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Aus: Ausgabe vom 16.09.2025, Seite 3 / Schwerpunkt
Japan

Abtritt des Außenseiters

Japans Premierminister Ishiba Shigeru ist zurückgetreten. Seine Reformpläne scheiterten an seiner eigenen Partei
Von Igor Kusar, Tokio
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Das war’s. Premier Ishiba Shigeru verkündet seinen Rücktritt und geht (Tokio, 7.9.2025)

Der große Außenseiter in der japanischen Dauerregierungspartei, der Liberaldemokratischen Partei (LDP), tritt ab. Premierminister Ishiba Shigeru hat am 7. September nach nur knapp einjähriger Amtszeit seinen Rücktritt bekanntgegeben – nur einen Tag, bevor die Partei über sein politisches Schicksal abstimmen wollte.

Während Ishibas Amtszeit fanden Wahlen zum japanischen Unterhaus und Oberhaus statt. Beide Male ging die LDP mit fliegenden Fahnen unter und verlor zusammen mit dem Juniorpartner Komeito die Mehrheit in beiden Häusern, was sie zu Deals mit den Oppositionsparteien zwang. So war es denn nur eine Frage der Zeit, bis Ishiba den Posten räumen musste, zumal der rechte Parteiflügel ihn mächtig unter Druck gesetzt hatte. Nachdem der Zolldeal mit den USA besiegelt worden war, schien für ihn der richtige Moment gekommen zu sein.

Der 68jährige reformorientierte Zentrist, der bereits 1986 Parlamentarier geworden war, verfolgte den Rechtsrutsch seiner Partei der letzten dreißig Jahre von der Seitenlinie aus. Allerdings stellte er sich nicht gegen die schleichende Remilitarisierung des Landes, sondern prangerte vor allem die neoliberale Wirtschaftspolitik sowie die undurchsichtigen Entscheidungswege und die Cliquenstruktur innerhalb der LDP an. Mehrmals diente er als Minister in verschiedenen Kabinetten und versuchte, eigene Akzente zu setzen, etwa in der Landwirtschaftspolitik. Doch es gelang ihm kaum, seinem großen Gegenspieler, dem langjährigen Ministerpräsidenten und Falken Abe Shinzo Paroli zu bieten.

Fünfmal kandidierte er parteiintern für den Vorsitz, im vergangenen September klappte es endlich. Die Partei stand nach Skandalen um Schmiergeldkassen und problematischen Verbindungen zur in Südkorea beheimateten Vereinigungskirche an einem Tiefpunkt. Der in der Bevölkerung beliebte Ishiba schien der ideale Mann zu sein, sie wieder attraktiver zu machen. Und er machte große Versprechungen, wollte die LDP von Hinterzimmerdeals befreien, von der Korruption säubern und für mehr soziale Umverteilung wie auch Respekt vor Diversität sorgen.

Doch bereits im ersten Monat schien er einzuknicken. Zu vorsichtig ging er sein Amt an, schien Angst zu haben, die Partei könnte bei größeren Reformvorhaben auseinanderbrechen. Seine Machtbasis ist klein, bei den Getreuen des 2022 ermordeten Abe und bei dem anderen großen Schwergewicht der japanischen Politik, Aso Taro, ist er verhasst. Dieser Umstand schien ihn zu lähmen. Das abschließende Urteil über seine Amtszeit vom Altmeister der japanischen Oppositionspolitik, dem 83jährigen Ozawa Ichiro, fiel denn auch niederschmetternd aus: Ishiba habe sein halbes Leben lang die LDP kritisiert. Doch als er die Möglichkeit bekam, sie zu reformieren, habe er versagt.

Natürlich kann man die Altlasten, die die LDP immer noch mit sich herumschleppt, nicht Ishiba ankreiden. Doch die Aussortierung in Skandale verwickelter Parlamentarier war unzureichend, die Wählerschaft wurde verprellt. Und beim zweiten großen Thema, das die politischen Debatten bestimmte, dem wegen der Inflation teurer gewordenen Alltag, schienen die Oppositionsparteien die besseren Lösungen zu haben: durch Konsumsteuersenkungen wollten sie die Kaufkraft der Japaner stärken. Die LDP, die der Lobby rund um das mächtige Finanzministerium angehört, sprach sich gegen Steuersenkungen aus. Zwar zeigen neueste Zahlen, dass sich die japanische Wirtschaft im Aufschwung befindet und die Reallöhne steigen, doch diese erfreulichen Entwicklungen kamen für Ishiba zu spät – der politische Scherbenhaufen konnte so schnell nicht aufgefegt werden.

Auf anderen Gebieten fällt Ishibas Bilanz noch magerer aus. Vor seiner Wahl zum Premier war er ein strammer Befürworter der gleichgeschlechtlichen Ehe und der Möglichkeit, unterschiedliche Ehenamen zu führen. Vor allem letzteres gilt im Kampf um die soziale Erneuerung als wichtigstes symbolisches Schlachtfeld. Die Konservativen messen dem Ehenamen große Bedeutung zu, dessen Vereinheitlichung die familiären Bande symbolisiert. Unter Ishibas Ägide stockte bei beiden Themen die Gesetzesausarbeitung – seine früheren Kampfgefährten zeigten sich tief enttäuscht.

Besser sieht aus, was der Premier in der Außenpolitik vorweisen kann, die man eigentlich als Ishibas Schwäche bezeichnet hatte. Die Beziehungen zu China und Südkorea haben sich verbessert – Tokio war für den neuen südkoreanischen Präsidenten Lee Jae Myung im vergangenen Monat sogar das Ziel seiner ersten Auslandsreise. Auch bei Ishibas Besuch bei Donald Trump in Washington im vergangenen Februar kam es nicht zum befürchteten Eklat – der japanische Premier machte eine halbwegs gute Figur. Allerdings konnte Ishiba die angekündigte Entwicklung zu mehr japanischer Selbstständigkeit und zu einer Abnabelung vom US-Einfluss in keiner Weise umsetzen. Auch seine hochtrabenden Ankündigungen, eine »asiatische NATO« in die Wege zu leiten, um »die Sicherheitsarchitektur in Ostasien zu verbessern«, musste er schnell begraben.

Zu schaffen machte Ishiba auch der Umstand, dass er in der LDP auch außerhalb des Dunstkreises um Aso und den verstorbenen Abe nicht auf große Sympathie stieß. Ishiba gilt als Eigenbrötler, der lieber Bücher liest, als soziale Kontakte zu pflegen. Bekannt ist er auch als Militär- und Bahn-Otaku – die japanische Bezeichnung für Freak, mit leicht negativer Konnotation. Zudem hatte er 1993 – in der Zeit der politischen Wirren – die LDP für drei Jahre verlassen, ein Umstand, den ihm viele Parteikollegen bis heute nicht verziehen haben.

Hintergrund:

Änderungen im politischen System

Das politische System Japans befindet sich im Umbruch, von einem Zweiparteien- zu einem Mehrparteiensystem. Das bedeutet die Fortschreibung einer Entwicklung, die in den 1990er Jahren begann. Nachdem die LDP von 1955 an Japan im Alleingang regiert hatte, kamen um 1990 Ideen auf, ein Zweiparteiensystem nach US-Vorbild zu installieren. Der Zustand der Dauerregierung einer Partei verhindere eine kon­struktive Debatte und führe zum Stau bei den nötigen Reformen, um im anbrechenden Zeitalter der Globalisierung überleben zu können. So dachte damals zum Beispiel Ozawa Ichiro, einer der Architekten einer Erneuerung der japanischen Politik und zu jener Zeit ein überzeugter Neoliberaler.

Mit der Gründung der Demokratischen Partei Japans (DPJ) im Jahr 1996, der Vorvorgängerpartei der KDP (heute die größte Oppositionskraft) schienen Ozawas Hoffnungen wahr zu werden: 2009 kam es zum »erlösenden« Machtwechsel, die DPJ übernahm mit Hatoyama Yukio an der Spitze die Regierungsgeschäfte. Doch die alte, gut vernetzte japanische Elite aus LDP, Bürokratie und Wirtschaft sowie die Unerfahrenheit der ehemaligen Oppositionspolitiker verhinderten eine längere Regierungszeit. Nach rund dreieinhalb Jahren verlor die DPJ bei den Unterhauswahlen im Dezember 2012 wieder ihre Mehrheit.

Danach konnte die Politik von Abe Shinzo (LDP) mit seinem Slogan »Wiedererlangung der alten Stärke« die strukturellen Probleme Japans kaschieren. Doch gegen Ende des Jahrzehnts zeigte sich, dass seine Strategie unter erheblich veränderten weltpolitischen Bedingungen nicht griff. Populistische Schlagwörter, verkürzte Lösungsansätze und extrem rechte Ideen, die neue politische Parteien einführten, begannen sich auch in Japan zu verbreiten. LDP und KDP sind heute vor allem bei den Alten populär, die Jungen bevorzugen kleinere Parteien, die ihnen kurzfristige Gewinne versprechen. Bei den Oberhauswahlen vom vergangenen Juli gehörten LDP und KDP zu den großen Verlierern. Von den 125 zu verteilenden Sitzen gingen nur 61 an sie. (ik)

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