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Aus: Ausgabe vom 31.01.2024, Seite 5 / Inland
Privatisierung der S-Bahn in Berlin

Hinterhalt Ausschreibung

Privatisierung der Berliner S-Bahn: Hängepartie für zwölf Milliarden Euro extra. Bündnis kritisiert »gigantische Täuschung« im Vergabepoker
Von Ralf Wurzbacher
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Überall lockt ein Stück vom Kuchen (Prellbock auf neuem S-Bahngleis in Berlin-Lichtenrade)

Es ist eines dieser Prestigeprojekte, die als große Verheißung starten und zu einer aberwitzig teuren Endlosbaustelle geraten. Mehr als drei Jahre nach Beginn der Ausschreibung zweier Teilnetze der Berliner S-Bahn zeichnet sich ein Riesendesaster für Fahrgäste und Steuerzahler ab. Aktuellen Presseberichten zufolge könnte sich das Verfahren wegen eines laufenden Rechtsstreits auf unabsehbare Zeit in die Länge ziehen.

Nach oben offen ist auch die Skala bei der Kostenentwicklung. Mittlerweile plane das Land mit 20 Milliarden Euro, schrieb am Wochenende der Tagesspiegel. Alarmiert zeigen sich die Bündnisse »Bahn für alle«, »Eine S-Bahn für alle« und der Verein »Gemeingut in BürgerInnenhand« (GiB). Am Montag forderten sie in einer gemeinsamen Stellungnahme den »sofortigen Stopp« des Vergabepokers.

Versprochen hatte deren Urheberin, Exverkehrssenatorin Regine Günther (Bündnis 90/Die Grünen), »effektiven Wettbewerb« bei »vernünftigen Preisen« und »dauerhaft guter Qualität«. Anfangs hatte sie mit Ausgaben von acht Milliarden Euro kalkuliert – für den Betrieb der Strecken sowie die Beschaffung und den Unterhalt einer modernen Fahrzeugflotte mit bis zu 2.160 neuen Waggons. Zwei Drittel des S-Bahn-Netzes sollten, so ihr Plan, von einem anderen Anbieter als der Deutschen Bahn (DB) betrieben werden.

Die ist in Gestalt ihrer Tochter, der S-Bahn Berlin GmbH, noch bis 2035 für das übrige Drittel, die Ringbahn und die südöstlichen Zubringer, zuständig. Den Zuschlag dafür bekam sie 2015, als damals einzige Bieterin und obwohl das Unternehmen sechs Jahre davor die legendäre Berliner S-Bahn-Krise zu verantworten hatte. Das sollte sich nicht wiederholen und die DB auf lange Sicht nach Möglichkeit ganz aus dem Berliner Netz verdrängt werden.

Denkste! Die komplexen Modalitäten der Ausschreibung begünstigen große Bietergemeinschaften und prompt trat die DB zusammen mit Siemens und Stadler als Konsortium auf den Plan. Die Bahn wäre Betreiberin, die beiden Zugbauer müssten die Fahrzeuge liefern und instand halten. Genau hier lockt das größte Stück vom Kuchen: Der Deal mit dem Fuhrpark soll im Rahmen einer öffentlich-privaten Partnerschaft (ÖPP) mit einer Laufzeit von 30 Jahren vonstattengehen.

Für die Pflege braucht es Werkstätten, die die DB schon hat, dazu fertigen Stadler und Siemens bereits die neueste S-Bahn-Reihe. Vorteile über Vorteile also, weshalb sich direkt etliche Bieter – bis auf den Alstom-Konzern – davongemacht haben. Der französische Fahrzeughersteller hat aber keinen Betreiber für die S-Bahn-Strecken im Gepäck und brachte deshalb 2021 die Justiz in Stellung, weil das Ausschreibungsdesign zur »Marktabschottung« einlade. Ein Urteil des Kammergerichts Berlins verzögerte sich mehrmalig, neuester Termin ist der 23. Februar. Bei einer Niederlage wird Alstom wahrscheinlich bis vor den Europäischen Gerichtshof (EuGH) ziehen.

Bis zu einem abschließenden Richterspruch können noch Jahre vergehen, in denen keine Vergabe erfolgt und die Kosten durch die Decke gehen. Eigentlich war der Betriebsbeginn für beide Netze für 2026 und 2028 vorgesehen, nun ist von 2030 die Rede. Für den neuen Fahrzeugpool waren einst 2,8 Milliarden Euro veranschlagt, mittlerweile rechnet der Senat nach Tagesspiegel-Recherchen nur für diesen Posten mit dem Doppelten. Dabei wollte das Land über den ÖPP-Kniff eigentlich 800 Millionen Euro sparen, die sonst in 15 Jahren als Gewinn an die DB abgeflossen wären. Und jetzt? Allein der auf den Gesamtauftrag gemünzte Kredit für die irgendwann einmal siegreichen Bieter soll sich laut »Bahn für alle« auf sieben Milliarden Euro extra belaufen.

»Dafür könnte Berlin mühelos die ganze S-Bahn kaufen«, befand am Dienstag Bündnissprecher Carl Waßmuth im Gespräch mit junge Welt. Statt dessen erlebe man »eine Hängepartie ohne Ende mit Mehrausgaben von mindestens zwölf Milliarden Euro – was für eine gigantische Täuschung«. Dabei sei all das absehbar und von langer Hand eingefädelt gewesen. »Diese Ausschreibung ist eine der größten und hinterhältigsten Privatisierungen in Deutschland, daran arbeiten hochbezahlte Lobbyisten hartnäckig seit 2012.« Die Alternative wäre dagegen »so simpel wie nur möglich«, betonte Waßmuth. »Berlin muss die Mehrheit der S-Bahn Berlin GmbH erwerben und die neuen Wagen selbst kaufen.«

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  • Leserbrief von Reinhard Hopp aus Berlin (31. Januar 2024 um 14:09 Uhr)
    Das nächste Milliardenloch (nach dem BER) tut sich somit bereits auf. Wie könnte es auch anders sein! Die Hauptstadt und Metropole Berlin bekommt eben gar nichts mehr planmäßig zustande, weder einen Flughafen noch eine fundierte öffentliche Ausschreibung; ja, nicht einmal mehr eine Bundestagswahl!

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