fossey, die Gorillas erforscht, und die in Kanada aufgewachsene Birute Galdikas, die sich auf Borneo den Orang-Utans widmet. Zusammen werden sie manchmal als die »Trimaten« bezeichnet.
Zunächst von ihrer Mutter begleitet, trotzt Goodall monatelang Witterung und Gefahren, um in die Nähe ihrer Forschungsobjekte zu gelangen – zunächst vergeblich. Die Schimpansen laufen davon. Doch nach und nach gewöhnen sich die Tiere an den Anblick des »fremden weißen Menschenaffen«, wie sie sich selbst gerne nennt. Bald wird sie Teil ihrer Gemeinschaft. Die Methode der »teilnehmenden Beobachtung« erweist sich als erfolgreicher als alles andere, was zuvor versucht worden war. Sie beinhaltet jedoch auch das Füttern mit Bananen und eine Interaktion mit den Tieren, die zu Kritik führt. Beispielsweise gilt es als unwissenschaftlich, den Schimpansen Namen statt Nummern zu geben. Goodall lässt sich nicht beirren.
Ihr bester Freund wird David Greybeard, ein gutmütiges männliches Tier mit weiß-grauem Haar am Kinn, das als erstes wagt, in ihre Nähe zu kommen. Sie beobachtet Greybeard, wie er mit einem Stöckchen in einem Termitenbau stochert und damit die Insekten fängt. Er präpariert sogar Zweige dafür, indem er die Blätter abstreift. Als sie Leakey von dieser Beobachtung berichtet, telegrafiert er zurück: »Jetzt müssen wir entweder den Menschen neu definieren. Werkzeug neu definieren. Oder wir müssen Schimpansen als Menschen anerkennen.« Bis dahin galt die Verwendung von Werkzeugen als wichtigste Unterscheidung zwischen Menschen und Tieren.
Goodall beobachtet zärtliches Verhalten, Umarmungen, Berührungen und Trauer in Gombe. Eine verheerende Polioepidemie unter den Affen und später tödliche Auseinandersetzungen zwischen den Tieren sorgen für Ernüchterung. »Ich dachte, sie wären wie wir, aber netter als wir«, sagt Goodall rückblickend und fügt hinzu: »Ich hatte keine Ahnung von der Brutalität, die sie an den Tag legen können.« 1971 erscheint ihr erster großer Forschungsbericht »In the Shadow of Man«.
Die Kinderbuchreihen »Doctor Dolittle« und »Tarzan« hätten in ihr schon früh den Wunsch geweckt, unter Tieren zu leben, meinte Goodall rückblickend. Scherzend sagt sie oft, sie sei enttäuscht gewesen, weil Tarzan die falsche Jane geheiratet habe. Sie selbst heiratet den niederländischen Tierfilmer und Fotografen Hugo van Lawick, dessen Aufnahmen erheblich zu ihrem Ruhm beitragen. Die Ehe zerbricht nach zehn Jahren. Später heiratet sie den Direktor der tansanischen Nationalparks, Derek Bryceson, der aber schon 1980 stirbt.
Als sie sieht, dass Schimpansenpopulationen überall schrumpfen und ihren Lebensraum verlieren, wendet sich Goodall dem Arten- und Umweltschutz zu. Mit dem Jane-Goodall-Institute baut sie ein weltweites Netz auf, mit dem sie für ein Umdenken wirbt. Mit Schülern startet sie in Tansania die Aktion »Roots & Shoots« (Wurzeln und Sprösslinge). Heute existieren Gruppen in zahlreichen Ländern. Auch im hohen Alter reist sie unermüdlich um die Welt, um Menschen aufzurütteln. Als sie stirbt, ist sie gerade auf einer Vortragsreise.
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