»Schreckensfahrt ohne Ende«

Es war einmal die ausdrückliche Zielstellung der früheren Berliner Verkehrssenatorin Regine Günther (Bündnis 90/Die Grünen), auf dem Wege der Ausschreibung der beiden Teilstücke Nord–Süd und Stadtbahn mehr »effektiven Wettbewerb« auf das Berliner S-Bahn-Netz zu bringen. Nun hat doch wieder die Deutsche Bahn (DB) das Rennen gemacht. War der ganze Aufriss also umsonst?
Nicht umsonst, vielmehr unfassbar teuer. Günther hatte 2019 versprochen, mit der Ausschreibung für das Land 800 Millionen Euro einzusparen. Bei geschätzten Gesamtkosten von acht Milliarden Euro ging sie also davon aus, dass Berlin eine S-Bahn in alleinigem DB-Betrieb 8,8 Milliarden Euro gekostet hätte. Aber schon bald darauf war von elf Milliarden Euro, im Herbst 2023 schließlich von 20 Milliarden Euro die Rede, wobei es am Ende vermutlich 25 Milliarden Euro sein werden. Statt auch nur einen Cent zu sparen, hätte man dann 16,2 Milliarden Euro an Mehrausgaben.
Und das mit einem Betreiber, den der damalige Senat aus SPD, Die Linke und Grünen eigentlich loswerden wollte. Dumm gelaufen?
Für die Fahrgäste und die Berliner Bürger auf alle Fälle. Wir erleben ja, wie die Stadt aus angeblichem Geldmangel soziale Einrichtungen und Projekte schließt, Kulturschaffenden Räume und Förderungen wegnimmt, die Hochschulen finanziell ausbluten lässt, die Verkehrswende und den Klimaschutz ausbremst. Und das alles wegen einer politisch gewollten Privatisierung. Zu lachen haben allein die Banken, die in die komplexen Kreditverträge eingebunden sind, und ein Großkonzern.
Damit meinen Sie das Konsortium aus DB, Stadler und Siemens?
Ja, bisher verkehrt einzig die DB auf dem Netz, künftig fahren Stadler und Siemens als Fahrzeuglieferanten mit, und das für 30 Jahre im Rahmen einer öffentlich-privaten Partnerschaft, ÖPP. Damit haben sie das große Los gezogen, weil sie im Dunkel der Schattenhaushaltsführung Mondpreise bezahlt bekommen und das Land Berlin für eine halbe Ewigkeit vertraglich gebunden ist. Und wenn Blackrock oder ein Hedgefonds mitkassieren wollen, kaufen sie Stadler, Siemens oder der DB ihre Anteile einfach ab. Solche ÖPP-Verträge werden im Durchschnitt alle sieben Jahre weiterveräußert.
Also eine lupenreine Privatisierung?
Ja, mit dreifacher Stoßrichtung: in Gestalt einer funktionalen Privatisierung, einer Privatisierung der Finanzierung und einer Kapitalprivatisierung. Funktional heißt: Der Staat, hier das Land Berlin, macht aus einer Daseinsvorsorgeleistung, dem S-Bahn-Verkehr, ein Finanzprodukt. Für 15 Jahre haben Private das Sagen, bezogen auf den Fuhrpark sogar doppelt so lange. Der Staat steuert nicht mehr, er zahlt nur noch. Zur Finanzierung: Das Konsortium verschuldet sich für das Projekt am Kapitalmarkt, als Sicherheit erhält es den Vertrag, die Zinsen von geschätzt acht Milliarden Euro zahlen die Berliner. Im Fall einer Pleite bekommt die Bank die Insolvenzmasse. Und eine Kapitalprivatisierung ist es, weil eben Siemens und Stadler börsennotierte Firmen sind, selbst die DB als Teil des Ganzen agiert als Privatunternehmen.
Mit welchen Folgen?
Vom einst geplanten Börsengang der DB AG haben die Berliner ja noch in schlechter Erinnerung, was Renditejagd bei der S-Bahn bewirkt, also Chaos, schlechten Service, hohe Preise. Insofern ist die neueste Vergabe kein Ende mit Schrecken, sondern eine weitere Station auf einer Schreckensfahrt ohne Ende. Derzeit funktioniert ja fast nichts mehr bei der S-Bahn, und diese Ausschreibung wird gerade nichts daran ändern. Alle erwarten, dass Alstom, der unterlegene französische Bieter, gegen das Ergebnis klagen wird. Das hat der Konzern schon einmal während des Verfahrens getan, und das Gericht hat deutlich signalisiert, dass da was zu holen ist. Es winken viele Millionen, wenn nicht Milliarden Euro an Entschädigung, und zwar fürs Nichtstun.
Welchen Ausweg gibt es noch?
Wenn die Klage kommt, hebt Berlin das Verfahren auf. Das darf es. Es müssen Entschädigungen gezahlt werden, aber nur für die Ausgaben der Bieter für ihre Angebote. Allein die Anwalts- und Gerichtskosten der Klage wären höher bei dem Streitwert. Dann erwirbt Berlin die Mehrheit der Anteile an der S-Bahn-Berlin GmbH. Die eigene GmbH kann Berlin dann ohne weiteres damit beauftragen, die S-Bahn zu betreiben. Wagen kauft man, wo es am besten passt. Das ist vermutlich bei Stadler, denn die haben gerade einen Typ neu entwickelt. Es wäre auch sehr sinnvoll, der DB Infra-GO das Netz abzukaufen, die vernachlässigt das gerade enorm. Es wäre win-win, die DB braucht dringend Geld, Berlin will das Netz ausbauen. Und im Betrieb entstünden neue Synergien.
Und dann wäre alles gut?
Wenn man die Einsparung von 16 Milliarden Euro für die öffentliche Hand gut findet, ja.
Carl Waßmuth ist Bauingenieur, Infrastrukturexperte und Sprecher beim Bündnis »Bahn für alle« in Trägerschaft des Vereins »Gemeingut in BürgerInnenhand«
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