Die verschwundene Bibliothek
Von Dieter Reinisch
Nach dem Abzug der palästinensischen Befreiungsorganisation PLO aus Jordanien 1971 verlegte sie ihre Strukturen in den Libanon und wurde dort eine bedeutende innenpolitische Kraft. Schon seit 1965 existierte ein Forschungszentrum der PLO in Beirut. Es entwickelte rasch eine rege Publikationstätigkeit, veröffentlichte auf Arabisch und Englisch Studien über die Geschichte, Politik und Wirtschaft von Israel und Palästina. Der Historiker Jonathan Marc Gribetz hat sich nun mit der Geschichte dieser interessanten Institution beschäftigt.
Angesiedelt war das Zentrum im westlichen Stadtteil Ras Beirut nahe der Rue Hamra, zehn Gehminuten von der American University. Im September 1982 marschierte die israelische Armee in den Stadtteil ein, der von libanesisch-muslimischen, prosyrischen und palästinensischen Kräften dominiert war. Während mit Israel verbündete libanesisch-christliche Milizionäre Palästinenser in den Flüchtlingslagern Sabra und Schatila massakrierten, durchsuchten die Israelis das PLO-Forschungszentrum und brachten dessen große Bibliothek per Lastwagen nach Israel.
Palästinensische Vertreter protestierten damals bei internationalen Organisationen und erklärten, der Angriff auf das Zentrum beweise, dass die Israelis nicht nur palästinensische Militante, sondern auch die palästinensische Kultur vernichten wollten. Die Proteste waren sogar erfolgreich: Im November 1983 gab Israel die Bibliothek im Zuge eines Gefangenenaustauschs wieder heraus. Sie wurde nach Algerien geflogen, wo sie dann allerdings verschwand.
Ein beachtlicher Teil der umfangreichen Sammlung der PLO bestand aus teils seltenen Büchern über die jüdische Geschichte, den Zionismus und Israel. In »Reading Herzl in Beirut« untersuchte Gribetz das PLO-Forschungszentrum von seiner Gründung bis zur Vertreibung der PLO aus dem Libanon im Jahr 1983. Ein erheblicher Teil der Arbeit beschäftigt sich mit Büchern, die das Zentrum veröffentlicht hat. Hier fokussiert Gribetz leider fast ausschließlich auf Abhandlungen über den Zionismus, wodurch – Absicht oder nicht – beim Leser der Eindruck entstehen muss, genau dieses Thema sei der Dreh- und Angelpunkt der Arbeit des Instituts gewesen.
Letztlich engt er das Thema noch weiter ein und konzentriert sich auf die Frage der Rezeption des Zionismus durch die palästinensischen Forscher. Obwohl er darauf hinweist, dass diese Forscher »zu einem Zeitpunkt acht unterschiedliche politische Fraktionen repräsentierten«, darunter die beiden marxistischen palästinensischen Fraktionen PFLP und DFLP, die libanesische und die irakische KP sowie prosyrische Strömungen, geht er auf Debatten und unterschiedliche Akzente innerhalb des Zentrums nicht ein.
Handwerklich erweist sich das Buch weithin als Zusammenstellung unterschiedlicher Episoden und Biographien einzelner Akteure, bei denen oft nicht klar ersichtlich wird, wie das alles miteinander zusammenhängt. Dazwischen finden sich lange, deskriptive Passagen, etwa zur Publikationsstrategie des Zentrums. Auffallend ist das Fehlen einer politischen Analyse, und vor allem deshalb ist diese Arbeit nicht die erhoffte Geschichte einer wichtigen und heute fast völlig vergessenen intellektuellen Einrichtung im palästinensischen Freiheitskampf. Dieses Buch ist leider eine vertane Chance.
Jonathan Marc Gribetz: Reading Herzl in Beirut: The PLO Effort to Know the Enemy. Princeton University Press, Princeton 2024, 408 Seiten, 29,95 US-Dollar
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