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Aus: Ausgabe vom 11.09.2025, Seite 12 / Thema
Ukraine-Krieg

Von Netzen und Gräben

Die Ukraine setzt bei der Verteidigung auf das architektonische Erbe der Sowjetzeit und ein gestaffeltes System von Verteidigungswällen und Antidrohnenkorridoren. Gegen die russische Lufthoheit hilft das aber nicht
Von Lars Lange
Herzstück der ukrainischen Rüstungsindustrie: Das Maschinenbaukombinat Juschmasch in Dnipro, das über ein weitverzweigtes Netz an Stollen und Tunneln verfügt (21.10.2014)
Flexibel einsetzbarer Unterstand der Firma Metinvest, der auch als Feldlazarett genutzt werden kann (3.5.2025)

Die Festung ist zurück. Was in Europa lange als Relikt vergangener Jahrhunderte galt, prägt heute die Schlachtfelder der Ukraine. Städte verwandeln sich in Bastionen, Industrieanlagen in unterirdische Bunker, Straßen in Linien aus Beton und Stacheldraht. Russland setzt auf Raketen, Drohnen und Gleitbomben – die Ukraine antwortet mit Mauern, Gräben und Netzen aus Stahl. Zwischen den Trümmern der sowjetischen Industrie und den improvisierten Neubauten der Gegenwart entsteht so ein Verteidigungsnetz, das den Verlauf des Krieges mitbestimmt.

Dieses Muster zieht sich durch den gesamten Krieg. Die Ukraine verteidigt sich nicht nur mit westlichen Waffen, sondern auch mit Beton, Stahl und Untergrundanlagen – Überbleibsel sowjetischer Architektur, die einst für den Atomkrieg gedacht war. Vom »Satan’s Lair« in Dnipro über das Malyshev-Panzerwerk in Charkow bis zum Asowstal-Stahlwerk in Mariupol haben sowjetische Industrieanlagen ihre Resilienz im Ernstfall unter Beweis gestellt.

Gleichzeitig baut die Ukraine seit 2014 ein eigenes Netz an Befestigungen aus. Panzergräben, »Drachenzähne«, Stacheldrahtsperren und seit kurzem sogar Antidrohnenkorridore aus Stahlnetzen ergänzen das sowjetische Erbe. Das Land hat gelernt, dass moderne Kriege nicht nur mit Präzisionswaffen gewonnen werden. Die Widerstandskraft der Ukraine ruht damit auf einer doppelten Grundlage: der Industriearchitektur der Vergangenheit und den Festungsbauten der Gegenwart.

Unterirdische Giganten

Das Maschinenbaukombinat Juschmasch in Dnipro gilt seit Jahrzehnten als Herzstück der ukrainischen Rüstungsindustrie. Hier wurde im Kalten Krieg die Interkontinentalrakete R-36M produziert, im Westen SS-18 »Satan« genannt, weshalb das Werk dort den Beinamen »Satan’s Lair« (Satans Höhle) erhielt. Schon in den 1950er Jahren war die Anlage so konzipiert, dass neben den oberirdischen Montagehallen ein weitverzweigtes Netz aus Werkstollen, Kommandoräumen und Tunneln entstand, tief unter der Erde und ausgelegt für den schlimmsten denkbaren Fall: einen Nuklearangriff.

Diese Architektur erweist sich im aktuellen Krieg als strategischer Vorteil. Seit Beginn der russischen Invasion wird Juschmasch immer wieder beschossen, zuletzt Ende August 2025, als Raketen und Luftschläge nicht nur die Fabrik, sondern auch das Jangel-Konstruktionsbüro, Motor Sitsch in Saporischschja und das Chemiewerk Pawlograd trafen. Nach Darstellung des russischen Generalstabschefs Waleri Gerassimow wurden dabei Schlüsselbereiche der ukrainischen Rüstungsproduktion zerstört, darunter Werkstätten für Raketentriebwerke, Gefechtsköpfe und Drohnensteuerungen. Doch westliche Beobachter verweisen darauf, dass trotz schwerer Schäden große Teile der Produktion weiterlaufen. Der Grund: Ein erheblicher Teil der Infrastruktur befindet sich in Tunneln und Werkshallen, die tief genug liegen, um auch wiederholten Präzisionsschlägen standzuhalten.

Ähnlich verhält es sich mit dem Malischew-Werk in Charkiw, dem traditionsreichsten Panzerproduzenten des Landes. Nach seiner fast vollständigen Zerstörung im Zweiten Weltkrieg ließ Stalin es als kriegsresilienten Industriebau wiederaufbauen. Unterirdische Montageflächen, Werkstollen und ein internes Schienennetz verbinden die verschiedenen Hallen miteinander. Unbestätigten Berichten zufolge können bis zu 90 Panzer gleichzeitig in den unterirdischen Bereichen gelagert werden. Auch dieses Werk wurde seit 2022 mehrfach getroffen, doch die Instandsetzung läuft weiter. Für die ukrainische Armee ist Malischew die wichtigste Adresse, wenn es darum geht, beschädigte Panzer und Schützenfahrzeuge wieder einsatzfähig zu machen. Dass die Reparaturen trotz wiederholter Bombardierungen nicht völlig zum Erliegen kamen, zeigt, wie tief die sowjetische Vorstellung von Industrie als Bestandteil der Verteidigungsarchitektur in die Stadt Charkiw eingeschrieben ist.

Noch deutlicher wurde der militärische Wert sowjetischer Bauweise während der monatelangen Belagerung von Mariupol im Frühjahr 2022. Das Asowstal-Stahlwerk, einst Symbol der sowjetischen Schwerindustrie, verwandelte sich in eine Festung. Seine gigantischen Untergeschosse, ursprünglich für die Metallurgie gedacht, boten Raum für improvisierte Lazarette, Kommandoposten und Rückzugsorte für Zivilisten. Hunderte Menschen hielten dort wochenlang unter katastrophalen Bedingungen die Stellung, geschützt von Betondecken und Stollen, die selbst heftigen Artillerie- und Luftschlägen standhielten. Als die letzten Verteidiger im Mai 2022 kapitulierten, war Asowstal längst zum internationalen Symbol für den Widerstand der Ukraine geworden – und zum Beleg dafür, dass Industrieanlagen im sowjetischen Maßstab mehr waren als bloße Produktionsstätten.

Neben diesen bekannten Giganten existieren zahlreiche weitere Relikte der sowjetischen Wehrarchitektur. Die Katakomben unter Odesa, ursprünglich Steinbrüche, wurden in der Nachkriegszeit mit dem Gedanken genutzt, sie im Ernstfall als atomare Schutzräume herzurichten. Die Salzminen von Soledar mit ihren gigantischen Hohlräumen galten lange als möglicher Rückzugsort, auch wenn ihre militärische Nutzung im Krieg von 2022/23 begrenzt blieb. Und in Perwomajsk, rund 300 Kilometer südlich von Kiew, erinnert heute ein Museum an den einstigen unterirdischen Gefechtsstand der strategischen Raketentruppen. Der Bunker, auf Stoßdämpfern gelagert und autark ausgelegt für mehrere Wochen, zeigt, auf welchem technischen Niveau die Sowjetunion im Kalten Krieg ihre militärische Infrastruktur ausbaute. All diese Beispiele verdeutlichen, dass die Ukraine ihre Widerstandskraft nicht allein aus westlichen Waffenlieferungen zieht.

Städte als Festungen

Felder und Wiesen lassen sich kaum verteidigen. Sie bieten keine Deckung, keine Unterstände und keinen Platz für Nachschub. Der Krieg braucht Hohlräume – Mauern, Keller, Schächte, Hallen. Je mehr Kubikmeter Beton verbaut sind, desto schwerer wird es für den Angreifer. Deshalb werden in der Ukraine nicht die offenen Landschaften zum Drehpunkt der Schlachten, sondern die Städte. Hier konzentriert sich das Material, hier entstehen die Räume, in denen sich Verteidigung organisieren lässt. Und so verwandeln sich Fabriken, Wohnblocks und Straßenzüge in Bastionen, deren Beton den Verlauf der Kämpfe bestimmt. Vor allem im Donbass hat Kiew seit 2014 ganze Regionen in ein Netz von »Festungsstädten« verwandelt, das bis heute die russischen Angriffe bremst.

Die Ukraine hat dort nach 2014 einen ganzen Gürtel solcher Bastionen geschaffen: Kramatorsk, Slowjansk, Kostjantiniwka und Druschkiwka bilden zusammen das Rückgrat der Verteidigung im Norden der Donezker Oblast. Kramatorsk zeigt sich bislang stabil, auch wenn die Stadt längst im Radius russischer Angriffe liegt. Doch die Lage in den Nachbarstädten ist deutlich schlechter. Slowjansk und Kostjantiniwka geraten zunehmend unter Druck, die Versorgungsstraßen stehen bereits unter russischem Feuer, und die Gefahr einer Einkesselung wächst.

Noch dramatischer ist die Situation in Pokrowsk. Der Eisenbahnknoten westlich von Donezk, lange Zeit als Schlüssel zur ukrainischen Logistiklinie beschrieben, ist inzwischen selbst zum Schlachtfeld geworden. Russische Einheiten haben Teile des Stadtzentrums erreicht, während die Zufahrtsstraßen unter ständigem Beschuss stehen. Die Verteidiger halten weiter stand, doch die Stadt ist bereits schwer gezeichnet – ein Beispiel dafür, wie eine zur Festung ausgebaute Stadt in einen Abnutzungskrieg auf engstem Raum gezogen wird.

Auch weiter nördlich, in der Oblast Charkiw, setzt die Ukraine bewusst auf Städte als Bollwerke. Im April 2024 inspizierte Präsident Wolodimir Selenskij in der Grenzregion eine Reihe neuerrichteter Verteidigungsanlagen: Schützengräben, Betonpyramiden, »Drachenzähne« und Unterstände. Nach einer russischen Offensive 2024 über Kupjansk und Woltschansk, die ukrainische Verteidiger zunächst zurückschlugen, wurde Charkiw zur Priorität – ein faktisches Bollwerk im Nordosten. Unterdessen erstrecken sich die modernen Befestigungslinien nun von Charkiw bis Saporischschja, mit mehreren Schichten aus militärischen und zivilen Baueinheiten, um russische Vorstöße zu bremsen.

Kiew schließlich steht für die vielleicht bekannteste Form sowjetischer Doppelarchitektur. Die Metro der Hauptstadt, mit ihren tief unter der Erde liegenden Stationen, wurde im Kalten Krieg nicht nur als Verkehrssystem, sondern auch als Luftschutzraum gebaut. Seit 2022 wird sie regelmäßig genutzt, wenn russische Raketen und Drohnen die Hauptstadt treffen. Die Bilder von Kindern, die zwischen Marmorwänden auf Matratzen schlafen, sind längst zu Symbolen dieses Krieges geworden. Für die Stadt bedeutet die Metro aber mehr als nur Schutz für die Zivilbevölkerung. In einer belagerten Hauptstadt kann sie auch als Rückgrat der Verteidigung dienen – ein unterirdisches Netz, das selbst heftigen Angriffen standhält.

So unterschiedlich die Beispiele sind – ob Kramatorsk im Donbass, Pokrowsk als logistischer Knoten, Charkiw als Metropole oder Kiew mit seiner Metro – sie alle zeigen, dass die Ukraine die Rückkehr der Festung aktiv gestaltet. Jede Stadt wird zur Bastion, jede Industrieanlage zum möglichen Verteidigungspunkt. Für Russland bedeutet das, dass selbst dann, wenn es auf dem Land zwischen den Städten Geländegewinne erzielt, die eigentlichen Schlachten im Untergrund geschlagen werden.

Dass Städte wie Kramatorsk, Slowjansk und Kostjantiniwka heute so verbissen verteidigt werden, liegt auch an ihrer strategischen Bedeutung. Dieser Festungsgürtel ist die letzte geschlossene Verteidigungslinie, die die offene Steppe nach Westen abschirmt. Fällt er, öffnet sich für Russland ein breiter Korridor bis hin zum Dnipro. Hinter den Städten gibt es keine vergleichbare Befestigungslinie mehr, und die weiten Felder würden den Angreifern ein schnelles Vorrücken ermöglichen. Die Eroberung des Festungsgürtels kann die faktische Niederlage der Ukraine bedeuten.

Gräben und Stacheldraht

Die sowjetischen Bauten liefern der Ukraine bis heute Schutz, doch das Rückgrat der Verteidigung entsteht im laufenden Krieg. Seit 2014, verstärkt seit der russischen Invasion 2022, baut Kiew an einem mehrschichtigen Netz aus Befestigungen, das quer durchs Land reicht. Es ist das ambitionierteste Projekt dieser Art seit Ende des Kalten Krieges – und es entscheidet darüber, ob die Frontlinien halten oder nicht.

Der Kern dieser neuen Architektur ist ein dreifaches System. Die erste Linie entsteht direkt durch die Fronttruppen: Schützengräben, kleine Unterstände, Stellungen, die oft unter Beschuss improvisiert werden. Dahinter arbeiten die Pionierregimenter an der zweiten Linie, mit schwerem Gerät für Panzergräben, Betonbunker und Sperranlagen. Die dritte Linie schließlich wird von regionalen Verwaltungen und Bauunternehmen gezogen. Sie umschließt die Städte mit Ringen aus Gräben, »Drachenzähne«n und Stacheldraht, oft ergänzt durch Minenfelder. So wächst eine Verteidigungslandschaft aus Gräben, Wällen und Beton, die den Vormarsch der russischen Truppen verlangsamen soll. Allein im Jahr 2024 flossen dafür über 46 Milliarden Griwna (950 Millionen Euro), knapp zwei Prozent des gesamten Militärbudgets – für 2025 ist der Betrag noch höher, aber geheim.

Die neuen Verteidigungslinien sind Antworten auf einen Krieg, der längst nicht mehr mit Massen von Panzern geführt wird. Kleine russische Angriffsgruppen auf Motorrädern oder Buggys, begleitet von Schwärmen aus Drohnen, sind heute die Regel. Dagegen setzt die Ukraine Stacheldraht in großem Maßstab ein. Er soll Fahrzeuge und Infanterie bremsen, sie bündeln und leichter zu Zielen für Drohnen machen. »Die Armee, die tiefer gräbt, ist die Armee, die überlebt«, sagt Oberst Oleg Resunenko, der den Bau eines fast 200 Meilen langen Abschnitts überwacht, dem Wall Street Journal.

Die Innovation liegt darin, dass die Linien kleiner, dichter und flexibler sind als noch zu Beginn des Krieges. Klassische Schützengräben aus dem Jahr 2022, in denen ganze Kompanien Platz fanden, gelten inzwischen als gefährlich, weil Drohnen dort leicht Lücken finden. Heute entstehen statt dessen tiefere Unterstände für kleine Gruppen, mit überdachten Zugängen und separaten Räumen für Drohnenpiloten. Über Straßen und Stellungen spannen die Pioniere Metall- und Kunststoffnetze, die als Antidrohnenkorridore dienen. Fahrzeuge bewegen sich darunter wie durch Tunnel, geschützt vor Angriffen aus der Luft.

All das geschieht unter permanentem Druck. Die Baukolonnen werden selbst Ziel russischer Drohnen und Artillerie, Bagger und Lastwagen gehen verloren, Arbeiter werden verwundet. Gleichzeitig verzögern Korruptionsfälle, überlastete Verwaltungen und fehlende Materialien die Arbeiten. In manchen Abschnitten warnen Soldaten, dass die Verteidigung lückenhaft bleibt und die Gefahr eines »Maginot-Effekts« droht – einer Linie, die groß gedacht, aber an den entscheidenden Stellen durchbrochen werden könnte.

Trotzdem entstehen Tag für Tag neue Gräben, Wälle und Drahtsperren. Von der Oblast Charkiw im Norden bis nach Saporischschja im Süden zieht sich heute eine Kette aus Betonpyramiden, Panzergräben und Draht – die »Neue Donbass-Linie«. Sie ist nicht unüberwindlich, doch sie zwingt Russland, für jeden Kilometer wertvolle Ressourcen einzusetzen. Und sie zeigt, dass die Ukraine aus den Erfahrungen der vergangenen Jahre gelernt hat – und ihre Verteidigungsarchitektur an die Realität eines Drohnenkriegs angepasst hat.

Technologische Innovationen

Der Bau von Verteidigungsanlagen ist in der Ukraine längst auch ein Wettlauf mit den Technologien, die den Krieg prägen. Jede Seite passt ihre Taktik binnen Wochen an, und die Verteidiger sind gezwungen, ihre Bauten permanent neu zu denken.

Besonders sichtbar wird das beim Einsatz von Drohnen. Russische FPV-Drohnen greifen gezielt einzelne Soldaten, Fahrzeuge oder Bagger an. Deshalb werden selbst Baugeräte heute oft mit improvisierten Schutzkäfigen gegen Drohnen versehen. Über Straßen und Stellungen spannen Pioniere Netze, die Angriffe aus der Luft abfangen sollen. Entstanden ist so eine Art Tunnelarchitektur aus Maschendraht, unter der sich Kolonnen bewegen können.

Auch der Stacheldraht hat eine Wiedergeburt erlebt. In dichten Spiralen und Netzen ausgelegt, bremst er nicht nur Infanterie, sondern kanalisiert kleinere Fahrzeuge wie Motorräder oder Buggys auf vorgegebene Routen, wo sie leichter von Drohnen erfasst werden können. Neu ist die Art seiner Verlegung: Unbemannte Bodenfahrzeuge rollen die Spulen autonom aus, während Luftdrohnen den Fortschritt überwachen. Der Draht, Symbol alter Kriege, ist so zum Baustein einer hochmodernen Drohnenabwehr geworden.

Parallel dazu setzt die Ukraine auf modulare Bauten. Der Konzern Metinvest liefert vorgefertigte Stahlunterstände, die gegen Artillerie bis 152 Millimeter ausgelegt sind. Sie werden an der Front wie Container eingesetzt – als Unterstände für Trupps, als Kommandoposten oder sogar als provisorische Feldlazarette. Ihr Vorteil liegt darin, dass sie schnell verlegt werden können.

Die Doktrin dahinter hat sich grundlegend gewandelt. Wo zu Beginn der Invasion lange, lineare Gräben dominierten, baut die Ukraine heute kompakte, vernetzte Verteidigungsinseln. Kleine Bunker, Unterstände und Netze bilden ein Mosaik, das sich flexibel anpassen lässt und den Gegner zwingt, auf engem Raum hohe Verluste zu akzeptieren. Der Krieg hat damit eine neue Logik bekommen: Nicht die Masse an Beton entscheidet, sondern die Fähigkeit, Bauten so anzulegen, dass sie den technischen Entwicklungen auf dem Schlachtfeld standhalten. Der Unterschied ist fundamental. Die Sowjetunion errichtete ihre Industrieanlagen, um einem Atomschlag zu trotzen. Die Ukraine baut ihre Unterstände, um Drohnenangriffe zu überleben.

Doch gegen die Rückkehr der Festung hat Russland eine Antwort gefunden: die Neuerfindung der Fliegerbombe. Mit den modernisierten FAB (Fugasnaja awiazionnaja bomba), alten sowjetischen Freifallbomben, die heute mit Gleitrüstsätzen ausgerüstet werden, zerstört die russische Luftwaffe systematisch die ukrainischen Verteidigungslinien.

FAB gegen Festungen

Allein zwischen Mitte August und Anfang September wurden im Raum Pokrowsk–Kostjantiniwka rund 1.500 Luftschläge gezählt – mehr als im ganzen Monat zuvor. Nach Auswertungen von Clément Molin auf seinem X-Kanal entfallen derzeit bis zu 40 Prozent aller russischen Luftangriffe auf diesen Frontbogen. Der Trend ist eindeutig: von knapp 1.000 Abwürfen pro Monat im Jahr 2024 auf durchschnittlich 3.000 bis 5.000 im Jahr 2025, mit Spitzenwerten von über 4.000 im August. Täglich gehen dort 40 bis 75 Bomben nieder.

Die Wirkung ist verheerend. FAB mit 500 Kilogramm Sprengkraft – inzwischen gibt es auch deutlich schwerere Modelle – schlagen nicht punktuell ein, sondern reißen ganze Grabenabschnitte weg. Auf Satellitenbildern und Karten zeigen sich Einschläge, die wie Perlen auf einer Schnur den Verlauf ukrainischer Schützengräben markieren. Ein einziger Treffer kann fünfzig Meter Verteidigungsstellung pulverisieren, Unterstände zerdrücken und Soldaten unter sich begraben. Verteidigungsanlagen, in die wochenlang Beton und Stahl verbaut wurde, verschwinden in Sekunden.

Die Ukraine kann diesen Bomben nichts entgegensetzen. Die russischen Jets werfen ihre Last aus einer Entfernung von bis zu 100 Kilometern ab, jenseits der Reichweite ukrainischer Mittelstreckenluftabwehr. »Patriot«- und »Iris-T«-Systeme schützen vor allem die Städte, nicht aber die kilometerlangen Frontlinien. Die Folge: Selbst dort, wo »Drachenzähne«, Stacheldraht und Antidrohnennetze den Boden sichern, werden die Befestigungen aus der Luft planmäßig zerstört. Damit sind die FAB zum eigentlichen Gegenstück der Festungsarchitektur geworden. Die russische Luftwaffe nutzt diese Waffe gezielt, um den »Festungsgürtel« von Pokrowsk bis Kostjantiniwka weichzuklopfen und eine Entscheidung noch vor Wintereinbruch zu erzwingen.

Die Ukraine verteidigt sich heute in einem Krieg, der alte und neue Formen zugleich kennt. Auf der einen Seite stehen die Relikte der Sowjetunion: gigantische Fabriken wie Juschmasch, unterirdische Panzerwerke wie Malischew oder die Festung Asowstal, die zeigen, wie sehr Beton und Stahl die Wehrlogik des Kalten Krieges geprägt haben – und jetzt die heimische Rüstungsindustrie schützen und so eine weitere Verteidigung erst möglich machen. Auf der anderen Seite stehen die neuen Linien aus Gräben, Draht und Netzen. Gemeinsam ergeben sie ein Verteidigungsnetz, das Russland bisher nicht durchbrechen konnte. Doch es ist ein brüchiger Schutz. Denn mit den modernisierten Fliegerbomben schlägt Moskau Schneisen in die Verteidigungsgürtel. Die Ukraine kann ihre Linien verstärken, sie kann Netze spannen und Beton gießen – doch solange die russische Luftwaffe unbehelligt aus sicherer Distanz Bomben abwirft, bleibt jede Befestigung vorläufig.

Lars Lange schrieb an dieser Stelle zuletzt am 17. Januar 2025 über die neuesten Entwicklungen der Drohnentechnik mit Blick auf den Ukraine-Krieg: »Töten durch die VR-Brille«

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in André M. aus Berlin (12. September 2025 um 11:47 Uhr)
    Sehr informativ und offenbar kenntnisreich! Objektiv und sachorientiert, wie man es sich wünscht. Lars Lange ist ein echter Gewinn …

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