junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Gegründet 1947 Donnerstag, 2. Oktober 2025, Nr. 229
Die junge Welt wird von 3036 GenossInnen herausgegeben
junge Welt: Jetzt am Kiosk! junge Welt: Jetzt am Kiosk!
junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Aus: Ausgabe vom 02.10.2025, Seite 11 / Feuilleton
Kino

Ewiger Alptraum

Seelen weiterleiten: Julius Grimms Langfilmdebüt »Zweigstelle« erzählt eine etwas andere Beamtengeschichte
Von Ronald Kohl
11.JPG
Es ist noch nicht vorbei

Als Regisseur Julius Grimm 20 Jahre alt war, nahm sich sein Vater das Leben. Heute sagt Grimm, er habe jetzt »einen sehr guten, gesunden Umgang mit dem Tod«. Ob es sich als Ausdruck von Gesundheit bewerten lässt, das Thema Tod in den Mittelpunkt des eigenen Schaffens zu stellen, kann ich schlecht beurteilen. Vielversprechend finde ich Grimms Anspruch, dass »unter jeder Komödie ein gutes Drama drunterliegen muss«.

Für Theresa Bauer (Sarah Mahita), die zentrale Figur in Grimms Langfilmdebüt »Zweigstelle«, wäre ewiges Leben gleichbedeutend mit einem ewigen Alptraum. Noch während der Bearbeitung ihres Vorgangs in der titelgebenden Zweigstelle Süddeutschland III/2, die für die Weiterleitung der Seelen im bayerischen Sprachraum zuständig ist, entscheidet sich Resi, wie sie von ihren drei ebenfalls tödlich verunglückten Freunden genannt wird, deshalb dafür, lieber für immer im »Nichts« zu verschwinden, so die amtliche Bezeichnung. Die Alternative zu diesem Nichts, über das wir nur erfahren, dass da eben wirklich nichts ist, wäre ein sogenanntes Wunder: ein Leben mit ihrem Freund Michi auf einem Biobauernhof, mit vielen Kindern und eigener Produktvermarktung. Auch wenn Resi den Michi liebhatte, wollte sie doch reisen, etwas von der Welt sehen. Am besten alles. Doch das Leben ist kein Wunschkonzert, und das, was anschließend kommt, wohl noch weniger. Womit nicht gesagt sein soll, dass es die Hölle sein muss.

Grimm drehte mit nahezu leeren Kassen. Er kreierte deshalb eine Behörde, deren Zuständigkeit sich allein auf die Erfassung und Überprüfung der Konfession jedes Einzelnen beschränkt.

Wie hat man sich diese Behörde im Detail vorzustellen? Antwort: wie eine Behörde. Ohne Wartenummer geht schon mal gar nichts. Außerdem muss ein Formular ausgefüllt werden, mit dem in der Hand der ums Leben gekommene, lediglich bekleidet mit weißer Unterwäsche, die endlosen Gänge entlang eilt, hektisch auf der Suche nach dem für seinen Glauben zuständigen Sachbearbeiter, der dann testet, ob er einen wirklich religiösen Anwärter vor sich hat oder nur einen Scheinheiligen, einen Gottlosen, der plötzlich Schiss hat vor dem Nichts.

Der für Buddhismus zuständige Sachbearbeiter Fridolin (Maximilian Schafroth als hundertprozentige Reinkarnation Gerhard Polts) klärt über die Tücken der Wiedergeburt auf. Er berichtet von einem vollkommen »beratungsresistenten« Fall, einem Mann, dessen Seele wieder und wieder in die Massentierhaltung geschickt werden musste. »Massentierhaltung?« – »Ja, eine unserer größten Verfügbarkeiten.«

Erklärtes Anliegen des Regisseurs ist es, sein Publikum für mehr »Leichtigkeit« bezüglich des häufig verdrängten Themas Tod zu öffnen. Was keineswegs so verstanden werden darf, dass er Nonchalance im Umgang mit dem Großen Schnitter empfiehlt. Sämtliche Charaktere sehnen sich nach einer Rückkehr ins Leben, haben Heimweh und geraten bis zum Schluss immer wieder in heftigen Streit darüber, wer an jenem verhängnisvollen Autounfall die Schuld trägt. Womit plötzlich die Frage verbunden ist, wer zurück nach Bayern darf und wer nicht; um die Motivation der Angestellten in der Zweigstelle zu steigern, wurde nämlich eine Lotterie eingeführt, gewissermaßen als Ersatz für die gestrichene Stelle des Sachbearbeiters für Wunder. Wird Resi also doch noch um den Globus trotten können? Ohne zu verraten, wo ihre Reise enden wird, nur soviel: Zum Schluss sitzt sie in einem Skilift. Und ich glaube kaum, dass ihr Ticket bezahlt wurde.

Bei den Münchener Filmfestspielen im August saß Julius Grimm gemeinsam mit einem jungen Kollegen auf dem Podium, der sein Debüt als Regisseur unter ähnlichen Bedingungen gestemmt hatte (harte Arbeit, karger Lohn) und nun sagte: »Wir hoffen, dass die Art zu drehen ein Ausnahmezustand bleibt.« Julius Grimm stimmte dem heftig nickend zu.

Ich kann darüber nur den Kopf schütteln: Jungs, ihr wisst doch selbst, dass die Abteilung für Wunder wegrationalisiert wurde. Und außerdem: Herzlich willkommen im Klub der Kreativen! Der Ausnahmezustand ist hier der Normalzustand. – Aber immer noch besser als das Nichts.

»Zweigstelle«, Regie: Julius Grimm, Deutschland 2025, 98. Min., Kinostart: heute

Tageszeitung junge Welt am Kiosk

Die besonderen Berichterstattung der Tageszeitung junge Welt ist immer wieder interessant und von hohem Nutzwert für ihre Leserinnen und Leser. Eine gesicherte Verbreitung wollen wir so gut es geht gewährleisten: Digital, aber auch gedruckt. Deswegen liegt in vielen tausend Einzelhandelsgeschäften die Zeitung aus. Überzeugen Sie sich einmal von der Qualität der Printausgabe. 

links & bündig gegen rechte Bünde

Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.