Foul gespielt
Von Werner Fritz Winkler
Vom 1. bis 12. März 1961 fanden in der Schweiz die 28. Eishockeyweltmeisterschaften statt. Die Mannschaften der DDR und der BRD hatten sich für die A-Gruppe qualifiziert. Nach 1959 war es das zweite deutsch-deutsche Duell bei einer Eishockey-WM. Für die Fans in Ost und West eigentlich ein Grund zur Freude. Jedoch nicht für die Regierung in Bonn und den Deutschen Sportbund (DSB). Der faire sportliche Wettstreit auf dem Eis fiel der »Hallstein-Doktrin« zum Opfer, dem Anspruch der BRD auf Alleinvertretung ganz Deutschlands und somit auch für die Sowjetische Besatzungszone (SBZ), wie die DDR im offiziellen bundesdeutschen Sprachgebrauch immer noch bezeichnet wurde.
Die DDR-Mannschaft durfte mit Erlaubnis der Internationalen Eishockeyföderation (IIHF) bei dieser WM erstmals mit eigener Flagge und eigener Hymne antreten. Das passte nicht in das politische Weltbild der Bundesregierung und des DSB. Für den Fall, dass die BRD-Mannschaft bei einem Sieg der DDR-Mannschaft vor dem Hissen ihrer Flagge und dem Abspielen ihrer Hymne das Eis aus Protest verlässt, war ihr von der IIHF der Ausschluss von den folgenden Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen angedroht worden. Der BRD-Sportchef Willi Daume bestand – in trauter Einigkeit mit dem bundesdeutschen Außenminister Heinrich von Brentano – dennoch darauf: »Mannschaften der Bundesrepublik werden den Emblemen und der Hymne der Zone keine Reverenz erweisen.« Daume reiste nach Genf und setzte durch, dass die westdeutschen Spieler nicht antraten. Daraufhin wurde das Spiel am grünen Tisch als 5:0-Sieg der DDR gewertet. Die ostdeutschen Spieler wurden noch am selben Abend mit dem Fairnesspokal des Turniers, gestiftet von der Firma Rolex, ausgezeichnet. In der Abschlusstabelle belegten sie Rang fünf.
Wegen des unsportlichen und politisch motivierten Verhaltens landete das bundesdeutsche Team auf dem letzten Platz – mit zunächst weitreichenden Folgen für seine Teilnahme an der WM 1962. Die Mannschaft wäre in die B-Gruppe abgestiegen. Doch auch bei der WM in den USA ging der unsportliche Kampf gegen die DDR unverfroren weiter. Die US-Behörden verweigerten dem Team aus politischen Gründen (Mauerbau und Kubakrise) die Einreise. Aus Solidarität mit der DDR verzichteten daraufhin alle startberechtigten sozialistischen Länder auf die Teilnahme. Damit waren die gesamten Auf- und Abstiegsregelungen hinfällig geworden und die BRD konnte am Turnier teilnehmen. Sie belegte am Ende den sechsten Platz.
Nazikontinuitäten
Dieser Fall ist symptomatisch für die deutsch-deutsche Sportgeschichte. Ein historischer Rückblick zeigt: Den herrschenden Kreisen in der alten Bundesrepublik fehlte es von Beginn an am politischen Willen, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges neu entstandenen politischen Tatsachen anzuerkennen. Statt die Verbrechen des deutschen Faschismus aufzuarbeiten, beschränkte man sich auf wortreiche Beteuerungen und verhinderte eine konsequente Entnazifizierung. So auch im Sport, wo ein nahtloser Übergang von belasteten Funktionsträgern aus der Zeit des Faschismus in die Sportstrukturen der BRD stattfand. Einige Beispiele demonstrieren dies eindrucksvoll.
Karl Ritter von Halt war seit dem 1. Mai 1933 NSDAP-Mitglied und wurde im selben Jahr SA-Mann. Sein letzter Rang war der eines Oberführers. Im Nationalsozialistischen Reichsbund für Leibesübungen (NSRL) leitete er das Fachamt für Leichtathletik. Ihm wird zugeschrieben, dass er maßgeblich dazu beigetragen habe, Hitler davon zu überzeugen, welch propagandistischer Erfolg eine Vergabe der Olympischen Sommer- und Winterspiele 1936 an das Deutsche Reich darstellen würde. Bei der Vorbereitung und Durchführung der Olympischen Winterspiele in Garmisch-Partenkirchen hatte er das Amt des Präsidenten des Organisationskomitees inne. 1938 wurde er in den Vorstand der Deutschen Bank berufen, wo er unter anderem mit Heinrich Himmler, dem Reichsführer SS, über Kreditvergaben verhandelt hat. 1944 ernannte Himmler ihn zum Reichssportführer des NSRL.
In der SBZ war Halt von 1945 bis 1950 im Speziallager Nr. 2 des NKWD im ehemaligen KZ Buchenwald inhaftiert. Seine Entlassung wurde durch Druck auf die Sowjetunion erzwungen – ohne seine Freilassung sollte es für die UdSSR keine Aufnahmeverhandlungen mit dem Internationalen Olympischen Komitee (IOC) geben. Die UdSSR wurde schließlich 1951 IOC-Mitglied. Halt war von 1951 bis 1960 Präsident des westdeutschen Olympischen Komitees. In dieser Funktion setzte er 1959 im Auftrag von Bundeskanzler Adenauer im IOC die Beibehaltung des Auftretens einer gesamtdeutschen Mannschaft bei Olympischen Spielen durch. Trotz seiner Nazivergangenheit und seiner unrühmlichen Rolle etwa bei der Ausladung der jüdischen Weltklassehochspringerin Margaret »Gretel« Bergmann bei den Sommerspielen von 1936 wurde er in der BRD zum Ehrenpräsidenten des Deutschen Leichtathletikverbandes (DLV) ernannt. Er unterhielt freundschaftliche Beziehungen zu Avery Brundage, dem US-amerikanischen IOC-Präsidenten von 1952 bis 1972. Dieser trug maßgeblich dazu bei, dass die antikommunistischen Angriffe auf den DDR-Sport vom IOC lange Zeit mitgetragen wurden.
Guido von Mengden war seit dem 1. Mai 1933 NSDAP-Mitglied und machte in der SA Karriere; 1941 wurde er Obersturmbannführer. Bei den Olympischen Spielen von 1936 war er Propagandachef. In der Bundesrepublik übte er von 1951 bis 1954 das Amt des Geschäftsführers der Deutschen Olympischen Gesellschaft (DOG) und von 1954 bis 1963 das des Hauptgeschäftsführers des DSB aus. Von 1961 bis 1963 war er Generalsekretär des westdeutschen Nationalen Olympischen Komitees (NOK). Seinen Einfluss machte er später auch im wissenschaftlichen Beirats des DSB und als Berater für das Komitee der Olympischen Spiele 1972 in München geltend.
Eine weitere Figur war Carl Diem. Er weigerte sich zwar, NSDAP-Mitglied zu werden, und wurde daher als Prorektor der Deutschen Hochschule für Leibesübungen entbunden. Dies und seine Ehe mit einer Frau jüdischer Herkunft galten nach 1945 als ein Beweis seiner kritischen Haltung zum Faschismus. Ein näherer Blick auf seine Biographie zeigt aber, dass er auch ohne Parteibuch ein wort- und tatenreicher Unterstützer des Hitler-Regimes war. Ab 1933 war er als Generalsekretär des Organisationskomitees für die Olympischen Spiele von 1936 in Berlin tätig. In diese Zeit fällt auch der vom ihm beim Bau des Berliner Olympiageländes tatkräftig geförderte faschistische Opferkult.
Diem beschaffte aus Flandern vom Langemarck-Schlachtfeld, dem Ort, wo am 10. November 1914 ein verlustreicher Angriff deutscher Truppen im Ersten Weltkrieg stattgefunden hatte, »blutgetränkte Erde«. Der »Heldentod« von Hunderten deutschen Kriegsfreiwilligen wurde bereits in den 1920er Jahren propagandistisch genutzt. Die Nazis bauten diesen Kult im Rahmen der Olympiabewerbung weiter aus. Sie ließen am Rande des Maifeldes die Langenmarckhalle errichten. In ihr befand sich bis zu ihrer Zerstörung am Ende des Zweiten Weltkriegs ein Schrein für die Aufbewahrung der »blutgetränkten Erde«. Noch wenige Wochen vor Kriegsende rief Carl Diem in einer Rede auf dem Olympiagelände Angehörige der Hitlerjugend zu höchster Opferbereitschaft für den Führer auf. Im April 1947 war dies aber kein Hinderungsgrund, ihn zum Rektor der neugegründeten Deutschen Sporthochschule in Köln zu berufen. Dieses Amt übte er bis zu seinem Tod im Jahre 1962 aus.
In den einzelnen Sportverbänden und Organisationsstrukturen auf Länderebene lassen sich ähnliche Biographien finden. Daran änderte sich auch wenig, als Willi Daume 1950 die Führung im DSB übernahm und ab 1961 Präsident des NOK der BRD wurde. Auch er hatte maßgeblichen Anteil daran, dass die alte Garde von Nazisportfunktionären im westdeutschen Sport nahtlos weiterbeschäftigt wurde.
Wenn auch Daumes Nazivergangenheit, die man bis 2009 weitgehend verschwieg, nicht eins zu eins mit den Verstrickungen von Karl Ritter von Halt und Co. vergleichbar ist, darf nicht verharmlost werden: Auch er hatte am 20. Dezember 1937 um Aufnahme in die NSDAP gebeten und wurde rückwirkend zum 1. Mai des Jahres aufgenommen. In der familieneigenen Gießerei in Dortmund, die unter anderem wegen ihrer Panzerkettenproduktion als kriegswichtig eingestuft wurde, wurden während des Zweiten Weltkrieges 65 Zwangsarbeiter beschäftigt. Ab 1943 war er als Informant des Reichssicherheitsdienstes (SD) tätig. Willi Daume hat über 40 Jahre in Schlüsselfunktionen die Sportpolitik der Bundesrepublik mitbestimmt und international vertreten. Dazu zählten auch der Alleinvertretungsanspruch für alle Deutschen und der den Sport belastende Antikommunismus. Beides führte in den 1950/60er Jahren und darüber hinaus immer wieder zu Provokationen und Sanktionen gegenüber dem sich antifaschistisch entwickelnden DDR-Sport.
Anhaltender Boykott
Im Jahre 1959 entschied die Volkskammer, in die schwarz-rot-goldene Staatsflagge der DDR einen Ährenkranz mit Hammer und Zirkel aufzunehmen. Für das Auftreten der gesamtdeutschen Mannschaft 1960 bei den Olympischen Sommerspielen von Rom und den Winterspielen im Squaw Valley, USA, wurde ein Kompromiss mit dem IOC vereinbart, den beide deutschen NOKs billigten. Die offizielle Flagge bei diesen Spielen war identisch mit den drei Grundfarben Schwarz, Rot, Gold. Zusätzlich zeigte sie im mittleren roten Feld die fünf Olympischen Ringe in weißer Farbe. Das führte erneut zu heftigen Interventionen der Bundesregierung. Letztendlich setzte sich aber das IOC mit der Kompromisslösung durch. Dem DDR-Skispringer Helmut Recknagel kam aufgrund seiner bisherigen internationalen Erfolge (1957 hatte er als erster Nichtskandinavier am legendären Holmenkollen in Oslo gesiegt und war schon zweimal Gewinner der Vierschanzentournee) die Ehre zu, bei der Eröffnungsveranstaltung diese Flagge an der Spitze der gesamtdeutschen Mannschaft zu tragen. Die politisch motivierte Beeinflussung fairer sportlicher Wettkämpfe hörte damit aber nicht auf. Die ostdeutschen Reporter bekamen für diese Winterspiele kein Einreisevisum in die USA. Gleiches war ihnen bereits ein Jahr zuvor bei den vorolympischen Wettbewerben widerfahren, als die USA den ostdeutschen Athleten die Einreise verweigerten. Bei Recknagels Olympiasieg sprang Ludwig Schröder, der Generalsekretär des DDR-Skiverbandes, ein und kommentierte für den DDR-Rundfunk.
Ein Jahr später, im März 1961, stufte der Bundesgerichtshof (BGH) den Deutschen Turn- und Sportbund (DTSB), die Dachorganisation des DDR-Sportes, als verfassungsfeindliche Organisation ein. Am 13. August 1961 setzte die DDR-Regierung die lückenlose Schließung der Grenze um Westberlin durch den Bau einer Mauer um. Der deutsche Sport wurde daraufhin noch tiefer in den Kalten Krieg hineingezogen. Am 16. August fassten der DSB-Vorstand und das Präsidium des NOK die »Düsseldorfer Beschlüsse«. Die deutsch-deutschen Sportbeziehungen kamen völlig zum Erliegen. Im September 1961 beschlossen die NATO-Staaten, DDR-Sportlern grundsätzlich die Einreise zu verweigern.
Am 1. März 1962 legten die bundesdeutschen Innenminister nach. Ab sofort war jedes Auftreten von DDR-Sportlern, ob mit Staatssymbolen oder ohne, auf dem Boden der Bundesrepublik untersagt. Der DSB verbot unter Androhung des Ausschlusses jegliche Teilnahme von Sportlern aus der BRD an Veranstaltungen in der DDR. Gleichzeitig zeigte sich, dass die Bonner Sportpolitik gegenüber der DDR international immer weniger Zustimmung fand. Für die internationalen Sportverbände zählte, dass die DDR-Sportlerinnen und -Sportler immer öfter Weltklasseleistungen erzielten und damit nicht länger ignoriert werden konnten. Man zielte auf Ausgleich mit der aufstrebenden Sportnation DDR.
In der BRD aber wurde trotz der Gefahr, das realitätsfremde Geschrei um das Zeigen der Flagge und Spielen der Nationalhymne der DDR (»Spalterflagge« und »Becher-Hymne« lautete der offizielle bundesdeutsche Sprachgebrauch dafür) könnte der Bewerbung von München für die Sommerspiele von 1972 schaden, der sportfeindliche Kurs fortgesetzt. So zum Beispiel bei der Biathlonweltmeisterschaft in Garmisch-Partenkirchen im Februar 1966. Die DDR-Mannschaft war vom Veranstalter, der Internationalen Biathlonunion (IBU), unter den 16 teilnehmenden Nationen als »Ostdeutschland« aufgeführt worden. Dagegen protestierte der damalige Bundesinnenminister Paul Lücke (CDU) scharf und zog seine Schirmherrschaft zurück. Noch vor Beginn der eigentlichen Wettkämpfe umstellten Polizisten das Trainingsgelände der DDR-Sportler. Der Grund: Die Athleten trugen auf ihren Trainingsanzügen das Staatsemblem. Nachdem das höchstbehördlich untersagt worden war, reiste die DDR-Mannschaft noch vor der Eröffnung der WM ab. Die Olympischen Spiele von Innsbruck und Tokio 1964 verliefen für die beiden deutschen Mannschaftsteile noch nach den alle geopolitischen Realitäten ignorierenden »alten« Gepflogenheiten.
Inszenierter Betrug
Vier Jahre später, am 6. Februar 1968, traten dann zur Eröffnung der X. Olympischen Winterspiele in Grenoble zum ersten Mal zwei deutsche Olympiamannschaften an. Gleiches setzte sich bei den XIX. Sommerspielen in Mexiko-Stadt fort. 1965 hatte sich das IOC auf seiner Madrider Session mit 44 gegen vier Stimmen eindeutig für die Beendigung seiner Schlichter- und Schiedsrichterrolle in diesem Dauerkonflikt entschieden. Wer sich die Foto- und Filmdokumente von beiden Spielen ansieht, wird erkennen, dass auch diese Lösung ein Kompromiss war. So zum Beispiel bei den offiziellen Zeremonien – hinter dem Schild »Deutschland« und der schwarz-rot-goldenen Flagge mit den Olympischen Ringen folgten zwei weitere »Unterschilder«: »Bundes-Republik Deutschland« und »Ostdeutschland«. Erstmals traten damit die Athleten aus den beiden deutschen Ländern getrennt auf. Bei deutschen Olympiasiegen erklang weiterhin Beethovens Hymne »Ode an die Freude«.
Nicht auf dem Siegerpodest stehen durften in Innsbruck die DDR-Weltklasserodlerinnen Ortrun Enderlein, Anna-Maria Müller und Angela Knösel. Sie lagen nach drei von vier Läufen auf den Plätzen eins, zwei und vier. Das polnische Mitglied der Wettkampfjury, Lucjan Świderski, entdeckte angeblich geschmolzenen Schnee an den Kanten der Kufen ihrer Rennschlitten. Er wertete das als einen groben Verstoß gegen das seit 1964 offiziell vom internationalen Rennschlittenverband verbotene Erhitzen der Kufen vor dem Start. Auf der Grundlage dieses »Schneeflockentestes« erfolgte die Disqualifikation der drei DDR-Rodlerinnen. In den westdeutschen Medien wurde dies mit großen Schlagzeilen und Beschimpfungen der betroffenen Athletinnen genüsslich ausgeschlachtet.
Die DDR-Sportführung protestierte dagegen. Willi Daume schoss zurück. »Welch eine Infamie: Die Betrüger klagen die Betrogenen an!« Nach diesem Skandal wurde auf Antrag der DDR ein Temperaturmessgerät für die Kufen eingeführt. Erst 2006 tauchte in Akten des MfS ein fast 40seitiges Dokument auf, das Interessantes ans Licht brachte. Demnach war der polnische Offizielle zu einem Kongress nach Österreich eingeladen worden. Dieser hatte jedoch nie stattgefunden. Statt dessen verbrachte der spätere Kontrolleur der Kufen einen gutbezahlten Urlaub im Alpenstaat. Es ist mehr als eine Spekulation, wenn man daraus den Schluss zieht, dass die von ihm durchgesetzte Disqualifikation möglicherweise inszeniert war. Dafür spricht auch, dass ein Zeitzeuge sich 2006 noch erinnern konnte, dass Świderski auch bei den Männerwettbewerben seinen umstrittenen »Schneetest« gemacht haben soll. Auch dort sei der Schnee geschmolzen. Der überprüfte Schlitten gehörte allerdings einem Österreicher und es gab keine Disqualifikation.
Die BRD ausgestochen
Am 11. Oktober 1968 erfolgte in Mexiko-Stadt die jahrelang von der Bundesregierung und ihren treuen Helfern in den internationalen Sportgremien verhinderte vollwertige Aufnahme des NOK der DDR mit eigener Symbolik und Nationalhymne in das IOC. Die Abstimmung fiel mit 44 zu vier Stimmen eindeutig aus. Da es zu diesem Zeitpunkt drei westdeutsche Vertreter im IOC gab, gehen wahrscheinlich drei der vier Gegenstimmen auf ihr Konto. Dieser Erfolg der DDR im Kampf um ihre souveräne Behandlung im internationalen Sport trieb bei den Hardlinern in Bonn mit Blick auf den Sommer 1972, wo in München die nächsten Olympischen Spiele geplant waren, den Angstschweiß hervor. Es entstanden groteske Überlegungen, wie man das alles noch verhindern könne. »Hammer und Zirkel« auf schwarz-rot-goldenem Untergrund und Johannes R. Bechers »Auferstanden aus Ruinen« sollten weder zu sehen noch zu hören sein. Einige träumten kurzzeitig davon, München oder die Wettkampfstätten einschließlich des olympischen Dorfes nach dem Vorbild des Vatikans in Rom für die Zeit der Spiele zu einem exterritorialen Gebiet zu erklären. Auch Willy Brandt, der seit September 1969 Bundeskanzler war, formulierte in seiner ersten Regierungserklärung: »Eine völkerrechtliche Anerkennung der DDR durch die Bundesrepublik kann nicht in Betracht kommen.«
1972 trat die DDR bei den Olympischen Winterspielen in Sapporo und den Sommerspielen in München erstmals als eigenständiger Staat auf. Vierundzwanzigmal erklang zur Ehrung ihrer Goldmedaillengewinner ihre Nationalhymne. Achtzigmal wurde hinter dem Siegerpodest ihre Staatsflagge gehisst. In Sapporo belegten die DDR-Wintersportler mit insgesamt 14 Medaillen in der Medaillenwertung hinter der UdSSR den zweiten Platz. Die BRD kam mit nur fünf Medaillen auf den sechsten Rang. In München belegte die DDR hinter der UdSSR und den USA den dritten Platz – noch vor der BRD. Der Unterschied in der Medaillenausbeute betrug zugunsten der DDR insgesamt 26 Medaillen. Vier Jahre später, bei den Winterspielen von Innsbruck, lautete die Reihenfolge: UdSSR, DDR, USA; die BRD landete auf Platz fünf. Bei den Sommerspielen in Montreal belegten die DDR-Sportler hinter der UdSSR erneut den zweiten Rang. In der Endabrechnung im deutsch-deutschen Vergleich erzielten die Sportlerinnen und Sportler aus der »Zone« 51mal mehr Edelmetall.
Ein weiterer Höhepunkt des Kalten Krieges im Sport war 1980 der von den USA angeführte Olympiaboykott der Sommerspiele in Moskau durch westliche Staaten. 1984 boykottierten im Gegenzug die mit der Sowjetunion befreundeten Länder (außer Rumänien) die Spiele in Los Angeles. In beiden Fällen böten die Ursachen und Motive Stoff für einen gesonderten Beitrag. Die Verlierer waren in beiden Fällen die Sportlerinnen und Sportler, die hart trainiert hatten und aus politischen Gründen um ihre Teilnahme oder gar ihre Medaillenchancen gebracht wurden.
Die DDR nahm 1988 letztmalig an Olympischen Spielen teil. Im kanadischen Calgary belegte sie hinter der Sowjetunion den zweiten Platz. Die BRD landete auf dem achten Rang der Länderwertung nach Medaillen. Bei den Sommerspielen in Seoul war wieder die Reihenfolge Sowjetunion vor DDR (102 Medaillen); BRD auf Rang fünf (40 Medaillen).
Stellt man die rhetorische Frage, wer den Kalten Krieg im Sport gewonnen hat, dann gibt die Bilanz der DDR eine eindeutige Antwort: Allein bei Olympischen Spielen standen die DDR-Sportlerinnen und -Sportler von ihrer ersten Olympiateilnahme im Jahre 1956 in Melbourne bis zu ihrer letzten 1988 in Seoul 572mal auf dem Siegerpodest, davon 203mal ganz oben. Betrachtet man nur den Zeitraum 1968 bis 1988, wo die beiden deutschen Staaten mit selbständigen Mannschaften bei Olympia teilnahmen, dann ergibt sich ein Unterschied von 192 Goldmedaillen, 165 Silbermedaillen und 162 Bronzemedaillen für die DDR zu 67 Goldmedaillen, 82 Silbermedaillen und 94 Bronzemedaillen für die BRD.
Die Erfolge des DDR-Leistungssports basierten auf einem sicheren finanziellen Fundament. Ende der 1980er Jahre wurden rund 1,2 Milliarden Mark pro Jahr dafür aus dem Staatshaushalt zur Verfügung gestellt. Zum Vergleich: Der Bundeshaushalt stellt für den Leistungssport im Jahr 2025 insgesamt rund 346 Millionen Euro (2024: 333 Millionen Euro) bereit. Der Hauptgrund für die Erfolgsgeschichte des DDR-Sports war struktureller Natur. Denn um Spitzensportler heranzuziehen, bedarf es einer systematischen Suche nach Talenten, die in der Folge trainiert und gefördert werden müssen.
Systematisch gefördert
Die Heranführung an eine sportliche Betätigung begann bereits im Kindergarten. In der Schule standen pro Woche zwei bis drei Stunden Sport, einschließlich Schwimmunterricht, auf dem Lehrplan. Das setzte sich an den Berufs-, Fach- und Hochschulen sowie Universitäten fort. Von der Insel Rügen bis zum Fichtelberg gab es ein flächendeckendes Netz von Betriebssportgemeinschaften (BSG). Die finanziellen Mittel dafür wurden aus den Gewerkschaftsfonds der Trägerbetriebe bereitgestellt. In vielen Fällen wurden auch die Sportanlagen und Freibäder durch die Betriebe errichtet und unterhalten. Die BSG waren die Basis für die regelmäßige sportliche Betätigung der Kinder und Jugendlichen. Hier wurden Talente entdeckt und gefördert. Unabhängig vom Geldbeutel der Eltern hatten die Besten von ihnen die Chance auf eine Delegierung an eine der 25 Kinder- und Jugendsportschulen.
Überall auf der Welt wurde im Hochleistungssport systematisch mit Dopingmitteln gearbeitet. Dies galt auch für die beiden deutschen Staaten, wie zum Beispiel bei Simon Krivec nachzulesen ist.¹ Das Thema Doping im DDR-Sport läuft seit 35 Jahren als mediale Dauerschleife. Damit werden die Schwächen des bundesdeutschen Sports ebenso in den Hintergrund geschoben wie die Stärken des DDR-Sports. Die sportlichen Erfolge der kleinen DDR beruhten auf drei Säulen: der Sichtung und Ausbildung von geeigneten Kindern für die einzelnen Sportarten (ESA-System), den wissenschaftlichen Trainingsmethoden und der professionellen Arbeit der Trainer. Doping hatte nur einen geringen Anteil an den Erfolgen. In den Statistiken des IOC über wegen Doping aberkannter Olympischer Medaillen findet sich nicht ein »DDR-Fall«.
Bei den Olympischen Winter- und Sommerspielen in den 1990er Jahren kam die BRD, gestärkt durch die »angeschlossenen« DDR-Sportler, in der Medaillenwertung immer unter die ersten drei Nationen. Bei den Winterspielen 1998 in Nagano belegte sie sogar den ersten Platz. Danach war man nur noch bei Winterspielen (2006, 2010 und 2014) unter den Top drei. Bei den Sommerspielen wurden solche Plazierungen nie mehr erzielt. 2024 wurde bei den Spielen in Paris mit Platz zehn in der Medaillenwertung der bisherige Tiefpunkt erreicht. Der Bonus des DDR-Leistungssports war endgültig aufgebraucht.
Anmerkung
1 Simon Krivec: Die Anwendung von anabolen-androgenen Steroiden im Leistungssport der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 1960 bis 1988 unter besonderer Berücksichtigung der Leichtathletik, Berlin 2017
Werner Fritz Winkler schrieb an dieser Stelle zuletzt am 7. August 2025 über die antikommunistische »Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit«: »Diversion und Propaganda«
Tageszeitung junge Welt am Kiosk
Die besonderen Berichterstattung der Tageszeitung junge Welt ist immer wieder interessant und von hohem Nutzwert für ihre Leserinnen und Leser. Eine gesicherte Verbreitung wollen wir so gut es geht gewährleisten: Digital, aber auch gedruckt. Deswegen liegt in vielen tausend Einzelhandelsgeschäften die Zeitung aus. Überzeugen Sie sich einmal von der Qualität der Printausgabe.
links & bündig gegen rechte Bünde
Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.
-
Leserbrief von Onlineabonnent/in Ralph D. aus Gotha (21. September 2025 um 14:07 Uhr)Neben der Steuerung des bundesdeutschen Sports durch nazibelastete Funktionäre war auch die Kriminalisierung von Sportlern in jenen Jahren auf der Tagesordnung. Wer Kontakte in die DDR unterhielt, insbesondere zum DTSB, galt als Unterstützer der »sowjetzonalen« Politik und der Ziele der seit 1956 verbotenen KPD. Eine solche Betätigung richtete sich angeblich gegen die verfassungsmäßige Ordnung der BRD. So verurteilte das Landgericht Düsseldorf im Mai 1966 drei Sportler wegen »Geheimbündelei« und landesverräterischer Beziehungen zu neun bzw. vier Monaten Gefängnis und zusätzlicher Auferlegung einer Geldstrafe. Einer der Angeklagten war sogar einige Monate in dieser Sache in Untersuchungshaft genommen worden. Nach der damaligen Spruchpraxis des 3. (politischen) Strafsenats des BGH war bereits die Äußerung politischer Auffassungen, die inhaltlich mit jenen der SED und der KPD übereinstimmten, eine Unterstützung der verbotenen KPD. Ralph Dobrawa, Gotha
Ähnliche:
picture alliance / SZ Photo04.07.2025»Asien steht an der Elbe«
imago/Sven Simon05.09.2022Maximale Eskalation
dpa - Bildfunk23.07.2016Spiele der Täuschung