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Aus: Ausgabe vom 08.10.2025, Seite 12 / Thema
Philosophie

Sich auf die Widersprüche einlassen

Vor 100 Jahren wurde der marxistische Philosoph Wolfgang Heise geboren. Er trug maßgeblich zur Entwicklung der Ästhetik als eigenständiger Disziplin bei
Von Martin Küpper
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Wolfgang Heise, Gemälde von Ronald Paris, 1967, Humboldt-Universität zu Berlin, Kustodie

Das Wort »abwickeln« hat seit dem 18. Jahrhundert drei Bedeutungen. Einerseits meint es das Abrollen von Garn von einer Spule. Andererseits bedeutet es die Darstellung der Gesamtoberfläche eines Körpers in einer Ebene. Schließlich bezeichnet man mit »Abwicklung« auch das Übertragen, Erledigen oder Beenden von geschäftlichen Angelegenheiten. Eine vierte Bedeutung, die nah am ökonomischen Vorgang liegt, jedoch die gesellschaftspolitische Liquidation der Institutionen der DDR meint, wurde noch nicht in die etymologischen Wörterbücher aufgenommen: Die »Schließung von Einrichtungen, die als sachlich überflüssig oder politisch erneuerungsbedürftig galten«¹.

Besonders hart traf es das Hochschulwesen der DDR, als im Herbst 1989 das Ende des Staates eingeläutet wurde. Als erstes erodierten die universitären SED- und FDJ-Strukturen. Marxistisch-leninistische und militärische Studienanteile wurden gestrichen und neue Selbstverwaltungsstrukturen, wie an der Universität Jena, initiiert. Nachdem sich die BRD die DDR endgültig einverleibt hatte, begann der Prozess, den man heute »Abwicklung« nennt. Bis Ende 1991 sollten alle Einrichtungen des Wissenschaftssystems »evaluiert« werden. Eine kleine dreistellige Zahl hauptsächlich aus der BRD stammender Gutachter reiste durch das Land und erstellte fleißig Berichte über die Struktur, die Ausstattung, das Personal und die beforschten und gelehrten Inhalte.

In den Gesellschaftswissenschaften wurde wesentlich härter durchgegriffen als in den Natur- und Technikwissenschaften. So konnte bereits die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Institut die weitere Beschäftigung verhindern. Professoren mussten ihre Nähe zum politischen System darlegen. Von den rund 218.000 Wissenschaftlern verloren mehr als die Hälfte ihre Stelle.² Es wurden neue Wissenschaftseinrichtungen gegründet, neues, vor allem männliches und aus der BRD stammendes Personal eingestellt sowie manche Fächer abgeschafft und andere neu eingeführt. Der Historiker Peer Pasternack spricht in diesem Zusammenhang von einem »Anpassungsprozess an das normsetzende und strukturtransferierende westdeutsche Hochschulsystem«³. Inhaltlich wurde der Marxismus-Leninismus getilgt. Insbesondere in den Fächern Germanistik, Literatur und Philosophie wurden, wie Gebhard Rusch Mitte der 90er Jahre zu Protokoll gab, »die Lehrstühle mit ganz, ganz wenigen Ausnahmen konservativ besetzt«⁴. Noch in den 2010er Jahren hörte ich in einer Einführungsvorlesung an einer ostdeutschen Universität, dass Konrad Adenauer einer der größten Deutschen des 20. Jahrhunderts gewesen sei.

Eine Spätfolge der »Abwicklung« besteht darin, dass sie den Blick zurück verstellt, denn auf der inhaltlichen Ebene wurde eine fragwürdige Einteilung von kritischer Wissenschaft kontra Ideologie vorgenommen. Vereinfacht gesagt: Wer sich im Feld des Marxismus-Leninismus bewegte, konnte nicht wissenschaftlich gearbeitet haben, da sich dieser als Weltanschauung auf die Parteilichkeit – auch der Wissenschaft – berief. Wer hingegen Repressalien ausgesetzt war, so die Annahme, musste kritisch gedacht haben – und wer kritisch dachte, ging wissenschaftlich vor. Noch heute wird in Gesprächen und Publikationen über die Philosophie in der DDR – auch unter Linken – die Klammer »Dissidenz und/oder Dogma« gesetzt. Bereits 1979 bezeichnete Heiner Müller gegenüber französischen Journalisten diese als »Sozialismusklischee der Medien«, die »an der Wirklichkeit« vorbeigreifen. Sie »bedienen«, wie er hinzufügte, »den Appetit auf Signale von Verrat aus dem Lager jenseits des Kapitalismus, garantieren das gute Gewissen des Konsums, den Frieden der Korruption«⁵.

Auf Umwegen in die Philosophie

Müller hörte Vorlesungen eines Philosophen, den man mit Sicherheit abgewickelt hätte und der heute 100 Jahre alt geworden wäre: Wolfgang Heise. Er wurde in Berlin geboren, wo er 1987 an den Folgen eines Herzinfarkts starb. Er wuchs in einem kommunistisch-bildungsbürgerlich orientierten Haushalt auf. Sein Vater, der Literaturwissenschaftler Wilhelm Heise, trat nach dem Ersten Weltkrieg in die KPD ein und arbeitete als Pädagoge. In den 20er Jahren heiratete er Edith Hirschhorn, die Tochter eines jüdischen Handwerkers. Ab 1934 durfte Wilhelm Heise deshalb nur noch als Privatlehrer arbeiten. Edith, deren Wiener Verwandtschaft deportiert wurde, musste Zwangsarbeit leisten. Auch Wolfgang Heise wurde ab November 1944 für die Bautruppe »Organisation Todt« in einem Arbeitslager bei Zerbst interniert. Dort wurde er bis zum Kriegsende zusammen mit 700 Mithäftlingen zum Straßen- und Flughafenbau gezwungen.

Nach Kriegsende trat Heise in die KPD ein, baute kommunale Strukturen auf und begann 1946 ein Studium der Kunstgeschichte und Germanistik an der Humboldt-Universität zu Berlin, an der sein Vater Dekan der Pädagogischen Fakultät wurde. Bis 1953 lebte er im westlichen Teil der Stadt und arbeitete auch als Theaterkritiker. 1949 wurde er wissenschaftlicher Aspirant in der Philosophie und Teilnehmer am Dozentenlehrgang an der Parteischule in Kleinmachnow. Dieser Lehrgang hatte zum Ziel, Hochschullehrer für den Historischen und Dialektischen Materialismus sowie Politische Ökonomie auszubilden, also den Marxismus-Leninismus in Teilen zu akademisieren. Zu den Absolventen dieser Lehrgänge gehörten bedeutende Persönlichkeiten – unter anderem Wolfgang Harich, Georg Klaus, Leo Kofler, Kurt Hager und Rita Schober. Am neu gegründeten Philosophischen Institut der Humboldt-Universität wurde Heise 1952 Oberassistent und stellte 1954 seine Dissertation über den Frühaufklärer Johann Christian Edelmann fertig. Als 1953 der Widerstandskämpfer Walter Besenbruch, der über das Problem des Typischen in der Kunst promoviert wurde, eine Wahrnehmungsprofessur für Philosophische Ästhetik erhielt, wurde Heise an dessen Lehrstuhl Dozent für die Theorie und Geschichte der Ästhetik.

Die ästhetische Seite der Befreiung

In dem 1957 in der Deutschen Zeitschrift für Philosophie veröffentlichten Beitrag »Zu einigen Grundfragen der marxistischen Ästhetik« entwirft er ein theoretisches Programm für diese Teildisziplin der Philosophie. Heise betont, dass eine ästhetische Theorie »nicht aus der Transformation vorausgesetzter Abstraktionen«⁶ entstehen kann. Er kritisiert einen vulgär durchgeführten Materialismus, der mit Kunst hauptsächlich Propaganda treibt, und einen kunstphilosophischen Idealismus, der Kunst als formales, überhistorisches Phänomen begreift. Laut Heise kann ästhetische Theorie »nur als höchste Verallgemeinerung der Erfahrungen des faktischen künstlerischen Produktionsprozesses, aus der historischen Untersuchung der Geschichte der Künste unter Auswertung des Erbes des ästhetischen Denkens entstehen«.

In der Produktion von Kunst sowie deren Wirkung und Rezeption eignet sich der Mensch seine historische, praxisvermittelte Wirklichkeit aktiv an, bildet sein Verhältnis zur Wirklichkeit sinnlich-anschaulich ab. Die theoretische Ästhetik vollzieht dann die historischen Formen künstlerischer Tätigkeit, ihre Verbindung zur gesellschaftlichen Wirklichkeit und ihre theoretische Widerspiegelung in der Philosophiegeschichte nach, um auf die gegenwärtige Kunstproduktion steuernd einzuwirken. Das Konzept ist parteilich, weil in ihm die Perspektive eines sozialistischen Humanismus eingeschrieben ist. Die Selbstbefreiung der Arbeiterklasse habe nicht nur eine politische und ökonomische Seite, sondern auch eine kulturell-ästhetische. Jede sozialistische Revolution benötige also eine Kulturrevolution. In diesem Aufsatz wird bereits deutlich, aus welchen Quellen sich Heises Denken speiste: Aufklärung, klassische deutsche Philosophie, Literatur und Marx.

Da das Programm mit einer Kritik an Besenbruch verbunden war, verließ Heise den Lehrstuhl. Weil es auch einen Kontrapunkt zu den zu diesem Zeitpunkt als Nonplusultra geltenden ästhetischen Arbeiten von Georg Lukács darstellte, wurde Heise immer populärer. 1958 erhielt er eine Wahrnehmungsprofessur für die Geschichte der marxistischen Philosophie. Er hielt umfangreiche, kenntnisreiche Vorlesungen zu Marx und Lenin, aber auch zu Nietzsche, Kierkegaard, Heidegger und Adorno.

Unter dem Titel »Aufbruch in die Illusion« veröffentlichte er 1964 seine Habilitation, die er ein Jahr zuvor unter dem Titel »Philosophie als Krisenbewusstsein und illusionäre Krisenüberwindung« fertiggestellt hatte. Das Buch ist der erste großangelegte Versuch der deutschsprachigen universitären marxistisch-leninistischen Philosophie, eine »Kritik der bürgerlichen Ideologie« zu formulieren, wie die ab 1971 von Manfred Buhr herausgegebene Schriftenreihe hieß. In kritischer Nähe zu Lukács’ »Zerstörung der Vernunft« (1954) deutet Heise die spätbürgerlichen Philosophien des ausgehenden 19. Jahrhunderts bis in seine Tage als eine Form des gesellschaftlichen Bewusstseins, das die Krisenerscheinungen der kapitalistischen Gesellschaft zwar registriert und analysiert, in seinen Lösungsansätzen jedoch eine »Wendung zur Religion«⁷ vollziehe und daher Illusionen verbreite.

Das Buch liest sich erstaunlich aktuell, auch wenn viele der besprochenen Figuren heute unbekannt sind. Krisen der kapitalistischen Vergesellschaftung werden, so Heise, als Menschheitskrisen dargestellt, so dass das drohende Ende des Kapitalismus wie eine Apokalypse erscheint. »Remythisierung und Retheologisierung« seien die Folge. Damit ist nicht gemeint, dass die Religion, auch wenn sie sich als gesellschaftliche Institution hartnäckig hält, ihre einstige Vormachtstellung zurückerlangt. Heise zielt auf die in den modernen Philosophien und Ideologien ausgetragenen gesellschaftlichen Konflikte. Einerseits ist beispielsweise die Entfaltung der Produktivkräfte Wissenschaft und Technik geboten, und daher werden sie nach Kräften von der herrschenden Klasse gefördert, andererseits steht der größte Teil der Gesellschaft ihren verselbständigten Produkten nahezu ohnmächtig gegenüber. So werden Technologien im großen Stil eingeführt, obwohl deren Folgen zumeist unbekannt sind. Eine Debatte um neue Technologien findet allzu häufig erst statt, nachdem sich diese bereits etabliert haben, etwa wenn vor dem Dauerkonsum sozialer Medien im Kinder- und Jugendalter gewarnt wird. Da allerdings der Einsatz der Technologien dem Rhythmus der Kapitalakkumulation folgt, sind die Debatten häufig mit apokalyptischen, mythischen und religiösen Argumentationen durchsetzt.

Eine Tragik des Spätkapitalismus besteht darin, dass die aus dem Wechselspiel der Gesellschaft hervorgebrachten Krisen durch die Individuen gelöst werden müssen, was Heise als »Emotionalisierung« bezeichnet. Trotz der durch das eigene Handeln reproduzierten gesellschaftlichen Beziehungen greifen gefühlte und tatsächliche Ohnmacht, Entwürdigung und Sinnlosigkeit um sich. Statt aktiver, kollektiver Lebensgestaltung sind die Individuen dem vom Kapital vorgegebenen Lebenstakt unterworfen. Ihre Tätigkeiten werden so an die gegebenen Verhaltens- und Denknormen gekettet.

Diese Gemengelage sanktionieren nun die spätbürgerlichen Philosophien und Ideologien, zum einen durch die »Passivierung gegenüber den materiellen Grundlagen der Herrschaft des Kapitals« und zum anderen durch die »Aktivierung zur aktiven Betätigung der konterrevolutionären und expansionistischen Tendenzen des deutschen Imperialismus durch Demagogie der Lösung der Krise«. Auf diese Weise werden Fortschritt, Vernunft und Gestaltbarkeit der Wirklichkeit eine Absage erteilt und Bestrebungen zu alternativen Gesellschaftsmodellen aktiv und – wenn es sein muss – kriegerisch bekämpft.

Anhaltende Entfremdung

Heise argumentiert hier aus einer optimistischen Haltung heraus, die common sense unter vielen Theoretikern in der DDR war: Die allgemeine Krise des Kapitalismus sei allgegenwärtig, dagegen entwickle sich der Sozialismus in den 60er Jahren prächtig. Mit der 1961 erfolgten Schließung der Grenze konnte das Ausbluten der DDR beendet werden. Die kriegsbedingten Entbehrungen und Verwüstungen verschwanden allmählich. Die Wissenschaften waren auf dem Vormarsch, das »Neue Ökonomische System der Planung und Leitung« zeigte erste Erfolge. Die Zufriedenheit weiter Teile der Bevölkerung stieg. »Es war aber wohl auch eine Zeit erster Nachdenklichkeit«⁸, wie Erich Hahn rückblickend reflektierte. »Die Ideale, denen wir uns verschrieben hatten, fanden in der Breite der Gesellschaft nicht die selbstverständliche bis begeisterte Akzeptanz, die ihnen unserer Meinung nach zukam. (…) Aufklärung, Propaganda, Wissensvermittlung schienen an Grenzen geraten zu sein – meinten wir.« Blickt man chronologisch auf Aufsätze wie »Antisemitismus und Antikommunismus« (1961), »Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse und die subjektive menschliche Tätigkeit« (1965) und »Über die Entfremdung und ihre Überwindung« (1965), kann man beobachten, wie die »Nachdenklichkeit« auch bei Heise zunimmt.

Für Heises Denken markiert der Entfremdungsaufsatz einen »der wichtigsten Wendepunkte«⁹, wie Achim Trebeß bemerkt. Inwieweit es gelungen sei, Entfremdungserscheinungen abzubauen, entscheide über den Gütegrad einer sozialistischen Gesellschaft, so Heise. Gegenwärtig stünde die graduelle »positive Aufhebung der Entfremdung in den gesellschaftlichen Beziehungen«¹⁰ an. Die Widersprüche zwischen wissenschaftlichem und alltäglichem Bewusstsein, zwischen persönlicher und öffentlicher Sphäre, die durch einen Staat vermittelt werden, seien ein untrügliches Zeichen für Entfremdung im Sozialismus. Ihre Aufhebung sei ein Prozess, der dann abgeschlossen sei, wenn das Individuum »den gesellschaftlichen Lebensprozeß als Resultat seines Willens und seiner Macht bewußt betätigt und erfährt, (…) wenn es also einen – naturgemäß kollektiv vermittelten – Aktions- und Entscheidungsradius entwickelt und seine Identität mit der Gesellschaft als sein aktives Verhältnis realisiert und seine Fähigkeiten als reale bewußte Macht bestätigt werden«. Den Konterpart zur Entfremdung bildet also die komplizierte Aneignung des bereits Eigenen.

Ernüchternde Erfahrung

Der Artikel war in eine besondere historische und persönliche Gemengelage eingebettet. Im Mai 1963 fand in Liblice (ČSR) eine internationale Konferenz zu Ehren Franz Kafkas statt, an der Heise nicht teilnahm, auf der aber Entfremdungserscheinungen im Sozialismus diskutiert wurden, wie Werner Mittenzwei berichtet: »Die Dichtung Franz Kafkas bot sich an, um darzulegen, daß die Entfremdung auch im Sozialismus fortbestehe, daß aber die Menschen dagegen ankämpfen müßten.«¹¹ 1964 erlitt Heise zudem einen Nervenzusammenbruch, nachdem er sich gegen den Parteiausschluss Robert Havemanns ausgesprochen hatte, obwohl er dessen Denken äußerst kritisch gegenüberstand. Er verlor seine Stelle als Prorektor für Gesellschaftswissenschaften, wurde allerdings Dekan der Philosophischen Fakultät und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Volksbühne.

Im Umfeld des 11. Plenums des ZK der SED von 1965, auf dem eine konservative Wende in der Jugend- und Kulturpolitik vollzogen wurde, drehte sich außerdem der Wind zuungunsten derer, die »Entfremdung« als begrifflichen Schlüssel zur Analyse der eigenen gesellschaftlichen Verhältnisse nutzen wollten. Walter Ulbricht sprach beispielsweise auf der Konferenz zum 100. Geburtstag von Marx’ »Kapital« 1967 ein Machtwort: »Die Wirklichkeit des Lebens in der sozialistischen Gesellschaft bestätigt die Haltlosigkeit der bürgerlichen Behauptung von der Entfremdung im Sozialismus, die sich leider auch in den Auffassungen einiger sozialistischer Theoretiker widerspiegelt.« Eine erneute Zurechtweisung Havemanns verweigerte Heise abermals, die Forderung nach einem Bekenntnis zur militärischen Intervention im »Prager Frühling« soll er ebenfalls zurückgewiesen haben.

Ernüchtert von seinen politischen Erfahrungen und gezeichnet von hoher Arbeitsbelastung erlitt er 1968 einen ersten Herzinfarkt. Ein Weggang aus der DDR oder ein Rückzug ins Private kamen ihm allerdings nicht in den Sinn, weil in seinen Augen keine vernünftige Alternative zum Sozialismus existierte. Fortan begann er aber, sich weniger in unmittelbare Fragen der Gegenwart einzumischen, sondern sich der Geschichte der Aufklärung, der klassischen deutschen Philosophie und Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts zu widmen und seine Wirkungsbereiche zu wechseln.

Am Berliner Ensemble organisierte er ein Parteilehrjahr und beriet den Regisseur Benno Besson in künstlerischen Fragen. In der Ausein­andersetzung mit dem Schaffen von Künstlern wie Christa Wolf, Heidrun Hegewald und Volker Braun wirkte er vor allem als Gesprächspartner, Kritiker und persönlicher Ratgeber: »Indem er die Gedichte, Erzählungen, Theaterstükke [sic!] als erster las, ihr Werden in den verschiedenen Gestaltungsetappen verfolgen konnte, indem er Theaterinszenierungen von den ersten Proben bis zur Premiere begleitete, von den Künstlern ihre Schwierigkeiten erfahren hat und sie mit ihnen besprechen konnte, wußte er sozusagen aus erster Hand um die Spezifika künstlerischen Schaffens (…). Geduldig-unduldsam hat er ermutigt, bestätigt, korrigiert und ist dabei in seinem Denken selbst ermutigt, bestätigt und korrigiert worden.«¹²

Unvollendete Projekte

Der intensive Austausch mit Künstlern und seine stupende Belesenheit bildeten die Grundlage für Heises weiteres Schaffen. 1968 holte Erwin Pracht ihn an die neu geschaffene Sektion Ästhetik und Kunstwissenschaft der Humboldt-Universität. 1972 wurde er dort zum ordentlichen Professor für die Geschichte der Ästhetik berufen. Er wirkte hier disziplinbildend. Ohne seine Arbeit wäre die Ästhetik als eigenständige wissenschaftlich-philosophische Disziplin gar nicht möglich gewesen.

Neben seinen veröffentlichten Schriften sind vor allem die im Wolfgang-Heise-Archiv der Humboldt-Universität aufbewahrten Manuskripte interessant. Darin findet man nicht nur den Entwurf einer interdisziplinär angelegten fünfjährigen Vorlesung zur globalen Kulturgeschichte der Menschheit. Auch sein Projekt »System und Wechselbeziehungen der Künste« (1970) finalisierte er nicht. In seinem Entwurf greift er seine frühen Überlegungen zur Ästhetik wieder auf. Ein allgemeiner Kunstbegriff sei unter den Bedingungen moderner Industrien, Technologien und Medien nicht zu realisieren. Vielmehr sei Kunst Bestandteil einer dem Sozialismus eigenen Lebensweise als Resultat der gesellschaftlichen Produktivkräfte. Die Bedeutung ästhetischer Tätigkeiten, die Wertungen herausfordern, habe längst den engen Bereich der Künste überschritten. Die Bedeutung ästhetischen Tuns erstrecke sich für Heise, wie Michael Franz kommentiert, »von der industriellen Formgestaltung bis zur Mode, von der Arbeitsplatzgestaltung über Weisen des Wohnens bis zu Großraum- und Landschaftsgestaltung«¹³.

Dass er dennoch bis zum Ende seines Lebens an einem allgemeinen Kunstbegriff festhielt, den er als Abstraktion dessen auffasste, was sich aus der historisch variablen Struktur und Funktion von Künsten ergibt, markiert eine Grenze seines Denkens, die er nie zu überwinden vermochte. Der Begriff der Kunst sei eine »Abstraktion«, schreibt er 1987, die »ein Gemeinsames der ästhetischen Produktions-, Widerspiegelungs- und Kommunikationsformen ganz unterschiedlicher realer geschichtlicher Systeme, Gesellschaften umfaßt – ein je strukturell und funktional unterschiedenes Ensemble von Künsten«¹⁴. Aber wer oder wodurch wird bestimmt, was Kunst ist?

Mit der ihm eigenen Präzision und Sensibilität extrahiert er aber auf diese Weise aus den von ihm besprochenen Kunstwerken ihren gesellschaftlichen Geist: »Wer die (…) Geschichte der historischen Dialektik von Wirklichkeit und Möglichkeit menschlicher Subjektivität, der objektiven und subjektiv erfahrenen, gelösten und ungelösten Lebenskonflikte, darin die der Dialektik von gesellschaftlichem Sein und Bewußtsein als massenhaftem Realprozeß; wer die Weltanschauung als Anschauung der Welt und individuelle wie kollektive Sinngebung untersucht – der findet hier (in Goethes Dichtung; M. K.) den ungeheuren Umkreis der Epoche, reflektiert unter den Bedingungen und Möglichkeiten der deutschen Lande.«¹⁵

»Kunst als Epochenspiegel« lautete folgerichtig der 1976 ursprünglich von Heise gewählte Titel für das von ihm in Jahrzehnten erarbeitete Material. Dieses ist in die letzten beiden postum erschienenen Bücher »Hölderlin. Schönheit und Geschichte« (1988) sowie in das von seiner Frau, der Romanistin Rosemarie Heise, herausgegebene Werk »Die Wirklichkeit des Möglichen. Dichtung und Ästhetik in Deutschland 1750–1850« (1990) eingeflossen. Für Heise bildete vor allem die Klassik die Norm einer Emanzipationsliteratur, deren ideologische Reife, politisches Problembewusstsein und prinzipieller Realitätssinn zum Vorbild der eigenen, sozialistischen Literatur werden sollten. Die Werke der Klassik sollten in weiten Teilen der Bevölkerung gelesen und diskutiert und deren Inhalte so in die Alltagspraxis eingebracht werden. Diesen hochgesteckten Anspruch gab er nie auf.

Mit seinem Wirken als Wissenschaftler und Gesprächspartner wollte er einen Beitrag zur Volksbildung leisten, wollte er zeigen, dass Literaturwissenschaft ein »soziales Organ« sei, »das ein historisches Selbstverständnis, ein bewußtes Verhältnis der Gegenwart zur Vergangenheit und dadurch der Zeitgenossen zu sich selbst vermittelt oder – bescheidener – vermitteln hilft«¹⁶. Heise hat erstens darauf beharrt, dass Kunst aus der gesellschaftlichen Praxis erwächst und zweitens immer wieder deutlich gemacht, dass auch sein eigenes Denken aus der selbst erfahrenen Lebenspraxis schöpft. Er gehört damit zu jenen Denkern, die Philosophie und Ideologie nicht künstlich voneinander trennen, sondern sich auf die ungeheuren Widersprüche ihrer Zeit einlassen. Eine solche Haltung ist heute äußerst selten.

Anmerkungen

1 Peer Pasternack: Der Wandel an den Hochschulen seit 1990 in Ostdeutschland, https://www.bpb.de/themen/deutsche-einheit/lange-wege-der-deutschen-einheit/310338/der-wandel-an-den-hochschulen-seit-1990-in-ostdeutschland

2 Peter-André Alt: Wende an Universitäten und Bibliotheken: Viele DDR-Wissenschaftler verloren ihre Stelle, Berliner Zeitung, 6.11.2019

3 Pasternack (s. Anm. 1)

4 Ebd.

5 Heiner Müller: o. T., in: Werke, Bd. 8, Frankfurt am Main 2005, S. 213

6 Wolfgang Heise: Zu einigen Grundfragen der Ästhetik. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 1/1957, S. 80

7 Wolfgang Heise: Aufbruch in die Illusion. Zur Kritik der bürgerlichen Philosophie in Deutschland, Berlin 1964, S. 191

8 Erich Hahn: Ideologiebegriffe gestern und heute. In: Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin 37, Berlin 2000, S. 57

9 Achim Trebeß: Entfremdung und Ästhetik. Eine begriffsgeschichtliche Studie und eine Analyse der ästhetischen Theorie Wolfgang Heises, Stuttgart/Weimar 2001, S. 263

10 Wolfgang Heise: Über die Entfremdung und ihre Überwindung [1965]. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 5/2003, S. 852

11 Werner Mittenzwei: Zur Kafka-Konferenz 1963. In: Günter Agde: Kahlschlag. Das 11. Plenum des ZK der SED 1965. Studien und Dokumente, Berlin 1991, S. 86

12 Renate Reschke: Wolfgang Heise und einige Quellen seines Denkens, https://edoc.hu-berlin.de/server/api/core/bitstreams/e6efb5e0-d94a-4135-b0bc-9da04ec4ddc6/content

13 Michael Franz: Der »Auszug der Ästhetik aus der Philosophie«. Philosophische Ästhetik auf dem Weg in die Interdisziplinarität. In: Hans-Christoph Rau/Peter Ruben (Hg.): Denkversuche – DDR-Philosophie in den 60er Jahren, Berlin 2005, S. 303

14 Wolfgang Heise: Über den Stellenwert der Kunst in Georg Lukács’ »Die Eigenart des Ästhetischen«, zit. n.: Michael Franz: Vom allgemeinen Kunstbegriff zur »mehrstelligen Ästhetik«. Philosophische Ästhetik in den »Weimarer Beiträgen«, in: Weimarer Beiträge 1/2005, S. 71

15 Jürgen Kuczynski/Wolfgang Heise: Bild und Begriff. Studien über die Beziehungen zwischen Kunst und Wissenschaft, Berlin/Weimar 1975, S. 65

16 Wolfgang Heise: »Der Tag ist angebrochen …« Unser Verhältnis zur Klassik als Verhältnis zur eigenen Geschichte. In: Ders.: Realistik und Utopie, Berlin 1982, S. 12

Von Martin Küpper erschien an dieser Stelle zuletzt am 9. Oktober 2024 die Dokumentation seiner Rede auf der von der jungen Welt ausgerichteten Veranstaltung »75 Jahre DDR. Was bleibt?«: »Ein Gespenst, von dem zu lernen ist«

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Franz Schoierer (8. Oktober 2025 um 12:01 Uhr)
    Die Tatsache, dass Wolf Biermann Wolfgang Heise als den »wahrscheinlich einzig richtigen Philosophen in der ganzen DDR« bezeichnete, will irgendwie nicht zu diesem Artikel passen. Wenn Martin Küpper von einer »konservativen Wende« spricht, die im Umfeld des 11. Plenums des ZK der SED von 1965 in der Jugend- und Kulturpolitik vollzogen wurde, ist das doch eine seltsame Formulierung. Er übernimmt damit die Sprachregelung der bürgerlichen Medien, in denen überwiegend von einem »Kahlschlag-Plenum der SED« (nach Recherche mit Google, auch die Rosa-Luxemburg-Stiftung macht da keine Ausnahme) gesprochen wird. Mit anderen Worten, das 11. Plenums des ZK der SED von 1965 hat die Erwartungen im westlichen Deutschland nicht erfüllt. Beispielhaft für die Enttäuschung in den bürgerlichen Medien ein Artikel im Deutschlandfunk vom 20.07.2015: »Betonköpfe setzen sich über Reformer durch (…) Honecker, politisches Ziehkind Walter Ulbrichts, tritt auf dem Plenum als Chefinquisitor auf. (…) Kultur-Exorzismus (…) Einzig ZK-Kandidatin Christa Wolf bringt den Mut auf, sich auf dem Plenum den Kulturstalinisten entgegen zu stellen.« Kurt Gossweiler schrieb in einem Artikel, in dem um die Versuche der Bourgeoisie ging, Einfluss auf die Besetzung von Posten in den sozialistischen Ländern zu nehmen: »Dazu gab es die Einteilung der Führer der kommunistischen Parteien in die ›Tauben‹ die zu fördern und die ›Falken‹, die zu bekämpfen waren; später taufte man dann die zu Fördernden in die ›Antistalinisten‹ und ›Reformer‹ um, und die zu Bekämpfenden und zu Eliminierenden in ›Stalinisten‹ und ›Betonköpfe.‹«
    • Leserbrief von Onlineabonnent/in André Möller aus Berlin (8. Oktober 2025 um 14:08 Uhr)
      Sie haben durchaus einen Punkt in ihrer Anmerkung, dass die Sprache des Gegners benutzt wurde und wird. Aber das Verbot einer ganzen Jahresproduktion von Gegenwartsfilmen, das Vor-den-Kopf-Schlagen von teuer ausgebildeten, im Sozialismus aufgewachsenen und lebenden Kulturschaffenden und die unintelligente »Vermarktung« des Plenums, haben ganz sicher mehr Substanz gekostet und damit Abkehr vom Sozialismus bewirkt, als beabsichtigt war. Man kann Künstler nicht an die Leine legen. Man hätte die Filme zeigen sollen, und dann mit den Machern und dem Publikum diskutieren sollen (Erik Neutzsch fand den Film »Spur der Steine« bestimmt nicht in seinem Sinne gefilmt). Honecker hätte das nicht vermocht. Walter Ulbricht wollte sein NÖSPL durchbringen, gegen die internen (und externen) Widerstände. Er wird Bauchschmerzen gehabt haben … ich meine, dass die damaligen Initiatoren und ihr Anhang einfach unsouverän, kleinbürgerlich und ohne echte Grundlage handelten, ähnlich wie 1976 in der causa Biermann, der den ganzen Tohuwabohu und echten Schaden gar nicht wert war.

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