Tarifstreit im Land der Zeitenwende
Von Theo Wentzke
Bundeskanzler Friedrich Merz fordert, »wir müssen in diesem Land wieder mehr und vor allem effizienter arbeiten«, damit es mit Deutschland wirtschaftlich wieder vorwärtsgeht. Das muss man Deutschlands »Arbeitgebern« nicht zweimal sagen. Sie sind längst dabei, die Lohnarbeit unter ihrem betrieblichen Kommando in ihrem Sinne effizienter zu gestalten. Die Tarifabschlüsse der vergangenen Monate machen deutlich, was die Kapitalseite an der Errungenschaft einer modernen Tarif- und Sozialpartnerschaft hat: Die »Arbeitnehmer«-Vertretung muss nicht nur zusehen, wie sie mit der Umgestaltung der Arbeitswelt klarkommt, sie bemüht sich auch unermüdlich darum, bei alledem bloß nicht den Anschluss zu verlieren, damit sie weiter ihre Rolle als kompetenter Mitgestalter »guter Arbeit« spielen kann. So sorgt sie mit für die Fortschritte bei der »Effizienz« der Lohnarbeit in Deutschland, die der Kanzler einfordert.
Umfassender Lohnverzicht
Den Anfang macht zum Jahreswechsel der Abschluss für mehr als 100.000 Beschäftigte beim großen Wolfsburger Autokonzern VW. Nach einigen Verhandlungsrunden, die unter dem Vorzeichen gekündigter Beschäftigungszusagen und angedrohter Werksschließungen samt Massenentlassungen gestanden haben, wird wenige Tage vor Heiligabend verkündet, worauf die Tarifpartner sich in dem »für Volkswagen beispiellosen Tarifkampf unter historisch widrigen wirtschaftlichen Bedingungen« (Pressemitteilung IG Metall, 22.12.2024) geeinigt haben, so dass sie ihre Auseinandersetzung letztlich doch ohne größere Disruptionen haben beilegen können. Auf der Lohnseite steht zum einen die vollständige Abstandnahme von der ursprünglich geforderten siebenprozentigen Lohnerhöhung. Statt dessen gibt es für die VW-Stammbelegschaft eine bis Ende 2030 langgezogene Nullrunde. Hinzu kommt die Streichung bzw. langfristige Reduktion von mehreren bislang jährlich ausbezahlten Lohnbestandteilen wie Ergebnisbeteiligungen, Urlaubsgeld usw. Schließlich wird noch eine aus der Zeit gefallene Diskriminierung innerhalb der Belegschaft korrigiert: Ab Mitte 2025 gilt unterschiedslos für alle Beschäftigten eine wöchentliche Normalarbeitszeit von 35 Stunden, was für etliche Beschäftigte, die aufgrund langer Betriebszugehörigkeit unter den Bestandsschutz eines älteren Haustarifs fallen, eine Ausweitung der Normalarbeitszeit um ein bis zwei Wochenstunden bedeutet. Alles in allem kommt so eine absolute und relative Lohnsenkung zustande, wie VW sie unter Verweis auf seine »Krisenlage« verlangt hatte: Der Konzern verbucht das Resultat in seiner Pressemitteilung vom 20. Dezember 2024 als eine »Senkung der Arbeitskosten um 1,5 Milliarden Euro pro Jahr«.
Darauf hat die IG Metall sich eingelassen. Sie geht nämlich davon aus, dass die Kosten- und Gewinnrechnungen des Unternehmens die unübergehbare positive Voraussetzung jeder Bemühung der Gewerkschaft um ihre lohnarbeitende Klientel ist. Sie begreift diese Abhängigkeit von der betrieblichen Kalkulation nicht als den bleibenden negativen Grund für die Notwendigkeit ihrer gewerkschaftlichen Anstrengungen, sondern als deren selbstverständliche Grundlage, die die Arbeitnehmervertretung zur verantwortlichen Rücksichtnahme auf die Betriebslage nötigt. Unter den »historisch widrigen wirtschaftlichen Bedingungen« sieht sie sich von Haus aus in der Mitverantwortung für die Bewältigung der ausgerufenen Krisenlage von VW und für eine Umsetzung, bei der die einschneidenden Folgen für die Beschäftigten berücksichtigt, das heißt möglichst verträglich geregelt werden – beides im Interesse der arbeitenden Belegschaft, um deren Arbeitsplätze es hier schließlich geht.
In deren Namen verlangt die Gewerkschaft als Gegenleistung für die akzeptierten Lohneinbußen die Neuauflage der zuvor gekündigten »Beschäftigungssicherung«. In bezug auf die Einkommensquelle ihrer Mitglieder soll wenigstens gesichert sein, dass es sie weiterhin gibt, auch wenn die immer weniger von ihr haben. Eine Zusage hat die IG Metall zwar bekommen, allerdings verschafft sie ihr gar nicht wirklich den gewünschten Restposten an Sicherheit, für die sie die verlangten Lohneinschnitte in Kauf genommen hat. Denn die von VW vertraglich abgegebene »Garantie« schließt zwar betriebsbedingte Kündigungen bis Ende 2030 aus, allerdings keineswegs anderweitige Methoden des nachhaltigen Beschäftigungsabbaus. Der VW-Konzern verkündet im Zuge der Einigung eine »sozialverträgliche« Reduktion der Belegschaft und will bis zum Auslaufen der Beschäftigungssicherung mittels Auflösungsverträgen, Ausweitung der Altersteilzeit und Verzicht auf Nachbesetzung freiwerdender Stellen 35.000 Arbeitsplätze abgebaut haben.
Dass der VW-Konzern sich somit unterm Strich auf beiden Seiten, bei der Lohnfrage und bei der Beschäftigungsfrage, durchgesetzt hat – er bekommt zwar nicht einfach seine Maximalforderungen erfüllt, aber immerhin sofortige absolute Lohnsenkungen in Milliardenhöhe und auf die nächsten Jahre die verlangte Reduzierung der Belegschaft –, verbucht die IG Metall ironiefrei als Erfolg, den sie für die lohnabhängige Seite errungen haben will: Die Lohneinbußen mögen zwar schmerzlich sein, waren letztendlich aber unvermeidlich. Zudem erfüllen sie immerhin einen ziemlich guten Sinn und Zweck, helfen nämlich bei der Finanzierung der Sozialkosten für die Kollegen, deren Arbeitsplätze bis 2031 abgebaut werden sollen. Mit diesem solidarischen »Beitrag« der aktiven Belegschaft erspart sie dem Konzern die Kosten zu leistender Abfindungszahlungen, weil der sich am Lohn schadlos halten kann. So versöhnt die Gewerkschaft sich gleichermaßen mit den Lohnsenkungen wie mit den Beschäftigungskürzungen, in die sie jeweils eingewilligt hat: In ihrer Optik ermöglicht ihre Lohnzurückhaltung nun den sanften Beschäftigungsabbau, der allzu harte, betriebsbedingte Entlassungen vom Tisch wischt. Und sofern dem »Arbeitgeber« eingeleuchtet hat, dass er seine verlangten Kostensenkungen auch so erzielen kann, willigt er in den »Verzicht« auf betriebsbedingte Kündigungen als Mittel seiner ökonomischen Berechnungen ein, wo er die nicht mehr für notwendig befindet.
Darin besteht dann letztlich auch der gewerkschaftliche Triumph: Die IG Metall lobt sich dafür, dem Konzernmanagement wieder einmal gezeigt zu haben, »dass bei Volkswagen Veränderungen gegen den Willen der Belegschaft zum Scheitern verurteilt sind« (Pressemitteilung IG Metall, 22.12.2024). Ob diese stolze Prognose nun stimmen mag oder nicht – die Umkehrung stimmt auf jeden Fall: Mit der IG Metall als deren professioneller Interessenvertretung sind solche Veränderungen bei VW jedenfalls zu machen.
Bahn, Merz und EVG
Die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) sieht sich im Winter 2024/2025 vor einem aparten Problem: Sie befürchtet, dass ein künftiger Kanzler Merz im Zuge seiner Infrastrukturvorhaben »den immer lauter werdenden politischen Rufen nach Bahn-Zerschlagung« (EVG, Pressemitteilung zur Eröffnung der Tarifrunde, 23.1.2025) folgen könnte. Bei aller Ungewissheit, was das im Einzelnen bedeutet, geht sie instinktiv davon aus, dass ein so groß angelegtes Reformwerk am Ende auf Kosten der Jobs der Beschäftigten, die sie vertritt, gehen wird.
Gegen eine solche Befürchtung kennt sie als geübter Sozialpartner des DB-Konzerns zum Glück ein Mittel: Sie will mit der Bahn über eine »Beschäftigungssicherung« verhandeln, die über die Ungewissheit hinweg Wirkung entfalten und Arbeitsplätze schützen soll, auch wenn der Konzern umfassend umgebaut wird. Sie geht allerdings davon aus, dass das Zeitfenster, eine derartige Zusage für ihre Leute herauszuschlagen, sich schon sehr bald schließen könnte: »Wenn unsere Kolleginnen und Kollegen nicht zum Spielball der Politik werden sollen, geht das nur jetzt. Im März ist es dafür womöglich zu spät.« (ebd.)
Dann ist die Bundestagswahl nämlich gelaufen und die Bahn unter dem politischen Druck einer neuen Regierung möglicherweise nicht mehr zu solchen Zugeständnissen bereit. Aus diesem Grund stellt die EVG die Tarifrunde, in der sie über ihre Forderung verhandeln will und die sie dafür auch zeitlich vorgezogen hat – »die Tarifverhandlungen mit der DB AG erfolgen (damit) erstmals in der sogenannten Friedenspflicht« –, unter eine bemerkenswerte Prämisse: Die Gewerkschaft erlegt sich auf, unbedingt »innerhalb von drei bis vier Wochen« zu einer Einigung kommen zu wollen, und erklärt diese Vorgabe für »herausfordernd, aber machbar« (ebd).
Wie die Erfüllung eines solchen Wunsches nach Schnellvollzug für eine Gewerkschaft »machbar« ist, ist keine Frage. Die EVG stellt der »Arbeitgeber«-Seite dafür ein umfassendes Entgegenkommen in Aussicht und macht sich bereitwillig zu deren Spielball: Eine Lohnforderung hat sie zwar turnusgemäß aufgestellt, aber dass deren Erfüllung durch die Bahn nicht entscheidend ist, stellt sie gegenüber der Gegenseite schon dadurch klar, dass sie sie innerhalb der Friedenspflicht durchverhandeln will. Außerdem fordert sie für die tarifliche Lohnanpassung keine konkrete Laufzeit, was schon eine bemerkenswerte Geste des guten Verhandlungswillens ist: Immerhin gehen Gewerkschaften fest von inflationsbedingten Reallohnverlusten aus; die Notwendigkeit, sie in kürzeren Abständen kompensieren oder wenigstens abmildern zu können, zählen sie daher stets zu ihren Kernforderungen, jedenfalls zur entscheidenden Verhandlungsmasse, die sie sich erst abhandeln lassen. Diese Gewerkschaft meint es aber ernst: Eine Beschäftigungszusage will sie unbedingt. Derlei Reallohnverluste sind der Preis, den sie zu zahlen bereit ist, damit ihre Mitglieder in Zukunft überhaupt etwas zu verlieren haben.
Was die Gewerkschaft mit ihrem Vorgehen erreicht hat, wird kurz darauf Mitte Februar – da soll noch einer sagen, die Bahn könnte nicht pünktlich – als Tarifeinigung verkündet: Die besteht in drei stufenweisen Lohnerhöhungen knapp unterhalb des zu erwartenden Inflationsniveaus bei einer Laufzeit von 33 Monaten, welche der Bahn-Vorstand ausdrücklich lobt: »›Die sehr lange Laufzeit gibt uns die Planungssicherheit, die wir für die erfolgreiche Sanierung der Bahn dringend brauchen‹, sagte DB-Personalvorstand Martin Seiler nach Ende der fünftägigen Mammutverhandlungen« (Pressemitteilung der Deutschen Bahn, 16.2.2025).
Im Gegenzug gibt es, wie gewünscht, eine Beschäftigungssicherung bis zum Ende dieser Laufzeit. Allerdings – auf soviel Entgegenkommen musste der DB-Konzern dann doch bestehen – mit einer expliziten Öffnungsklausel für die sanierungsbedürftige DB Cargo, in der die Entlassungsgefahr am größten ist. Die Jobs sind also sicher, außer dort, wo sie es nicht sind.
Post und Verdi
Zwei Tage nach der Tarifeinigung für das deutsche Brief- und Paketgeschäft zwischen der Deutschen Post AG und Verdi Anfang März verkündet der Konzern einen Stellenabbau um 8.000 Beschäftigte. Die Entlassungen werden explizit unter Verweis auf den Tarifvertrag begründet, den der Konzern zwei Tage zuvor unterschrieben hat: »Nikola Hagleitner, die Personalchefin der Sparte Post & Paket Deutschland, hatte diesen Schritt unmittelbar nach dem Tarifabschluss mit Verdi angekündigt, allerdings etwas verklausuliert: ›Mit Blick auf das Umfeld und diesen Tarifabschluss werden wir daher unsere Kostensenkungsmaßnahmen konsequent erweitern und beschleunigen müssen‹, erklärte sie am Dienstag.« (WAZ, 7.3.2025)
Die Post AG tut damit kund, welche Gestaltungsfreiheit sie mit einer solchen Tarifeinigung in den Händen hält: Da vereinbart sie mit Verdi zuerst eine langgezogene Runde von Reallohnstagnation und schraubt die der Gewerkschaft so wichtige Forderung nach mehr freien Tagen auf ein Minimum herunter. Und gleich als nächstes stellt der Konzern klar, wie viele Beschäftigte in welchen Bereichen er zu diesen lohnenden Konditionen gebrauchen kann: Von 170.000 Beschäftigten sind unter dem neuen Vertrag mindestens 8.000 zuviel und können gehen.
Der Tarifabschluss mag noch so bescheiden ausfallen – kaum ist die Tarifrunde gelaufen, kündigt die »Arbeitgeber«-Seite an, zu der anderen »Kostensenkungsmaßnahme« zu greifen, die ihr neben der Festschreibung der Lohnhöhe zur Verfügung steht: Dieselbe Arbeit soll künftig von weniger Personal verrichtet werden. Die offiziellen Friedenszeiten zwischen den Tarifrunden sind für solche Rationalisierungsmaßnahmen prima geeignet; und die Post befürchtet offenkundig auch nicht, dass die Gewerkschaft dem etwas entgegensetzt. Die geht vielmehr vorauseilend davon aus, »dass das nur die Spitze vom Eisberg sein wird und dass weitere Tausende von Arbeitsplätzen wegfallen werden« (Betriebsratschef Thomas Held, 6.3.2025).
In einer Hinsicht muss Verdi der Gegenseite allerdings energisch widersprechen: »Die Aussage des Post-Vorstandes, der Tarifabschluss sei ein Treiber für den Stellenabbau, weisen wir entschieden zurück.« (Pressemitteilung Verdi, 6.3.2025)
Nicht in dem Sinne, dass sie die Schuldfrage zurückweisen würde. Die Gewerkschaft will sie anders beantwortet haben: Nicht sie mit ihrem Tarifabschluss trägt die Schuld, sondern »der beabsichtigte Stellenabbau ist Ergebnis eines durch die Politik geförderten unfaireren Wettbewerbs in einem immer schneller schrumpfenden Briefmarkt. Dieser Wettbewerb führt nur dazu, dass sozialversicherungspflichtige und tarifvertraglich geregelte Arbeitsplätze verloren gehen und prekäre Arbeitsbedingungen gefördert werden.« (ebd.)
Den blöden Konkurrenten und dem Staat als Aufseher dieser Konkurrenz gebührt also der Schwarze Peter. So macht die Politik es letztendlich unmöglich, dass Post AG und Belegschaft gemeinsam ihren gemeinwohldienlichen Auftrag, Briefe bis ins kleinste Dorf zu befördern, ordentlich erfüllen können. In dieser Beschwerde können dann »Arbeitgeber« und Gewerkschaft ganz ohne Streit prima zusammenkommen.
Weg frei für Mehrarbeit
Die Tarifrunde für den größten Tarifbereich des Landes, den öffentlichen Dienst, folgt in weiten Teilen dem für Deutschland gewohnten Muster: Der bestehende Tarifvertrag wird fristgemäß gekündigt, schon im Oktober formuliert Verdi ihre Forderungen. Unter dem Motto »Zeit für mehr – Geld, Freizeit, Entlastung« werden für die 2,6 Millionen Beschäftigten acht Prozent mehr Lohn und höhere Zuschläge für besonders belastende Tätigkeiten (Nachtarbeit, Wochenendarbeit, Wechselschicht) verlangt, außerdem drei zusätzliche freie Tage pro Jahr, die »Zeitsouveränität und Flexibilität« im Sinne der Beschäftigten herstellen sollen.
Die Rechtfertigungen beider Seiten folgen ebenso dem Drehbuch: Hinweise auf die nötige Stärkung der Kaufkraft und Binnennachfrage zeigen, dass beileibe kein profaner Materialismus, sondern der Dienst am großen Ganzen, nämlich dem Wirtschaftswachstum, der höhere Sinn dessen ist, was gewerkschaftlich verlangt wird. Davon lässt die Gegenseite sich wie immer nicht beeindrucken: Die Forderungen stellen lauter finanzielle Zumutungen dar, die in die jetzigen Zeiten schon gleich gar nicht passen.
Zur Empörung der Gewerkschaft verweigert die staatliche »Arbeitgeber«-Seite jedoch lange die Vorlage eines Gegenangebotes, auf das solche gewerkschaftliche Initialforderungen von vornherein berechnet sind, und lässt die »Arbeitnehmer«-Vertretung damit erst einmal ins Leere laufen. In den Wochen bis dahin kann die Republik sich dann im Namen ihrer vielbeschäftigten Pendler, meldepflichtigen oder sonst wie betreuungsbedürftigen guten Bürger darüber echauffieren, dass die Gewerkschaftsseite, um Druck auf die Gegenseite auszuüben, glatt Warnstreiks anzettelt, die gemäß Streikrecht nach Ende der Friedenspflicht während Tarifverhandlungen stattfinden dürfen. Neben der gewerkschaftsfeindlichen Stimmung, um die die freie Öffentlichkeit sich verdient macht, lassen die »Arbeitgeber« die Gewerkschaften bei ihren Streikmaßnahmen zum Teil auch ganz praktisch auflaufen. Für Aufregung sorgen in diesem Zusammenhang weniger die Maßnahmen der »Arbeitgeber«-Seite als etwa die Entscheidung von Verdi, den am Hamburger Flughafen angekündigten Warnstreik unangekündigt um einen Tag vorzuziehen – so dass er am ersten Ferientag der Osterferien stattfindet und zigtausend Sonnenanbeter vorzeitig stranden lässt. Auf Unverhältnismäßigkeit und Geiselhaft unschuldiger Urlauber angesprochen, rechtfertigt sich der verantwortliche Verdi-Mann:
»Wir haben ja nur in Hamburg den Streik vorziehen müssen und das aus einem ganz spezifischen Grund: Der Hamburger Flughafen hat versucht, über Leiharbeiter Streikbrecher heranzukarren, um die Streikwirkung zu unterlaufen. Dieser Einsatz von Leiharbeitern als Streikbrecher ist zwar rechtswidrig, aber es werden natürlich erst mal Fakten geschaffen, bevor wir dort rechtlich überhaupt Maßnahmen hätten ergreifen können … Das ist Ergebnis einer aus meiner Sicht unverantwortlichen Herangehensweise der Flughafenleitung« (Frank Werneke, 10.3.2025).
Es hilft nichts. Angesichts »weinender Kinder am Gate« (t-online.de, 9.3.2025) hat er mit solchen Hinweisen im Urteil der Öffentlichkeit leider keine Chance.
Das bezweckte Resultat der Verweigerungshaltung der »Arbeitgeber« tritt dann schließlich zum Abschluss der dritten Verhandlungsrunde ein: Die Verhandlungsführer von Bund und Kommunen erklären die Verhandlungen formell für gescheitert, was zur Einleitung des für solche Fälle vorgesehenen Schlichtungsprozesses führt. Streiks sind während der Schlichtung nicht zulässig. Der Kommissionsvorsitz fällt dieses Mal praktischerweise turnusgemäß dem Vertreter der »Arbeitgeber«-Seite zu; und in Gestalt von Prof. Dr. h.c. mult. Roland Koch steht die passende Figur zur Kompromissfindung bereit.
In der Schlichtung wird dann rasch die zuvor unmögliche Einigung erzielt, so dass der Kommissionsvorsitzende verkünden kann, mit dem erreichten Kompromiss im Dienste des reibungslosen Ablaufs des öffentlichen Lebens Schlimmeres abgewendet zu haben: »Sowohl die Arbeitgeber- als auch die Arbeitnehmerseite haben zur Vermeidung eines Arbeitskampfes erhebliche Zugeständnisse in Kauf nehmen müssen. Aber jetzt muss in den kommenden zwei Jahren niemand mehr Einschränkungen durch Arbeitskämpfe im bei weitem größten Tarifbereich Deutschlands befürchten.« (Roland Koch, Pressemitteilung der Schlichtungskommission, 28.3.2025)
Auch der Vertreter der Gegenseite zeigt sich zufrieden: »Nach dem Scheitern der Verhandlungen ist es in der Schlichtung gelungen, einen Kompromiss in den Schlüsselthemen Arbeitszeit und Bezahlung zu finden.« (Henning Lühr, von der »Arbeitnehmer«-Seite berufener Schlichter, ebd.)
Der gefundene Kompromiss, den Verdi seinen Mitgliedern zur Annahme empfiehlt, bedeutet auf der einen Seite, dass die »Arbeitnehmer« in Kauf nehmen müssen, dass die angepeilte Lohnerhöhung ein gutes Stück kleiner ausfällt: Anstelle von acht Prozent gibt es eine Erhöhung um drei Prozent in diesem Jahr und dann um 2,8 Prozent im Jahr 2026 plus eine jährliche Sonderzahlung. Auf der anderen Seite steht dafür eine »Weiterentwicklung der souveränen Gestaltung der individuellen Arbeitszeit« (ders., ebd.). Die empowerten »Arbeitnehmer« können nicht nur zugunsten von mehr freien Tagen auf Teile ihres Lohns verzichten, sondern künftig auch den umgekehrten Weg einschlagen: »Es wird zudem ab 2026 die Möglichkeit geschaffen, die wöchentliche Arbeitszeit beiderseits freiwillig auf bis zu 42 Stunden zu erhöhen.« (ebd.)
Ganz wichtig ist der Gewerkschaft dabei die Betonung der »doppelten Freiwilligkeit«: »Niemand kann gedrängt werden, mehr zu arbeiten – das ist Teil der Tarifvereinbarung. Und: Wer freiwillig mehr arbeitet, erhält für die zusätzlichen Stunden einen Aufschlag.« (Frank Werneke, Pressemitteilung Verdi, 6.4.2025)
Dass die »Arbeitnehmer« ihre »Arbeitgeber« gegen deren Willen zu längeren Arbeitszeiten drängen könnten, um mehr Geld zu kassieren, stand wohl ohnehin nicht zu befürchten. Aber von Drängen und Druck kann auch umgekehrt keine Rede sein, wenn »Arbeitnehmer« sich freiwillig auf das süße Angebot ihrer »Arbeitgeber« einlassen, deren Bedarf nach Mehrarbeit zum passenden Zeitpunkt zu erfüllen. Sie bekommen dafür schließlich mehr Geld in Aussicht gestellt und werden zu nichts gezwungen. Das ist auch gar nicht notwendig: Sie werden die entsprechenden Angebote mehrheitlich schon nicht ausschlagen wollen, für die nötige Bereitschaft wird die vereinbarte sanfte Lohnentwicklung in Kombination mit der Inflation schon sorgen.
Der Einigungsvorschlag regelt damit die wochenbezogene Überarbeit als zuverlässig käufliches Gut für die »Arbeitgeber«-Seite und nimmt ohnehin anstehende politische Bestrebungen vorweg, allzu starre Arbeitszeitregelungen aus der krustigen Vergangenheit über Bord zu werfen. So geht die bedarfsgerechte Organisation von Mehrarbeit im Tarifmusterland: Die neue Öffnungsklausel für die ausgedehnte Wochenarbeitszeit wird als gesteigerte Flexibilität insbesondere auch für »Arbeitnehmer« vereinbart. Damit geht der öffentliche Dienst bei der Ausweitung der Arbeitszeit als gutes Beispiel für die restliche bundesdeutsche Arbeitswelt voran.
Mehr zum Thema im Heft 2/25 der Zeitschrift Gegenstandpunkt und auf der Webseite: gegenstandpunkt.com
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