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Aus: Ausgabe vom 10.09.2025, Seite 12 / Thema
Rechte Kampagne

Der erste Riss

Der Fall Brosius-Gersdorf: Von der Verfassungsrichterwahl zur »schwarz-roten« Koalitionskrise
Von Theo Wentzke
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Von einer rechten Kampagne zu einer sittlichen Unperson gemacht: Die Juristin Frauke Brosius-Gersdorf war unter permanentem Druck, sich öffentlich zu rechtfertigen, hier in der Talkshow von Markus Lanz (15.7.2025)

Die Besetzung einiger Richterstellen beim Bundesverfassungsgericht durch den Bundestag, sonst für kein Aufsehen gut, gerät im Sommer 2025 zu einer veritablen Staatsaffäre. Was (erstens) als programmatische Verleumdung der für einen Verfassungsrichterposten vorgeschlagenen Juristin Frauke Brosius-Gersdorf Fahrt aufnimmt, der Sache nach (zweitens) den staatlichen Zugriff auf die Frauen als zukünftige Mütter betrifft, woran (drittens) Teile der regierenden Union allerhöchste Fragen des gebotenen nationalen Geistes aufwerfen, zeugt (viertens) von einer Sollbruchstelle innerhalb der CDU/CSU-Fraktion, die über diesen Fall hinausweist.

»Linksradikale Agenda«

Teile der Unionsfraktion verweigern dem Kanzler und der Fraktionsführung die Gefolgschaft bei der geplanten Abstimmung über den vorher vereinbarten Personalvorschlag von Union und SPD. Um die Wahl der Professorin Brosius-Gersdorf zur Richterin zu verhindern, setzt diese lautstarke Minderheit, angestachelt von Beatrix von Storch und ihrer AfD-Fraktion sowie begleitet von einer regelrechten Kampagne rechter Blogs und Onlinemagazine, auf durchaus bewährte Techniken, mit denen in der Demokratie Kandidaten – freundlich ausgedrückt – zur Diskussion gestellt werden: Die Juristin selbst, wie sie schließlich öffentlich erklärt, erörtert und kommentiert wissenschaftlich Probleme des Rechts, wägt das »verfassungsrechtliche Dilemma« der Rechtslage bei Schwangerschaftsabbrüchen ab, widmet sich dem »Gegenstand der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem religiösen Kopftuch von Rechtsreferendarinnen«, einem rechtlichen »Widerspruch« beim Kopftuchverbot und dergleichen mehr.

Diese immanent juristischen Urteile werden zum Gegenstand der Kritik – und zwar im wesentlichen gleich in der Form ihrer interessierten Deutung als Verstoß gegen die rechtlich gebotene deutsche Sittlichkeit. Entsprechend wird die Juristin in den Rang einer »Aktivistin« mit einer verdorbenen »linksradikalen Agenda« erhoben, um sie als Person zu diffamieren. Dafür sind Falschaussagen über ihre juristischen Auffassungen ebenso geeignet wie zum Beispiel Plagiatsvorwürfe gegen sie und ihren Mann, die mit den umstrittenen fachlichen Einlassungen herzlich wenig zu tun haben. Denn die reihen sich nahtlos in eine Gesamtschau der Verurteilung und Verleumdung ein, die nichts als ihre persönliche Untauglichkeit für den hohen Richterposten öffentlichkeitswirksam veranschaulichen soll. Als nützlich erweist sich außerdem ein erzdemokratisches Argument: Die auf die Juristin gerichtete ablehnende Aufmerksamkeit, die der rechte Flügel der Union mit solchen Aktionen mittlerweile erzeugt hat und pflegt, holen dessen Vertreter sich, ohne extra nachfragen zu müssen, wieder als berechtigte Meinung »des Wählers« ab, der sie entsprechen – also als Berufungstitel, der ihre feststehende Diffamierung demokratisch legitimiert.

Dass Brosius-Gersdorf sich zwischenzeitlich wehrt und zusammen mit Faktencheckern zur Kenntnis bringt, wie »unzutreffend« und »realitätsfern« über sie geurteilt wird, hilft ihr ebensowenig wie ihr Rücktritt. Falschmeldungen werden zwar teilweise eingestanden, aber für irrelevant erklärt: Die Ablehnung selbst wird zum Argument; von ihrem Inhalt einmal abgesehen, bleibt schließlich die Tatsache, dass sie abgelehnt wird. Brosius-Gersdorf gilt nun als »umstritten« und deswegen als unwählbar. Der Versuch einer Richtigstellung wird ihr als Anheizen des Streits zur Last gelegt; dass sie schließlich zum Wohle des hohen Richteramts von der Kandidatur zurücktritt, gibt den Anfeindungen endgültig recht. »Es geht doch um Einigkeit!« erinnern diejenigen, die diese gezielt torpedieren.

Bei der hinterhältigen Art und Weise, eine potentielle Amtsträgerin zu diskreditieren, geht der politmoralische Grund für die Auflehnung freilich nicht verloren, nämlich der politische Kern: der Eingriff des Staates in die Schwangerschaft der Frauen.

Die Rechtswissenschaftlerin Brosius-Gersdorf hat es als Gutachterin der Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin¹ der letzten Regierung zur Änderung des Paragraphen 218 des Strafgesetzbuchs (StGB) für verfassungsrechtlich möglich und geboten erklärt, die bisherige Rechtslage neu zu beurteilen. Das ist der sachliche Anknüpfungspunkt der Aufregung.

Grundsätzlich strafbar

Die Sache, um die von Politikern, Verfassungsrichtern und Verfassungsrechtlern sowie in der Öffentlichkeit mit hohem Ethos und Eifer gestritten wird, betrifft den Willen von Frauen in ganz elementarer Weise: Wieviel zählt das Interesse einer ungewollt schwangeren Frau? Dass der Gesetzgeber sich die Entscheidung darüber vorbehält, ist alles andere als selbstverständlich, auch wenn alle davon ausgehen – geht es doch um das Privateste und Intimste, den Bereich von Lust und Liebe. Wer mit einem Mann ins Bett geht, plant ja nicht gleich die Zeugung eines Kindes. Wenn die Verhütung nicht klappt, hält die Medizin seit vielen Jahrzehnten bewährte Methoden bereit, die dafür sorgen können, dass aus der ungewollten Vereinigung zweier Zellen gar nicht erst ein Kind entsteht, Genuss und Kinderwunsch, Sexualität und Fortpflanzung also glücklich getrennt bleiben können. Das will der Souverän aber nicht gelten lassen. Dass dieser Bereich für seine staatliche Aufsicht ziemlich sperrig ist, da hier Frauen und Männer, letztlich die Frauen, ihre Entscheidungen treffen, wie sie es mit der Mutterschaft halten wollen, erkennt er zwar heutzutage an, allerdings gleich in einer Form, die ihn ins Spiel bringt. Der deutsche Staat hält sich nicht etwa aus diesen Entscheidungen heraus, sondern verleiht der Mutter ein Recht: das zur »reproduktiven Selbstbestimmung«. Wie es Rechtsetzungen eigen ist, bestimmt nun der Rechtsetzer, wie weit dieses Recht geht. Denn kaum entscheidet sich die Frau, kein Kind austragen zu wollen, greift er ein. Was der dumme Zufall in der Gebärmutter der Frau hergestellt hat, dem abgeholfen werden soll und kann, erklärt er zu einem Diktat, dem gegenüber der Wille der Frau nicht einfach gilt. Wo die Natur dank moderner Medizin nichts mehr diktiert, diktiert der Staat, dass das befruchtete Ei neben seiner unscheinbaren biologischen noch eine Rechtsnatur hat, die zu bewahren er als Rechtshüter verpflichtet sei: Der Embryo hat ein »Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit«, womöglich sogar eine »unantastbare Menschenwürde«. Durch diese Konstruktion zweier Grundrechtsträger, die zwar rechtlich, aber nicht biologisch zu trennen sind, weil deren einer den anderen als Zellhaufen im Bauch hat, hat sich nun der Staat dazu berechtigt, über deren konfligierende Rechte zu befinden, sie »abzuwägen«.

Auch wenn vor lauter »Schutzpflicht für das ungeborene Leben« der staatliche Grund für diesen Zugriff auf die Frauen und Eingriff in ihren Willen gar nicht weiter zur Sprache kommt: Als Hüter seines Volkes hat der Staat ein elementares Interesse an dessen Fortbestand und sieht deshalb in jeder schwangeren Frau die werdende Mutter und Keimzelle der Nation. Indem der Staat nun jeder befruchteten und eingenisteten Eizelle ein Lebensrecht zuerkennt, definiert er jede Frau, die kein Kind gebären und großziehen will, als seiner Rechtsgewalt unterworfenen Problemfall und macht ihr das Leben schwer. Denn der Abbruch der Schwangerschaft ist auf diese Weise als grundsätzlich rechtswidrig und, in etwa so wie Mord und Totschlag, als Straftatbestand eingestuft. Vom Rigorismus des staatlichen Zugriffs auf die ungewollt Schwangeren und das medizinische Personal zeugen die einschlägigen Paragraphen 218 und 218 a StGB: Auf die Rechtswidrigkeit und somit Strafbarkeit wird nur dann verzichtet, wenn die Schwangerschaft Folge eines Sexualdelikts ist oder ihre Austragung für die Mutter mit Lebensgefahr oder einer sonstigen schweren Beeinträchtigung verbunden ist (kriminologische bzw. medizinische Indikation). Ansonsten stellt der Staat mit dem Paragraph 218 den Abbruch als Rechtswidrigkeit unter Strafe. Das gültige Recht geht also grundsätzlich von der Rechtspflicht zum Austragen einer ungewollten Schwangerschaft aus. Dass das gegen den Willen der Mutter nur schwer umzusetzen ist – zumal deren Lebensplanung, Partnerschaftsumstände, materielle Mittel vielfach dagegen sprechen, dieser Pflicht zum ungewollten Kind überhaupt nachkommen zu können –, hat der Gesetzgeber in Befolgung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts von 1993 (BVerfGE 88, 203) in eine bemerkenswerte Ausnahmeregelung gegossen: Er bleibt bei der Rechtswidrigkeit, duldet den Schwangerschaftsabbruch aber – soviel erklärt er dem von ihm gesetzten Recht auf reproduktive Selbstbestimmung der Frau schuldig zu sein –, indem er von einer Bestrafung absieht, sofern dieser in den ersten zwölf Schwangerschaftswochen erfolgt und die Schwangere die Hürde der Pflichtberatung, der obligatorischen dreitägigen Wartepflicht danach und der Kostenübernahme in der gesetzten Zeit bewältigt und rechtzeitig eine Abtreibungspraxis findet. Dies ist beileibe kein Freibrief zur Abtreibung. Die »ergebnisoffene« Pflichtberatung ist dem »Schutz des ungeborenen Lebens« verpflichtet und darauf ausgerichtet, »die Frau zur Fortsetzung der Schwangerschaft zu ermutigen«,² also vom Gesetzgeber absichtsvoll als würdiger Schlusspunkt der rechtlichen Betreuung der Schwangeren eingerichtet, um ihr noch einmal ernsthaft ins Gewissen zu reden. Gerade wegen des Verzichts auf Strafverfolgung ist es aus dessen Perspektive um so mehr angebracht, dass diese sich aus dem begangenen Unrecht, sich gegen ein Dasein als Mutter entschieden zu haben, wenigstens ein gehörig schlechtes Gewissen macht.

Diese gültige Rechtslage stellt nicht mehr alle Bundestagsabgeordneten zufrieden. Nicht dass sie die ungewollt schwangeren Frauen aus der hoheitlichen Kontrolle entlassen wollten. Aber in der SPD, bei den Grünen und Linken traut man den Frauen inzwischen mehr Verantwortungsbewusstsein bei ihren sich aus der Schwangerschaft rechtlich und moralisch ergebenden Pflichten zu, so dass man es doch mit einem liberaleren Gesetzentwurf in der letzten Legislaturperiode probieren wollte, der mangels Aussichten allerdings gar nicht erst in den Abstimmungsprozess eingebracht wurde.³

Rechtsimmanent widersprüchlich

Hier kommt die Gutachterin Brosius-Gersdorf ins Spiel. Im Bericht der von der damaligen Regierung eingesetzten Kommission hatte sie aus verfassungsjuristischer Sicht die gültige Rechtslage als rechtsimmanent widersprüchlich kritisiert und sich auch dem Verfassungsgerichtsurteil von 1993 nicht anschließen wollen. Durch eine etwas andere Gewichtung hoher verfassungsrechtlicher Prinzipien – Recht auf Leben, Menschenwürde, Selbstbestimmungsrecht – könnte das Verbot des Schwangerschaftsabbruchs gekippt werden: Würde das »Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit«, das laut Verfassungsgerichtsurteil ab der Einnistung des befruchteten Eies (Nidation) einsetzt, in den ersten zwölf Schwangerschaftswochen weniger schwer wiegen als das Selbstbestimmungsrecht der Frau, so wäre der Schwangerschaftsabbruch während dieses Zeitraums nicht länger rechtswidrig und strafbar. Und wenn man die »unantastbare Menschenwürde« nicht mit dem »Recht auf Leben«, das der Embryo habe, verknüpfen, sondern diese womöglich erst später, bei Lebensfähigkeit oder Geburt des Kindes ansetzen, juristisch: »anerkennen«, würde, wäre noch ein juristischer Widerspruch aufs schönste beseitigt, nämlich der zwischen eigentlich fortbestehend unbedingter Rechtswidrigkeit wegen Menschenwürde und rechtlich geregelter Zulassung des Schwangerschaftsabbruchs überhaupt.

Man sieht: Gerade weil die allerhöchsten Verfassungsgüter Abstraktionen sind, die von sich aus keinerlei detaillierte Vorgaben machen, ist bei deren ständig stattfindender (Neu-)Auslegung der Freiraum so groß wie der Bedarf des Gesetzgebers nach solchen Deutungen für seine konkrete Gesetzgebung und seine Reformvorhaben. So verdankt ja das befruchtete Ei den Zeitpunkt, ab wann bei ihm eine unantastbare Menschenwürde »vorliegt« (zusammen mit dem Recht auf Leben ab der Nidation), allein der Definitionsmacht des BVerfG, das ihm diese Rechtsgüter 1993 zuerkannt hat – eine Neuentscheidung dieser Frage könnte die Rechtslage einfach ändern. Auch wenn die Verfassungsrechtler an den Universitäten und die Verfassungsrichter in Karlsruhe auf den Schein großen Wert legen, ihre Auslegungen würden sich logisch aus den höchsten Verfassungsgütern und diese aus der Natur des Menschen ergeben: Die gewählte Argumentation ergibt sich daraus, welche Verbote und Erlaubnisse des Staates gegenüber seinen Bürgerinnen und Bürgern man haben und daher verfassungsrechtlich legitimieren will und welche nicht, die gegebenenfalls dann als verfassungswidrig verworfen werden. Am Verfassungsgericht entscheidet die Mehrheit der neun Richter oder Richterinnen in einem Senat; das Verfahren verbürgt die Richtigkeit der bindenden Entscheidung, ob das, was an Gesetzen geprüft wird, vor höchsten Verfassungsgeboten als legitim in Ordnung geht. So bestimmen Gesetzgeber und Verfassungsgericht darüber, was der freie Wille der Bürger darf, den der Staat haben will und bestimmt.

Der Kampf der Frommen

Dass mit Frauke Brosius-Gersdorf eine Juristin in einen Senat des Verfassungsgerichts einziehen könnte, die den Willen von Schwangeren nach Abbruch der Schwangerschaft nicht als rechtswidrig und diese Rechtswidrigkeit nicht als durch höchste Werte und die Natur geboten ansehen könnte, finden die Abweichler unter den Abgeordneten der Christlichen Union unerträglich – und legen die ganze »DNA der Unionsparteien« darein. Ihr Mutterrollenfanatismus leidet ja bei den besonders Christlichen sowieso schon unter der wegen der partiellen Straffreiheit heutzutage nicht mehr absoluten, sondern »nur mehr« relativen Kriminalisierung der Abtreibung. Zumindest die in der aktuellen Fassung des Paragraphen 218 festgehaltene generelle Rechtswidrigkeit, die die Abtreibung als verbotene, nur ausnahmsweise straffreie und auf jeden Fall schwer zu missbilligende moralische Missetat auch während der straffreien Periode ausweist, gilt es deshalb aus ihrer Sicht unbedingt zu bewahren. An die bisherige Fassung auch nur zu rühren, indem man – wie Brosius-Gersdorf es für verfassungsrechtlich geboten hält – den rechtlichen Verstoß beim Abbruch der Schwangerschaft auf die Zeit nach der zwölften Woche verschiebt, hieße ja, den bisherigen Rechtszustand der nur bedingt straflosen Rechtswidrigkeit in den einer – ebenfalls staatlich reglementierten, aber – Erlaubnis zu verwandeln. Damit wäre die Waffe der moralischen Ächtung entschärft, weil die abtreibende Frau dann rechtskonform handeln würde – und das geht für solche bevollmächtigten Aufpasser über Recht und Anstand in der Nation gar nicht. Also geht auch Brosius-Gersdorf als hohe Richterin nicht, und der sonst übliche und bislang anerkannte Pluralismus bezüglich der Abwägung höchster Rechtsgüter, der sich im Postengefeilsche der etablierten Parteien bei einem frei werdenden BVerfG-Richterstuhl widerspiegelt, wird mit gezielter Empörung abgelehnt. Diese Vorkämpfer eines »normalen« Deutschlands sind – auch darin geistesverwandt mit der AfD – so erpicht auf ihr Sittenbild von der klassischen Familie mitsamt der »natürlichen Mutterrolle« der Frau, dass sie an der aktuellen Rechtswidrigkeit die dadurch verbürgte Verletzung einer ganz elementaren moralischen Pflicht hochhalten, derer sich eine Frau gegenüber allem, was Sitte und Anstand fordern, schuldig macht, wenn sie aus privaten Erwägungen die Rolle als Familienbildnerin und so ihren Dienst an der Gemeinschaft verweigert: Der Abbruch muss verboten bleiben, damit jedem vor Augen steht, dass er sich auch nicht gehört. Ihr Bild von einer sittlich intakten Nation sehen sie durch rechtliche Änderungen und eingerissene Sitten während der »linken Jahre« (Gendern, Homoehe, immer mehr Geschlechter) ohnehin schwer unterhöhlt, so dass sie das rechtsimmanente Nachdenken über eine etwas liberalere Fassung des Paragraphen 218 zum Anschlag auf und Kulturkampf gegen den wertvollsten Besitzstand, den ein Mensch überhaupt sein eigen nennen kann, erklären – und die Professorin zur sittlichen Unperson, ideellen Kindermörderin und darum als BVerfG-Richterin untragbar: »Wenn Menschsein und Menschenwürde nicht mehr unauflöslich zusammengedacht werden«, sind damit »Grundfragen des Menschenbildes und unserer Verfassung«⁴ aufgeworfen.

Sollbruchstelle innerhalb der Union

Als Chef der Union ist Friedrich Merz mit dem Versprechen angetreten, den falschen Geist der letzten zwei Regierungen zugunsten entschlossener Tatkraft und konservativer Werte abzuräumen: »›Links ist vorbei. Es gibt keine linke Mehrheit und keine linke Politik mehr in Deutschland‹, hatte Merz in München beim Wahlkampfabschluss seiner Partei gesagt. Er werde wieder Politik für die Mehrheit der Bevölkerung machen, die gerade denke und ›alle Tassen im Schrank‹ habe – und nicht ›für irgendwelche grünen und linken Spinner auf dieser Welt‹, führte Merz aus.« (tagesschau.de, 23.2.2025)

Anlässlich der Abstimmung über einen Gesetzentwurf zur Verschärfung der Migrationspolitik Anfang des Jahres lässt er schon mal durchblicken, wie er sich das vorstellt – ausweislich seiner Begründung, dafür auf Stimmen der AfD zu bauen, nicht nur in diesem Fall, sondern im allgemeinen: »Was in der Sache richtig ist, wird nicht falsch, wenn die Falschen zustimmen.« Das will er zugleich nicht als Abriss der »Brandmauer« verstanden wissen: »Es gibt keine Zusammenarbeit zwischen Union und AfD.«

Seiner Union mutet Merz damit einen bleibenden Widerspruch zu: Er kündigt eine konservative Wende an gegen »grüne« Ideologien und linken Siff, in deren Geist die Politik der letzten Jahre Deutschland regiert und verdorben haben soll, und verweigert eine Zusammenarbeit mit dem großen rechten Wahlgewinner, der ihm dabei nur zu gerne behilflich wäre. Was an der AfD überhaupt noch »falsch« sein soll, wenn die gerade bei wichtigen innenpolitischen Themen dieselben Positionen wie die Union vertritt – eine eindeutige Antwort auf diese Frage hält der CDU-Chef in der Schwebe: zwischen einem formellen Unvereinbarkeitsbeschluss und dessen berechnender Relativierung für »richtige« Beschlüsse, zwischen der bedingungslosen Ächtung der AfD und ihrer bedingten Anerkennung als Konkurrenz, von der die Union sich gerade wegen politischer Überschneidungen als »seriöse« Alternative absetzen muss. Das ändert sich auch nicht mit der gewonnenen Wahl, die die konservative Wende demokratisch legitimiert. Bei seinem Kurs bleibt Friedrich Merz nur eine Koalition mit der – zuvor als »linke Spinner« diffamierten – SPD.

Der rechte Flügel der Union hält diesen Widerspruch nicht mehr aus. Die Wahl hat ihm schließlich amtlich bestätigt, dass das Recht des deutschen Volks auf »Normalität« nun endlich bedingungslos und ohne Kompromisse zum Zuge kommen muss und kann. Die Union ist durch die rechte »Mehrheit der Bevölkerung« dazu ermächtigt, endlich rigoros durchzusetzen, »was in der Sache richtig ist«. Gerade was den härteren Umgang mit Ausländern oder sittliche Lebensverhältnisse angeht, sind diese Rechten sich mit der AfD im Grunde so einig, dass ihnen deren Ächtung und Ausgrenzung – ganz im Sinne »des Richtigen« – als kontraproduktiv dafür erscheint, die erzvernünftigen Anhänger von AfD-Positionen zu vereinnahmen. Aus demselben Grund sind ihnen irgendwelche Kompromisse, die die Union dem amtlich attestierten Wahlverlierer SPD zugestehen muss, ein ständiger Dorn im Auge. Für die ganze Partei ist der auserkorene Koalitionspartner ein sehr lästiges Hindernis bei der Durchsetzung der für notwendig befundenen konservativen Wende, für das rechtskonservative Lager ein einziges Unglück. Als Gelegenheit, das auch rücksichtslos gegen die sonst geforderte Geschlossenheit der Regierungsfraktionen klarzustellen, hat der rechte Flügel der Union die Richterwahl genutzt. Für ihn ist die Wahl ein Fall einer prinzipiellen Entscheidung. Die Rettung der »Ehre der Partei«, die Deutschland vor »grüner« und linker Politik rettet, gebietet ein für allemal, dass es mit einer rechten Mehrheit nur noch rechtskonservative Politik für Deutschland geben darf.

Anmerkungen:

1 Bericht der Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin 2024, bundesgesundheitsministerium.de

2 »Paragraph 219 StGB: Beratung der Schwangeren in einer Not- und Konfliktlage (1) Die Beratung dient dem Schutz des ungeborenen Lebens. Sie hat sich von dem Bemühen leiten zu lassen, die Frau zur Fortsetzung der Schwangerschaft zu ermutigen und ihr Perspektiven für ein Leben mit dem Kind zu eröffnen; sie soll ihr helfen, eine verantwortliche und gewissenhafte Entscheidung zu treffen. Dabei muss der Frau bewusst sein, dass das Ungeborene in jedem Stadium der Schwangerschaft auch ihr gegenüber ein eigenes Recht auf Leben hat und dass deshalb nach der Rechtsordnung ein Schwangerschaftsabbruch nur in Ausnahmesituationen in Betracht kommen kann, wenn der Frau durch das Austragen des Kindes eine Belastung erwächst, die so schwer und außergewöhnlich ist, dass sie die zumutbare Opfergrenze übersteigt. Die Beratung soll durch Rat und Hilfe dazu beitragen, die in Zusammenhang mit der Schwangerschaft bestehende Konfliktlage zu bewältigen und einer Notlage abzuhelfen. Das Nähere regelt das Schwangerschaftskonfliktgesetz.«

3 Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs, Deutscher Bundestag 20. Wahlperiode, 20. November 2024, Drucksache 20/13775, S. 19: »Der Gesetzentwurf gestaltet die Schutzpflicht des Staates zugunsten des ungeborenen menschlichen Lebens im Respekt vor den Grundrechten der betroffenen Schwangeren aus. Er reagiert auf veränderte Erkenntnislagen seit den 1990er Jahren, die die frühere Annahme des Bundesverfassungsgerichts widerlegen, Frauen entschieden leichtfertig über die Fortsetzung einer Schwangerschaft und seien sich dabei ihrer Verantwortung nicht bewusst. Vielmehr werden Entscheidungen für oder gegen die Fortsetzung einer Schwangerschaft auf der Grundlage ›einer tiefen Reflexion der eigenen Lebensumstände und der prognostizierten Möglichkeiten für das Kind, einschließlich der Erwägung, ob eine sichere und förderliche Zukunft gewährleistet werden kann‹, getroffen (KOM-Bericht/Hahn, S. 85). Die häufigsten Motive, die als Grund für einen Schwangerschaftsabbruch genannt werden, sind finanzielle Nöte, Schwierigkeiten in der Partnerschaft und gesundheitliche Probleme (KOM-Bericht/Hahn, S. 87). Eine Strafdrohung gegenüber den Schwangeren erscheint vor diesem Hintergrund nicht gerechtfertigt. Der Schutz des ungeborenen Lebens sollte statt dessen bei den Schwangeren auf Beratung und soziale Unterstützung setzen.«

4 Elisabeth Winkelmeier-Becker, CDU-Bundestagsabgeordnete und ehemalige Vorsitzende des Rechtsausschusses, in der FAZ vom 18. Juli 2025, Gastbeitrag »Nicht unser Menschenbild«

Theo Wentzke schrieb an dieser Stelle zuletzt am 18. August 2025 über die Rolle der Gewerkschaften in Deutschland: Tarifstreit im Land der »Zeitenwende«.

Mehr zum Thema im Heft 3/25 der Zeitschrift Gegenstandpunkt und auf der Webseite: gegenstandpunkt.com

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