Unabhängigkeit für Québec
Von Jürgen Heiser
In Kanada und seiner frankophonen Provinz Québec im Osten stehen Linke heute wie überall im Westen vor der Aufgabe, den wachsenden Kräften faschistischer Strömungen eine entschlossene antifaschistische Politik entgegenzusetzen. Das war in dem Land, das immer noch zur britischen Krone gehört, vor 55 Jahren völlig anders. Am 5. Oktober 1970 erklärte die Front de libération du Québec (FLQ) in ihrem »Manifesto«, warum ein Kommando der Befreiungsfront am selben Tag den Diplomaten James Cross in Montréal entführt hatte. Er war Handelsattaché der britischen Botschaft und somit Repräsentant der anglokanadischen Herrschaft in Québec.
Die FLQ definierte sich als »eine Gruppe von Arbeitern, die beschlossen haben, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, dass die Menschen in Québec ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen«. Sie strebe »die vollständige Unabhängigkeit für die Québecer an« und möchte, »dass sie in einer freien Gesellschaft vereint sind, die von der Bande räuberischer Haie, den großen Bossen und ihren Handlangern, befreit ist, die Québec zu einem privaten Revier billiger Arbeitskräfte und skrupelloser Ausbeutung gemacht haben«. Zur damaligen Herrschaft von Premierminister Pierre Trudeau und seiner Liberalen Partei über Québec erklärte die FLQ: »Was wir Demokratie in Québec nennen, war immer und ist bis heute eine ›Demokratie‹ der Reichen.«
Die Ereignisse der Oktoberkrise von 1970 waren Ausdruck der Spannungen zwischen der französischsprachigen Bevölkerung und der anglophonen Zentralregierung und ihren Helfershelfern in Québec. Analog zum globalen revolutionären Aufbruch der 1960er Jahre hatte auch die Jugend Québecs begonnen, sich gegen nationale und soziale Unterdrückung aufzulehnen. Sie wollte nicht länger als »ethnische Minderheit« und »lausige Franzosen« diskriminiert werden, wie im Manifest der FLQ zu lesen war.
Minister entführt
Die Bedingungen der FLQ für die Freilassung von Cross: Die Ausreise von 23 politischen Gefangenen nach Kuba oder Algerien, die Einstellung aller Fahndungsmaßnahmen und die Verlesung des »Manifesto« der FLQ im Fernsehen. Trudeau stellte sich zunächst quer, erlaubte aber schließlich dem französischsprachigen Sender CBC mit Rücksicht auf Cros’ Leben, das Manifest am 8. Oktober zu verlesen.
Es fand bei vielen Québecern großen Anklang -- nicht nur wegen der klaren Kritik an ihrer prekären Lage, sondern auch deshalb, weil es Elemente des »Joual« enthielt, dem oft diskriminierten Québecer »Straßenfranzösisch«. Im »Manifesto« hieß es: Die Regierung in Ottawa wende alle möglichen Tricks an, um US-Millionäre dazu zu bringen, »in der ›Belle Province‹, zu investieren«, wo Wälder und Seen schon längst »Eigentum dieser mächtigen Fürsten des 20. Jahrhunderts« seien. Die Zauberworte seien »main d’oeuvre à bon marché« – »billige Arbeitskräfte«.
Die Zuspitzung der Krise erfolgte, weil Trudeau die Freilassung der politischen Gefangenen ablehnte. Daraufhin entführte ein zweites FLQ-Kommando am 10. Oktober Pierre Laporte, den stellvertretenden Premierminister Québecs und Minister für Arbeit und Assimilation. Damit war die Provinzregierung kopflos, denn ihr damals amtierender Premierminister, der Liberale Robert Bourassa, war zu dem Zeitpunkt in den USA.
Durch die direkte Ansprache des FLQ-Manifests an die schlecht bezahlten Werktätigen Québecs flogen der FLQ deren Sympathien zu. Tausende Montréaler demonstrierten für die FLQ, Studierende protestierten gegen die Schließung ihrer Hochschulen und skandierten »FLQ, FLQ«. In Ottawa und Québec City befürchtete die politische Führung weitere Solidaritätsbekundungen, während gleichzeitig im Gesundheitswesen ein großangelegter Streik begann. Bürgerliche Separatisten, Abgeordnete des Provinzparlaments und diverse frankophone Medien plädierten für Verhandlungen mit der FLQ. Trudeau konterte, der Staat müsse sich »gegen die Entstehung einer Parallelmacht wehren«. Québecs früherer Kulturminister, Jean-Noël Tremblay, sah gar in den Aktionen der FLQ »den Beginn einer globalen Revolution mit dem Ziel, eine sozialistische Diktatur zu errichten«.
Was im März 1963 mit Gründung der FLQ als revolutionäre Bewegung von entschlossenen Arbeiterinnen und Arbeitern begann, »die bereit sind, für Unabhängigkeit und Sozialismus in Québec zu sterben« und gegen »alle kolonialen Symbole, die Diskriminierung französischsprachiger Arbeiter« sowie »alle Interessenvertreter des amerikanischen und anglokanadischen Kolonialismus« zu kämpfen, wollten die reaktionären imperialistischen Kräfte in der Oktoberkrise »unter Einsatz aller Mittel« (Trudeau) zerschlagen.
Kriegsrecht verhängt
Folglich setzte Trudeau am frühen Morgen des 16. Oktober die Verfassung außer Kraft und verhängte das Kriegsrecht. Gedrängt hatten ihn dazu auch Jean Drapeau, Bürgermeister von Montréal, und Bourassa, der inzwischen zurückgekehrt war. Die »Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung für die Mehrheit« müsse »Vorrang vor den Bürgerrechten einer Minderheit haben«, erklärten sie vor der Presse. Die von der FLQ geforderte Freilassung der politischen Gefangenen war kein Thema mehr.
Armeepanzer patrouillierten in den Straßen, Infanteristen übernahmen den Personenschutz von Regierungsmitgliedern und sicherten öffentliche Gebäude. Bei großangelegten Razzien durchkämmte die mit Sonderbefugnissen ausgestattete Polizei Häuserblocks und Ortschaften und verhaftete 497 Verdächtige und angebliche Sympathisanten.
Einen Tag nach Verhängung des Kriegsrechts erklärte die FLQ in einem Kommuniqué, sie habe Minister Laporte am Abend des 17. Oktober hingerichtet. »Die Ausbeuter des Volkes von Quebec sollten dies zur Kenntnis nehmen.« Drei Tage später wurde Pierre Laporte bei einem Staatsakt in Montréal beigesetzt.
Am 26. Oktober erhielten die während des Ausnahmezustands Verhafteten zum ersten Mal rechtlichen Beistand. Paul Rose, einer der verhafteten FLQ-Gründer, wurde als »Kidnapper von Pierre Laporte« angeklagt. Im Prozess vor einer Jury aus wohlhabenden Grundbesitzern – Frauen und »Unterprivilegierte« waren ausgeschlossen worden – musste er sich selbst verteidigen. Sein Anwalt war zuvor ebenfalls inhaftiert worden war. Das Urteil gegen Rose lauetete: lebenslänglich.
62 Tage nach seiner Entführung und langen Geheimverhandlungen gewährte die kanadische Regierung James Cross zusammen mit seinen fünf Entführern freies Geleit nach Kuba, von wo der Diplomat über Kanada die Heimreise nach London antrat. Die FLQ-Mitglieder erhielten später in Frankreich politisches Asyl, wo sie einige Jahre unbehelligt leben konnten. Erst in den 1980er Jahren kehrten sie freiwillig nach Québec zurück, stellten sich den Behörden und wurden zu geringen Gefängnisstrafen verurteilt.
Macht eure Revolution selbst!
Werktätige von Québec, holt euch von heute an zurück, was euch gehört; nehmt euch, was euch zusteht. Nur ihr kennt eure Fabriken, eure Maschinen, eure Hotels, eure Universitäten, eure Gewerkschaften. Wartet nicht darauf, dass irgendeine Organisation ein Wunder vollbringt.
Macht eure Revolution selbst, in euren Vierteln, an euren Arbeitsplätzen. Wenn ihr es nicht selbst tut, werden andere Usurpatoren, Technokraten oder sonst jemand die Handvoll Zigarrenraucher, die wir heute kennen, ersetzen, und alles muss von vorne beginnen. Nur ihr seid in der Lage, eine freie Gesellschaft aufzubauen.
Mögen überall in Québec diejenigen, die verächtlich als lausige Franzosen und Alkoholiker bezeichnet werden, einen energischen Kampf gegen diejenigen beginnen, die Freiheit und Gerechtigkeit mundtot gemacht haben. Mögen sie alle professionellen Gauner und Betrüger außer Gefecht setzen: Bankiers, Geschäftsleute, Richter und korrupte politische Geschäftemacher.
Wir sind Arbeiter aus Québec und wir sind bereit, bis zum Äußersten zu gehen. Mit der Hilfe der gesamten Bevölkerung wollen wir diese Sklavengesellschaft durch eine freie Gesellschaft ersetzen, die aus sich selbst heraus und für sich selbst funktioniert, eine Gesellschaft, die offen für die Welt ist. Unser Kampf kann nur siegreich sein. Ein Volk, das erwacht ist, kann nicht lange in Elend und Verachtung gehalten werden.
Lang lebe das freie Québec! Lang leben unsere Genossen, die politischen Gefangenen!
Aus dem FLQ-Manifests vom 5. Oktober 1970, Übersetzung aus dem Englischen: Jürgen Heiser
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