»Er ist der legitime Sohn des Imperialismus«
Von Hansgeorg Hermann
Ihr Buch zum Faschismus hat in seiner italienischen und deutschen Fassung unterschiedliche Titel: Aus dem italienischen »Il fascismo non è mai morto« – der Faschismus ist niemals tot, mithin ziemlich lebendig – machte Papy-Rossa auf deutsch »Der untote Faschismus«. Das wäre dann sozusagen einer in der Schwebe zwischen Leben und Tod, sind Sie damit zufrieden?
Einen weiteren Titel hat der französische Übersetzer der Éditions Delga angeboten: »Le fascisme tel qu’en lui-même« (Der Faschismus als solcher). Meiner Meinung nach wollte der Übersetzer – er ist übrigens gleichzeitig ein ernstzunehmender politischer Aktivist – die gleiche Idee vermitteln wie Umberto Eco im Jahr 1995, als der von einem »nachhaltig« existierenden »Urfaschismus« sprach. In der Tat ist der mörderische Rassismus – gegebenenfalls genozidal wie in Gaza –, nach wie vor der Kern des Faschismus. Niemand kann jene Epoche vergessen haben, während der das Apartheidregime in Südafrika im Zenit seiner Macht stand und jegliche Verurteilung seiner Gewaltherrschaft bei den Vereinten Nationen von den USA und deren Satelliten blockiert wurde. Der Faschismus in seinem Kern – der Urfaschismus – ist der legitime Sohn des Imperialismus.
Begriffe und Definitionen spielen in der politischen Sprache eine entscheidende Rolle. Besonders seit dem Zerfall der Sowjetunion wird in Europa aus dem »Faschismus« der »Populismus« und aus dem harten »Reaktionär« der gemütliche »Konservative«. Was steckt dahinter, wenn in der verbalen politischen Auseinandersetzung in den USA, in Deutschland, Italien oder Frankreich der Begriff »Faschismus« – natürlich auch in den sogenannten Leitmedien – vermieden wird? Übrigens selbst dann, wenn die Rede ist von Marine Le Pen, Viktor Orbán oder – wie Sie in Ihrem Buch einigermaßen zornig feststellen – von einem Churchill, der Mussolini bewunderte …
Ich habe bisweilen angeregt, den heuchlerischen Begriff »Populismus« zu attackieren und diese Vokabel konsequenterweise nicht mehr zu benutzen. Ein Wort übrigens, das im 19. Jahrhundert, sei es in Russland oder in den USA, eine völlig andere Bedeutung hatte. Heute greifen vor allem pseudodemokratische Eliten auf den Begriff zurück – Emmanuel Macron, Elly Schlein, die Vorsitzende des linksliberalen italienischen Partito Democratico, und Konsorten. Diese Damen und Herren haben den Kontakt zum Volk, zum »Populus«, verloren und dieses Feld überall in Europa und Nordamerika den nationalistischen Bewegungen überlassen.
Wir beobachten, wie sich in der westlichen Hemisphäre die sogenannten konservativen Parteien der extremen Rechten annähern oder sogar mit ihr verschmelzen, so zum Beispiel ein Teil von Les Républicains in Frankreich oder der Nea Dimokratia in Griechenland. Selbst das bürgerliche deutsche Nachrichtenmagazin Der Spiegel fragte neulich: »Ist 1933 wieder möglich?«
Der Spiegel deutet mit dieser Frage auf eine eventuelle Allianz von Friedrich Merz und Alice Weidel hin. Meiner Meinung nach ist aber eine solche Verbindung unwahrscheinlich: Die Differenzen sind vor allem auf der Ebene der internationalen Politik zu groß. Die Europäische Union verschärft ihren aggressiven Kurs gegen Russland.
Wie Sie in Ihrem Buch beschreiben, war die Sympathie für den Faschismus immer präsent, ob in den USA oder in Europa, ob nach dem Ersten Weltkrieg oder während des Kalten Krieges. Beobachten wir nun seit einigen Jahren einen aufkommenden Faschismus made in USA? Wir sehen, wie Donald Trump das Programm der reaktionären Heritage Foundation »Project 2025« Punkt für Punkt umsetzt: den rassistischen Herrschaftsanspruch der weißen Elite, die »Wiedereroberung« des Landes – ganz so, wie es auch der französische Faschist Éric Zemmour fordert. Wir sehen die juristische Immunität des US-Präsidenten, die Bedrohung Oppositioneller, den Angriff auf linke Intellektuelle und die Wissenschaft, die Verhaftung und Deportation von Menschen, die vor Krieg und Hunger geflüchtet sind …
Bertolt Brecht hat das beispielhaft in seinem »Arbeitsjournal« mit Eintrag vom 7. Februar 1942 beschrieben: »Ein amerikanischer Faschismus würde (…) demokratisch in amerikanischer Fasson sein.« Zur Stunde sehen wir in der brennenden Migrationsfrage kaum einen Unterschied zwischen Macron und Le Pen, zwischen Trump und Keir Starmer, zwischen der spanischen Rechtspartei Vox und Premierminister Pedro Sánchez, zwischen Giorgia Meloni und dem ehemaligen Innenminister vom Partito Democratico Marco Minniti, zwischen Alice Weidel und Sahra Wagenknecht.
Über den Begriff Faschismus nachzudenken, führt auch zu dem italienischen Soziologen und Elitenforscher Vilfredo Pareto, der zwischen 1848 und 1923 lebte. Der deutsch-italienische Politikwissenschaftler Johannes Agnoli nannte ihn einen »Marx der Bourgeoisie«, dem es auf ein streng elitär-autoritäres System ankam, das mit der Ornamentik parlamentarisch-demokratischer Einrichtungen und Gepflogenheiten bloß ausstaffiert bleiben sollte. Sehen wir heute die Realisierung dessen, was Pareto, ein früher Ideengeber Mussolinis und, wie Churchill, ein Bewunderer des Duce, sich erträumte?
In gewisser Weise sagte Pareto die Wahrheit. Überall im Westen hält die großbürgerliche Elite die Macht in ihren Händen. Die Komödie der freien Wahl ist ein Karneval, bei dem restriktive Wahlgesetze das Resultat von vorneherein festschreiben. Fügen wir hinzu, dass die Europäische Kommission große Macht besitzt, während sich die nationalen Parlamente um Bagatellen zu kümmern haben. Parlamentsdebatten sind zu permanenten Talkshows verkümmert. »Der Westen«, sagte Churchill bei seiner Ansprache am Westminster College im US-amerikanischen Fulton am 5. März 1946, »das ist die englisch sprechende Welt«. Eine perfekt rassistische Formel. Aber die ehemaligen »Subjekte« sind nicht mehr bereit zu gehorchen.
Welche Rolle spielt die Sozialdemokratie vor dem Hintergrund der »Rückeroberung« durch die reaktionäre Bourgeoisie? In der deutschen Übersetzung Ihres Buches sprechen Sie von einem »wahnhaften Mythos der Regierungsfähigkeit«, dem die Sozialdemokraten anhängen.
Die Sozialdemokratie ist ein historisches Phänomen, absolut europäisch, und gehört der Vergangenheit an. Wie heißt es auf lateinisch? »Parce sepulto«: habe Nachsicht mit den Verstorbenen.
Eine letzte Frage zu Faschismus und Religion beziehungsweise zu Faschismus und Kirche: In Frankreich verfügen die Katholiken, in Deutschland beide christliche konfessionelle Strömungen – Katholiken und Protestanten – immer noch über Einfluss. In Griechenland ist die orthodoxe Kirche immer noch durch die Verfassung geschützt und hatte seinerzeit große Sympathien für die Militärdiktatur. Wie ist diesem autoritären Kartell zu begegnen?
Der Faschismus des Bankensystems, selbstredend demokratisch drapiert, braucht die Kirchen nicht mehr: Sein Vehikel ist die omnipräsente Publicity – TV, Radio, Plakate, Internet und so weiter.
Luciano Canfora, geboren 1942 in Bari, ist Professor für klassische Philologie. In seinem jüngsten Buch »Il fascismo non è mai morto« hat er die Geschichte des Faschismus von Benito Mussolini und dessen Bewunderer Winston Churchill über Spaniens Caudillo Francisco Franco und Portugals Diktator António de Oliveira Salazar bis hin zu Italiens Giorgia Meloni aufgeblättert. Die Ministerpräsidentin seines Heimatlandes hatte ihn im vergangenen Jahr vor ein Strafgericht in Bari gezerrt, weil er sie »Neonazi im Herzen« genannt hatte. Bevor ein Urteil gesprochen werden konnte, zog Meloni ihre Klage zurück.
In Deutschland wurde Canfora 2005 bekannt, als sich der Verlag C. H. Beck weigerte, sein Buch »Eine kurze Geschichte der Demokratie« zu veröffentlichen, das im Rahmen der vom französischen Historiker Jacques Le Goff herausgegebenen internationalen Reihe »Europa bauen« erscheinen sollte. Canfora hatte in dem Band unter anderem die in den fünfziger Jahren stark von Altnazis geprägte Politik des ersten westdeutschen Regierungschefs Konrad Adenauer hinreichend kritisch beurteilt. Der Kölner Verlag Papy-Rossa, der damals einsprang, ist seither Canforas deutscher Partner.
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