»Wie hoch darf man pokern?«
Von Peter Merg
Plötzlich ging es ganz schnell. Die Öffentlichkeit hatte kaum vom Konflikt in der neuen Weltbühne Notiz genommen, da teilte der linke Schriftsteller Behzad Karim Khani am 3. September über Social Media mit, sein Mitherausgeber Thomas Fasbender scheide aus und werde durch den Historiker Per Leo ersetzt. In einer Pressemitteilung vom 18. August war bereits von »Kontroversen« unter den Herausgebern die Rede, die der neurechte Autor David Engels ausgelöst hatte, dessen Beitrag in Heft vier »wahrscheinlich nicht« erschienen wäre, »wenn alle Informationen vorgelegen hätten«. Sechs Tage später forderte Asmaa El Idrissi, Autorin im selben Heft, zum Boykott auf, solange der vormals für die rechte Wochenzeitung Junge Freiheit und den russischen Sender RT tätig gewesene Fasbender im Amt sei. Das »Experiment« sei vorerst gescheitert, räumt Khani offenbar ohne Bitterkeit in seiner Einleitung zum jüngst erschienenen fünften Heft des monatlich veröffentlichten Magazins ein: »Unsere Annahme war, dass ein konservativer und ein kritischer Geist gemeinsam ein neues Feld finden könnten – ein Niemandsland, frei von der Giftigkeit des deutschen Diskurses. In der bisherigen Herausgeberkonstellation ist uns das nicht gelungen.«
Mit der Freiheit gegen den Krieg«
Fasbender ist mittlerweile zurückgekehrt zur Berliner Zeitung, dem Mutterblatt der wiederbelebten Weltbühne, das gerade nach einem Chefredakteurswechsel einen neuen Rechtsdrall erfährt. Auf die Suche geschickt hatte das widersprüchliche Duo der Verleger Holger Friedrich, Geschäftsführer der Berliner Verlag GmbH. Der Aufschlag mit dem ersten Heft im Mai war so überraschend wie das ablehnende Medienecho laut. Letzteres lag sicherlich am Anspruch des Projekts, wie die Weltbühne der Weimarer Jahre »mit der Freiheit gegen den Krieg« zu kämpfen. »Antimilitarismus, das Bekenntnis zur humanen Vernunft und der Widerstand gegen Heuchelei, Untertanengeist und Obrigkeit« seien heute so nötig wie vor 120 Jahren, so die Herausgeber im ersten Heft. Mehr noch als dieser einigermaßen weite Rahmen, der das Blatt dennoch in Opposition zum deutschen Mainstream positioniert, erklärt sich der Furor, mit dem die Publikation umgehend von den hiesigen Leitmedien befehdet wurde, mit der publizistischen Macht ihres Verlegers.
Holger Friedrich ist Jahrgang 1966, Ostberliner, gelernter Schlosser und war während seines Wehrdiensts für etwas mehr als ein Jahr Inoffizieller Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit. Zu Reichtum gelangte er als IT-Unternehmer, teils in Diensten von SAP, er war zeitweise Berater für McKinsey, verscherbelte dem Berliner Senat das Stadtportal »Berlin Online« und stieg 2019 in den Zeitungsmarkt ein, als er mit seiner Frau Silke Friedrich die Berliner Zeitung kaufte. Friedrich ist »new money«, er fordert das eh schon unter erheblichem Druck stehende klassische Zeitungswesen heraus mit Themen, die in den westdeutschen Leitmedien wenig vorkommen – vor allem ostdeutschen eben. Kurz: Er ist unwillkommene Konkurrenz und derzeit wohl der meistgehasste Mann der deutschen Medienlandschaft. Er hat ein Recht dazu, sich als Nonkonformist zu fühlen, als »renitenter Ossi«.
Was ihn nicht weniger zweischneidig macht. Keiner hat Egon Krenz so öffentlichkeitswirksam dafür gewürdigt, dass 1989 nicht geschossen wurde, wie Friedrich. Zugleich schimpft er auf Sozialismus und »Stasischeiße«. Mal lobt er Putin für die dem Westen 2001 »ausgestreckte Hand«, kurz darauf nennt er ihn wegen des Einmarschs in die Ukraine einen »Verbrecher«. Dann unterzeichnet er Wagenknechts »Friedensmanifest« und feiert in der russischen Botschaft die sowjetischen Befreier. Nebenbei rühmt er Trumps Protektionismus. Seine Zeitung ist nicht weniger widersprüchlich: Im Bundestagswahlkampf fragte man sich bisweilen, ob die Berliner Zeitung mehr die FDP im Parlament halten oder der AfD zur stärksten Fraktion verhelfen wollte. Zugleich konnte Khani in ihr nach den Krawallen der Silvesternacht 2022 den Deutschen die Wut der Jungs von der Sonnenallee erklären. Die Berliner Zeitung bietet auch manchem Linken ein Refugium. Das ist mehr, als man von den meisten deutschen Medien sagen kann. Friedrich mag ein Aufschneider sein, aber er hat auch was zum Aufschneiden.
Friedrich ist die treibende Kraft hinter der Neugründung der Weltbühne. Er formte das ungleiche Duo aus Khani und Fasbender, er stellt die Ressourcen des Berliner Verlages, er setzte sich mit den publizistischen Erben der Weltbühne von Ossietzky und Das Blättchen ins Benehmen und mit den juristischen Erben von Siegfried Jacobsohn vor Gericht auseinander. Er verfolgt sein Ansinnen durchaus rabiat: Friedrich hat die Löschung der Markenrechte wegen Nichtbenutzung beantragt, die der in Boston lebende Börsenhändler Nicholas Jacobsohn hält. Ein Versuch, den Enkel des Weltbühnen-Gründers einzubinden, war zuvor gescheitert. Da sei der »amerikanische Ostküsten-Geldadel« »von einem Ossi an die Wand gespielt« worden, erklärte Friedrich in der Folge. Auch wenn er jeden Antisemitismusvorwurf entrüstet von sich weist: Friedrich ist zu klug, um nicht zu wissen, welche Klaviatur er da zum Klingen brachte.
Friedrichs Wahl ist nicht zufällig auf die Weltbühne gefallen. Es gibt wohl kaum ein anderes Blatt mit ähnlichem Renommee. 1905 von dem Theaterenthusiasten Jacobsohn als Schaubühne gegründet, entwickelte sich die Zeitschrift ab 1913, dem Jahr, in dem Kurt Tucholskys Mitarbeit begann, zum führenden Organ der gemäßigten Linken. Die große Zeit des Blatts kam dann in der Weimarer Republik. Prägend für die Zeitschrift wurde ein offensiver Antimilitarismus (»Soldaten sind Mörder«). Jacobsohn wie auch seine Nachfolger Tucholsky und Carl von Ossietzky verfolgten eine klare Linie hinsichtlich der geheimen Aufrüstungsbestrebungen der deutschen Militärs und des aufkommenden Faschismus.
In der Tradition
Wenig beachtet – und auffälligerweise auch von Daniela Dahn in ihrem historischen Überblicksartikel zur Blattgeschichte im ersten Heft ausgespart – ist das Kapitel, das auf die Weimarer Republik folgte. Den Sieg der Nazis und ein Verbot ahnend, hatte man bereits im Herbst 1932 in Wien einen Ableger gegründet, der bald nach der Übersiedlung ins Prager Exil den Titel Die Neue Weltbühne trug. Geleitet wurde diese von William S. Schlamm. Da aber Schlamm kein glückliches Händchen hatte und die Neue Weltbühne zuwenig Gewinne abwarf, kam es zum Streit mit der Jacobsohn-Witwe Edith Jacobson. Die war im Schweizer Exil auf die Einnahmen angewiesen. Das nutzte der Journalist Hermann Budzislawski für einen Coup: Anfang 1934 stellte er sich dem verdutzten Schlamm als Treuhänder und Generalbevollmächtigter vor und verlangte die sofortige Übergabe der Redaktion. Der Streit hatte auch einen politischen Hintergrund. Der Trotzkist Schlamm, der sich später zum beinharten Konservativen wandelte, verbreitete später, Budzislawski habe im Auftrag der KPD gehandelt – was nachweislich nicht stimmt. Was aber stimmt, ist, dass Budzislawski die Neue Weltbühne sofort auf Volksfrontkurs brachte. Um die Jahreswende 1935/36 wäre übrigens auch Budzislawski beinahe einem Putschversuch durch den Journalisten Heinz Pol zum Opfer gefallen. Man agiert im Hause Friedrich mit der unfreundlichen Übernahme der Weltbühne also durchaus im Rahmen der Tradition.
Doch wie groß ist Friedrichs Einfluss auf die Blattgestaltung? Den ersten Heften nach zu urteilen, greift er nicht direkt ein. Sein Telefonbuch wird geholfen haben, Leute wie Gregor Gysi, Michael Brie oder Ralf Stegner zu gewinnen, seine Brieftasche beim Akquirieren von Slavoj Žižek oder Ai Weiwei. In diesen wie jenen Fällen blieben die Beiträge kaum im Gedächtnis. Überhaupt wurde die Frage, »wie hoch man mit dem Erbe der Weltbühne pokern darf« (Khani, Heft fünf), in der kurzen Zeit von Fasbender/Khani recht disparat beantwortet. Der wohl interessanteste Beitrag des ersten Heftes war auch der am meisten wahrgenommene. Landauf, landab wurde Deborah Feldmans Text zum Skandal aufgeblasen: In ihrem leise Töne anschlagenden Essay über »Die deutsche Lebenslüge« hatte die jüdische US-amerikanische Schriftstellerin am Beispiel des Chefredakteurs der Jüdischen Allgemeinen problematisiert, wie jüdische Identität hierzulande diskursstrategisch eingesetzt wird, etwa um Kritiker der israelischen Regierung verächtlich zu machen. Dabei hatte sie nicht, wie oft behauptet wurde, Philipp Peyman Engel entlarvt, seine Herkunft aus der Bahaigemeinde verschleiert zu haben, sondern die Mechanismen beschrieben, durch die ein Mensch wie Engel sich genötigt sieht, seine Biographie entsprechend auszuleuchten, um als politisches Werkzeug dienen zu können. Das rührte in der Tat an ein tabuisiertes Element des deutschen Diskurses, in dem gern mit »Alibijuden« (Hendryk M. Broder, selbst einer der Rechten) operiert wird, um politische Positionen zu legitimieren.
Neben diesem in jeder Hinsicht diskutablen Text, der wohl am stärksten dem Anspruch gerecht wird, ein »Säurebad« zu sein für die »rechtschaffenen Positionen« (Einleitung Heft vier), las man bislang Bedenkenswertes, Bedenkliches und Belangloses. Für letzteres waren zumeist die »big names« verantwortlich. Für zweiteres Leute wie der Philosoph Michael Andrick, der in Heft eins seinen abgestandenen Existentialismus darbot. In Erinnerung bleiben Beiträge wie Anne Waaks kurzer Abriss, warum Kinderkriegen für Frauen gefährlich ist; Mahamdou Ould Slahis Skizze des Statuswechsels vom Verdächtigen zum Menschen, der eine Einbürgerung bedeuten kann; Sanaz Amiripours Beschreibung der Gefühlswelt einer, deren Familie gerade bombardiert wird. Das einzige spezifische Thema, das in allen bisherigen Ausgaben präsent ist, ist der Krieg in Nahost. Dazwischen: Skurrile Widmungen an »Mutti« Merkel bis Pyonen und Politlyrik wechselnder Güte. Für ein »Magazin für Politik – Kunst – Wirtschaft« erstaunlich wenig Kunst und Wirtschaft. Man merkte: Hier suchen sich noch welche.
Was sich vielleicht auch in den zunächst auffällig geringen Ambitionen der Herausgeber ausdrückte, dem neuen Blatt durch eigene Beiträge ein Gepräge zu geben. Im ersten Heft erschienen von ihnen zwei Marginalien über denselben gemeinsamen Abend im Deutschen Designmuseum. Bis Heft vier mussten die Leser auf neue Texte der beiden warten, von den knappen Einleitungen abgesehen. Ungleicher hätten die Aufsätze kaum ausfallen können. Wo der 68jährige Fasbender in einem wabernden Lamento Sheldon Wolin und Rainer Langhans gegen einen »repressionsfreien Totalitarismus« ins Felde führt, der atomisierende Bewegungen »von Emanzipation bis Selbstoptimierung, von Regenbogen bis Identitätspolitik« hege, um ja kein kollektives Bewusstsein aufkommen zu lassen – als hätten wir im Dreischritt Corona, Ukraine, Gaza hierzulande nicht reichlich rabiate Repression erfahren –, formuliert der 20 Jahre jüngere Khani eine so spezifische wie umfassende Absage an den deutschen Kulturbetrieb.
Keine Betriebsnudel
Behzad Karim Khani ist in Teheran geboren. Die Eltern flüchteten mit ihm nach Westdeutschland, da war er neun. Er wuchs nun in einer Bochumer Hochhaussiedlung auf. Die Stationen: Fünfeinhalb Jahre auf Bewährung wegen Drogendelikten und Körperverletzung, aber auch Abitur, Studium, Umzug nach Westberlin. Das Land hat ihn immer spüren lassen, dass er nicht dazugehört. Er lernte, die heiße Wut kalt werden zu lassen und für sich zu nutzen. Erst lief seine Lugosi-Bar in Kreuzberg, dann die Literaturkarriere. Sein Debütroman »Hund, Wolf, Schakal« über zwei Neuköllner Brüder und zwei Wege, in Deutschland vor die Hunde zu gehen, wurde 2022 zum Bestseller. 2024 erschien sein zweiter Roman »Als wir Schwäne waren« über eine Asylbewerberjugend in der Bochumer Westplatte, den Umgang mit dem »Geist, der nach Stalingrad marschiert« und die Unmöglichkeit von Heimat. Zentral für beide Bücher wie in Khanis Publizistik ist der Begriff der Würde. Die Selbstachtung als Selbstbehauptung, der Armen, der Geschlagenen, der Ausgeschlossenen. Khani ist eine der wenigen wirklich erfreulichen Erscheinungen der deutschen Literaturbranche. Was viel mit der Distanz zu tun hat, die er ihr gegenüber wahrt. Er mag ihren Stallgeruch nicht.
Khani ist olfaktorisch empfindlich. In seinem gebrauchten 1er BMW fuhr er wochenlang mit einem Glas gemahlenem Kaffee umher, um den Duftbaumgestank des Vorbesitzers loszuwerden. Sein Text »Otherwise, Ordnung« ist der Kaffee, um den Mief des Literaturbetriebes loszuwerden. In ihm stellt er sich eine von Lana Bastašić aufgeworfene Frage: »Wie schreiben für ein Publikum, das nicht nur bereit ist, einen Genozid zu ignorieren, sondern es tatsächlich tut?« Er skizziert, wie der S.-Fischer-Verlag von ihm forderte, seine geschäftsschädigenden Positionen zum Nahostkonflikt nicht mehr so deutlich zu vertreten – woraus Khani die Konsequenz zog. Die Branche bestehe aus »strukturell Gelangweilten und inhaltlich Langweilenden«, die gern beides sein wollten, »das Establishment und das Antiestablishment. Kultur und Gegenkultur«. Er schreibt nun an einem Jugendbuch: »Für Erwachsene schreibe ich erst wieder, wenn dieses Land nicht mehr weiß ist.«
Obwohl Khani nicht müde wird zu betonen, dass Deutschland glücklicherweise im Begriff ist, sich im Sarrazinschen Sinne »abzuschaffen«, ist »weiß« hier nicht stumpf ethnisch gedacht, sondern politisch und ideologisch. Seinen Universalismus hat Khani nicht aufgegeben, sondern radikalisiert. Er warnt seine Leser: Wer keine Lust hat, sich von der Weltbühne erschüttern zu lassen, soll draußen bleiben.
Gradliniger Humanismus
Seit Beginn des Gazakriegs vertritt Khani seinen geradlinigen Humanismus immer offensiver. Konsequenz ist auch hier der Schlüsselbegriff. »Radikal für Frieden und Gerechtigkeit« (Khani im Gespräch mit der Berliner Zeitung, Oktober 2024) sein wollen einige, aber dafür streiten? Khani hat kein Problem mit Streit. Er sucht ihn.
Über die Härte der Bandagen entscheiden seine Gegner. Man kann mit ihm sachlich diskutieren. Das Gespräch, das Khani vor einem Jahr im Literaturhaus Berlin mit dem Pädagogen Meron Mendel und der Politikwissenschaftlerin Saba-Nur Cheema über »7. Oktober, Gazakrieg und die deutsche Debatte« führte, war in seiner intellektuellen Sensibilität und Seriosität vorbildlich. Wer ihm aber dumm kommt, kassiert. Dabei kann es durchaus untergriffig werden, wie die Süddeutsche Zeitung erschrocken notierte. Khani führt solche Auseinandersetzungen wie ein Rapbattle. Meistens trifft es die Richtigen. Kaum satisfaktionsfähige Gestalten wie Sascha Lobo oder Maxim Biller zerlegt er in der Berliner Zeitung oder im anarchokommunistischen Podcast 99 zu 1 so beiläufig wie lustvoll. Im jüngsten Heft der Weltbühne widmet er sich dem Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk. Man hat fachlich versiertere Grundsatzkritiken an dessen Verzerrungen gelesen, lustigere wohl kaum. Mit seiner in Heft eins formulierten Handlungsmaxime »no easy targets« nimmt er es zum Glück nicht so genau.
Der Schuss ideologiekritischer Polemik tut der Zeitschrift gut, wie generell die jüngste Ausgabe als bisher beste gelten muss. Weniger große Namen, kaum kuriose Konservatismen, dafür mehr Perspektiven, die man in dieser Klarheit andernorts suchen muss. Etwa Mithu Sanyals Ehrenrettung der »gefährlichen Wissenschaft« der Postcolonial Studies, die freilich eher eine der antikolonialen Theorien ist. Was sie nicht weniger notwendig macht, richtet sich hierzulande die Kampagne gegen den »Postkolonialismus« doch nicht gegen dessen antiuniversalistische Schwundstufen, sondern gegen das Präfix »Post-«. Ob der Antisemitismus eine Extremform des modernen Rassismus darstellt oder von eigener Qualität ist, darüber kann man streiten. Darüber, dass der historische Vergleich von Diskriminierungs- und Entmenschlichungsmustern fruchtbar ist, kaum.
Auch die Ökonomie spielt nun eine Rolle. Marie-Charlotte Dapoigny erhellt in ihrem stark literarisierten Beitrag »Drop the Link« die Arbeitsbedingungen einer prekarisierten, großstädtischen Boheme, die über die Plattform Only Fans inszenierte Intimität feilbietet, immer zwischen Burnout und Abokündigungen. Angenehm ist, wie Dapoigny vermeidet, in eines der Extreme der Sexarbeit-Händel zu kippen. Unangenehm, dass man nun Fasbenders Sorgen besser versteht. Hatte nicht auch Engels prophezeit, wir seien nur zwei Entwicklungssprünge in KI und Robotik davon entfernt, dass auf ihr schutzloses Ich reduzierte Menschmonaden künftig lieber mit Humanoiden ins Bett steigen als sich auf andere einzulassen? Womit nicht nur der endgültige Untergang von Genderpanzern und Kernfamilie dräute, sondern auch von Dapoignys Digitaldienstleistern. Den Blick ins Volkswirtschaftliche weitet der Politikwissenschaftler Shir Hever in seinem Artikel »Israels Zombieökonomie«, der konzentriert belegt, wie Israels gegenwärtiger Krieg im Begriff ist, seine wirtschaftlichen Grundlagen zu ruinieren.
Ein Ausreißer
Doch auch hier gibt es einen Ausreißer nach unten, ein Manifest des früheren jW-Redakteurs Harald Neuber, der den Lesern noch als Chefredakteur des Onlineportals Telepolis vorgestellt wird, inzwischen aber Nachrichtenchef der Berliner Zeitung ist. Neuber singt das Hohelied auf einen »diskursfähigen«, sauberen Journalismus, der »durch Sprache, Aufklärung und Kritik ein Minimum an Verständigung in einer polarisierten Gesellschaft« ermöglichte. Ihn soll es irgendwann gegeben haben – in der alten Bundesrepublik. Jedenfalls presst Neuber als Positivbeispiele ausgerechnet Günter Wallraff, Alice Schwarzer und Rudolf Augstein mit Egon Erwin Kisch in eine Spalte. Ausgerechnet Augstein, in dessen Spiegel 1949 die Exkulpationsserie »Die Nacht der langen Messer fand nicht statt« des ersten Gestapochefs Rudolf Diels erschien, also des Mannes, der noch in der Nacht des Reichstagsbrands Hunderte Nazigegner nach fertigen Proskriptionslisten verhaften ließ – darunter einen gewissen Carl von Ossietzky. Über den Reichstagsbrand, der den Vorwand für das seinerzeitige Verbot der Weltbühne geliefert hatte, ließ Augstein in einer anderen Spiegel-Serie verbreiten, er sei allein dem niederländischen Rätekommunisten Marinus van der Lubbe anzulasten – eine These, die sich bis heute großer Beliebtheit erfreut. Dass Neuber die Mär von der paradiesischen Bonner Republik weiterträgt, als der Kapitalismus noch gebändigt und die Presse noch auf Wahrheitssuche war, ist schlimm genug. Aber Geschichtsrevisionisten vom Schlage eines Augstein als Vorbilder für aufrechten Journalismus auszugeben?
Nun, vielleicht war der Beitrag Erbmasse. Mit dem von Daniela Dahn in Aussicht gestellten Erfahrungsaustausch mit Ossietzky und Blättchen, die derlei historisches Wissen konservieren, scheint es bisweilen noch zu hapern. Wie sehr die neue Weltbühne von einer solchen Zusammenarbeit profitieren kann, beweist der Aufsatz von Heidemarie Hecht. Er ist den frühen Jahren Siegfried Jacobsohns gewidmet und macht anschaulich, wie dieser mit Schillerscher Programmatik die Schaubühne aus der Taufe hebt und nach dem Grauen des Ersten Weltkrieges zur pazifistischen Weltbühne entwickelt – dem berühmten Blatt der linksrepublikanischen Intelligenz auf verlorenem Posten, dessen Erbe Khani und Leo nun angetreten haben.
Man muss diese im Vergleich ausgesprochen starke Ausgabe wohl in besonderem Maße Behzad Karim Khani zurechnen, hat Per Leo doch kurz nach seinem Antritt in einem Gespräch mit dem Deutschlandfunk betont, bis Jahresende lediglich kommissarisch im Amt zu sein, da er noch an einem umfangreichen Romanprojekt arbeite. Erst dann werde er wirklich gestaltend mitarbeiten können. Was zugleich verdeutlicht: Die Weltbühne ist nicht als kurzzeitiges Experiment gedacht.
Repräsentationslücke
Der neue Mann an Khanis Seite ist Jahrgang 1972. Der Schriftsteller und Historiker fand vor elf Jahren mit dem autobiographischen Roman »Flut und Boden. Roman einer Familie« erstmals die Beachtung der Feuilletons. Leo seziert darin auch die deutsche »Welt des kommerzialisierten Sündenstolzes«, wie die Zeit bemerkte, ein Motiv, das Leos weiteres Schaffen prägt – vom auf der Linken viel bespotteten, aber wenig ernsthaft diskutierten »Leitfaden« »Mit Rechten reden« (mit Maximilian Steinbeis und Daniel-Pascal Zorn) bis zur jüngeren Essayistik, vornehmlich im Merkur. Mit Khani verbindet ihn eine langjährige Freundschaft, die zugleich intellektuell anregend ist, wie ein langer Brief an ihn belegt, den Leo in seinen Sammelband »Vorletzte Lockerung« von 2023 aufgenommen hat. Bereits in diesem ist das deutsche Verhältnis zum Nahostkonflikt Gegenstand. Ihm werden so eingehende wie lesenswerte historische Erwägungen gewidmet, auch wenn Leos Plädoyer für einen aufgeklärten, fortschrittlichen »Patriotismus« Khani ebenso wenig eingeleuchtet haben dürfte wie antinational imprägnierten Kommunisten.
Im zentralen, derzeit die deutschen Gemüter spaltenden Thema sind sie sich einig: Die von der Bundesrepublik gedeckten Verbrechen Israels an der palästinensischen Zivilbevölkerung fordern deutschen Intellektuellen eine Positionierung ab. Als Khani gegen Ende 2024 als einer der ersten den PEN Berlin verließ, weil er sich um eine solche Standortbestimmung herummogele, folgte ihm Leo wenige Monate später geräuschvoll nach. Es gehört zum Elend unserer Zeit, dass ihre zentralen intellektuellen Streitfragen zumeist außenpolitische sind. Hinsichtlich der Konfrontation mit Russland und China ist Leo deutlich weniger entschieden, als es Fasbender war, der eine Wiederannäherung auf Augenhöhe favorisiert. So plädierte Leo etwa 2023 im Philosophie Magazin im Lichte eines drohenden Atomkrieges zwar für Verhandlungen, um den Ukraine-Krieg zu beenden, monierte aber auch, USA, NATO und EU hätten 2014 nicht wirksam genug auf die »Teilinvasion« durch Russland reagiert. Khanis Polemik gegen die »deutsche Schreibtischfeigheit« und ihren »Glauben an den gerechten Krieg, den man nicht selbst kämpfen muss« in einem Gespräch mit dem Freitag (Mai 2025) ist da deutlich inkompatibler mit dem deutschen Kriegsertüchtigungsprogramm. Auch das neue Herausgeberduo wird noch einiges zu diskutieren haben.
Weit realer als etwaige Konflikte sind die Potentiale der künftigen Zusammenarbeit. So erkennt Leo im Gespräch mit dem Deutschlandfunk eine »Repräsentationslücke«. Auf die vielversprechenden Ansätze der ersten Ausgaben gelte es aufzubauen, um klug kuratierte Diskussionen zu ermöglichen, die im publizistischen Mainstream nicht stattfinden. Der Brückenschlag zwischen links sozialisierten migrantischen Intellektuellen und linksliberalen deutschen Kreisen verspricht fruchtbar zu sein. Dieses Potential zu erschließen – es wäre eine Weltbühne wert.
Peter Merg leitet das Ressort Feuilleton der jungen Welt.
Die Weltbühne. Magazin für Politik – Kunst – Wirtschaft. Nummer fünf, September 2025, 50 Seiten, elf Euro
Tageszeitung junge Welt am Kiosk
Die besondere Berichterstattung der Tageszeitung junge Welt ist immer wieder interessant und von hohem Nutzwert für ihre Leserinnen und Leser. Eine gesicherte Verbreitung wollen wir so gut es geht gewährleisten: Digital, aber auch gedruckt. Deswegen liegt in vielen tausend Einzelhandelsgeschäften die Zeitung aus. Überzeugen Sie sich einmal von der Qualität der Printausgabe.
links & bündig gegen rechte Bünde
Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.
Ähnliche:
Galerie der abseitigen Künste16.09.2025Mehr als nur Erinnerung
IMAGO/PEMAX27.12.2024Medialer Kleinkrieg
Bundesarchiv, B 145 Bild-P046285 / Weinrother, Carl / CC-BY-SA 3.007.11.2019»Goworit Moskwa«