Der Leviathan lebt
Von Frank Deppe
In diesen Tagen erscheint Heft 143 der Zeitschrift Z. Marxistische Erneuerung mit dem Themenschwerpunkt »Staat und Kapital«. Wir veröffentlichen daraus redaktionell gekürzt und mit freundlicher Genehmigung von Herausgebern und Autor den Beitrag von Frank Deppe. Die Hefte von Z können bestellt werden unter: zeitschrift-marxistische-erneuerung.de (jW)
Das politische System der parlamentarischen Demokratie definiert sich durch das allgemeine Wahlrecht, den rechtsstaatlichen Schutz der Menschenrechte als individuelle Grundrechte sowie durch die Gewaltenteilung. Es gilt als Geschöpf des Liberalismus und der »Doppelrevolution« (Eric Hobsbawm), also von industrieller und politischer Revolution am Ende des 18. Jahrhunderts in England und Frankreich. Der Liberalismus ist die Ideologie einer Bourgeoisie, die sich gegen die Privilegien der Aristokratie und die Macht der absolutistischen Monarchie wandte, den Schutz des Privateigentums durch den Staat forderte und diesen verpflichten wollte, freie Märkte nicht durch »politische Monopole« zu beschränken. Der Dreiklang von »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« wurde schnell gestört; denn die Bourgeoisie verstand unter »Gleichheit« (als Rechtsgleichheit) etwas ganz anderes als die im Elend lebenden Volksmassen, deren Aufstand das Ancien Régime beseitigt hatte – und die »Brüderlichkeit« war nicht an die Frauen gerichtet, die noch viele Kämpfe ausfechten mussten, um gleichberechtigt als politische Bürgerinnen anerkannt zu werden.
Das allgemeine Wahlrecht wurde nicht von den Liberalen eingeführt. Es dauerte mehr als ein Jahrhundert, bis es in einigen Staaten Europas und Nordamerikas am Ende des Ersten Weltkrieges (und nach der russischen Oktoberrevolution des Jahres 1917) unter Einschluss des Frauenwahlrechtes eingeführt wurde. Seit dem frühen 19. Jahrhundert wurden die Kampagnen für Wahlrechtsreformen von der sich formierenden sozialistischen Arbeiterbewegung getragen – z. B. von den Chartisten in England. Die deutsche Sozialdemokratie kämpfte seit der Reichsgründung gegen das Dreiklassenwahlrecht für den preußischen Landtag sowie für das Frauenwahlrecht. In Frankreich wurde das allgemeine Wahlrecht erstmals in der Revolution von 1848 für die Wahlen vom 9. April 1848 angewandt.
Mit der Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise und dem wachsenden Einfluss der Liberalen auf die Politik blockierten die besitzenden Klassen (Aristokratie und Bourgeoisie) über die sogenannten »Ordnungsparteien« das allgemeine Wahlrecht. Sie versuchten, den Zugang zum individuellen Wahlrecht zu begrenzen und zu kontrollieren. Das Wahlrecht bleibt vielfach an Vermögen und Bildung gekoppelt (Zensuswahlrecht). Sie erfanden allerlei institutionelle und rechtliche Kontrollinstanzen, um die Ausübung der »Volkssouveränität« durch das Parlament – im Ergebnis von Wahlen sowie im Prozess der Gesetzgebung – einzuschränken. Die Angst vor möglichen parlamentarischen Mehrheiten, die die Privilegien der Besitzenden in Frage stellen, war groß. Es bedurfte der gewaltigen Erschütterungen durch den Ersten Weltkrieg, durch den Aufstieg der Parteien der II. Internationale sowie durch die revolutionären Bewegungen am Ende des Krieges, um die Beschränkungen der bürgerlichen Freiheiten im Rahmen der parlamentarischen Demokratie (die meisten nach britischem Vorbild noch als konstitutionelle Monarchien verfasst) zu überwinden.
Die Gründe für diese Zurückhaltung der besitzenden Klassen lagen auf der Hand. Sie fürchteten die Unterdrückung der individuellen Freiheit durch eine »Despotie der Mehrheit« – so hatte es der Liberale Alexis de Tocqueville in seiner Studie »Über die Demokratie in Amerika« (1835) formuliert. Und sie fürchteten, dass die Regierungen durch die in die Parlamente eindringenden sozialistischen Parteien gezwungen würden, nicht nur Wahlrechtsreformen, sondern auch sozialpolitische Reformen einzuleiten, um dem Anspruch auf Gerechtigkeit zu entsprechen oder gar der Gefahr einer proletarischen Revolution entgegenzuwirken. Friedrich Engels hatte kurz vor seinem Tod 1895 von der »Ironie der Weltgeschichte« gesprochen, da die »Revolutionäre (…) bei den gesetzlichen Mitteln (Wahlen, Parlamentsarbeit) (…) weit besser gedeihen (…) als bei den ungesetzlichen und dem Umsturz«.
Der ideelle Gesamtkapitalist
Die heutigen Anhänger von Adam Smith unter den Ökonomen mussten sich lange als »Rufer in der Wüste« fühlen und suchten bei den Tagungen der Mont-Pelerin-Gesellschaft Entspannung. Im »Zeitalter der Katastrophen« (1914–1945) – vor allem im Zusammenhang mit der großen Weltwirtschaftskrise nach 1929 – waren die kapitalistischen Staaten im Westen gezwungen, dem mit Massenarbeitslosigkeit verbundenen Einbruch des Wirtschaftswachstums entgegenzuwirken und zugleich auf die sozialpolitischen Forderungen der überwiegend sozialdemokratischen Arbeiterbewegung einzugehen. Die Ausweitung der Staatstätigkeit – verbunden mit dem steigenden Anteil der Staatsausgaben am Bruttoinlandsprodukt – war nicht nur den steigenden Ausgaben für Militär, Rüstung und Kriege geschuldet. Der Staat musste im Bereich von Wissenschaft und Bildung, im Gesundheitswesen, bei der Infrastruktur, im Wohnungsbau und Verkehrswesen für günstige Produktionsbedingungen und Wettbewerbsfähigkeit sorgen. Gleichzeitig musste er im Bereich der Sozialpolitik (Alterssicherung, Arbeitslosigkeit) massiv intervenieren.
Als »ideeller Gesamtkapitalist« (Friedrich Engels) musste der Staat über das System der Staatsapparate Klassenkompromisse organisieren und gleichzeitig durch die Fiskal- und Währungspolitik den Fortgang der Akkumulation steuern. Im »Golden Age of Capitalism« zwischen 1947 und Anfang der 70er Jahre etablierte sich eine Variante des Kapitalismus, die durch die Erschließung gewaltiger Akkumulationsquellen (vor allem in der Automobilindustrie), durch die Steigerung des Massenkonsums, durch den Ausbau sozialstaatlicher Sicherungen sowie durch hohe Rüstungsausgaben im Kalten Krieg (»Warfare Capitalism«) gekennzeichnet war. Für die Bewältigung dieser Aufgaben bildete sich ein komplexes System der staatlichen Regulierung von Wirtschaft und Gesellschaft heraus; der Anteil der Staatsbediensteten stieg in einigen Ländern bis auf 30 Prozent der Gesamtbeschäftigten.¹
Friedrich von Hayek, der liberale Ökonom aus Wien, veröffentlichte 1944/45 eine Streitschrift mit dem Titel »Der Weg in die Knechtschaft«. Er rechnete darin weniger mit den faschistischen Diktaturen und der Sowjetunion als mit der Antikrisenpolitik im Namen von John Maynard Keynes sowie mit den wohlfahrtsstaatlichen Programmen der europäischen Sozialdemokratie ab. Keynes begriff sich als Vertreter eines »neuen Sozialliberalismus«; er war auch Mitglied der Liberalen Partei Großbritanniens. Hayek dagegen vertrat die Auffassung, dass die – mit diesen Programmen verbundene – Ausweitung der Staatstätigkeit zur Zerstörung der individuellen Freiheit, also zur »Knechtschaft« führe. Hier wiederholt er die Kritik von Tocqueville. Dass 1945 in Großbritannien die Labour-Partei mit ihrem Programm für ein »Socialist Commonwealth of Great Britain« (ihre Version der »British Road to Socialism«) einen deutlichen Wahlsieg errang, erleichterte Hayek die Entscheidung, ab 1950 an die Universität von Chicago zu flüchten. Von hier aus ging dann auch wenig später die »Gegenrevolution« der neoliberalen Chicago Boys (gegen die Ordnung des New Deal unter Franklin D. Roosevelt) aus.
Linksverschiebung
Der Sozialliberalismus brach nicht nur mit den Positionen der marktradikalen Neoklassik, sondern manifestierte sich auch in der einflussreichen politischen Philosophie von John Rawls, der sich als Vertreter eines egalitären Liberalismus verstand. Seine Theorie des Gesellschaftsvertrags enthält die These, dass freie Individuen sich für eine Gesellschaft der sozialen Gerechtigkeit und der Chancengleichheit entscheiden, in der soziale Institutionen diese Gerechtigkeit realisieren. Die »gute Gesellschaft« war so auch als Bindung des politischen und staatlichen Handelns begriffen. Rawls’ Theorie der »Gerechtigkeit als Fairness« empfiehlt gleiche Grundfreiheiten, Chancengleichheit und die Ermöglichung des größtmöglichen Nutzens für die am wenigsten begünstigten Mitglieder der Gesellschaft.
Im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts waren die Wachstumspotentiale des Fordismus erschöpft; Überakkumulation von Kapital zwang zu internationaler Expansion (Verlagerung der Produktion an die Billiglohnperipherie; vor allem in Ostasien) verbunden mit der Ausweitung und Liberalisierung der Finanzmärkte (unter der Vorherrschaft des Dollar-Wall-Street-Regimes).
Die Klassenkämpfe in den entwickelten Staaten des Westens und eine Linksverschiebung bei den Wahlen (verbunden mit militärischen Niederlagen der alten Kolonialmächte und der USA in Vietnam) eröffneten eine Periode der Linksverschiebung auf der Ebene der Regierungspolitik. Gesellschaftspolitische Reformen und die Ausweitung von Machtpositionen der Gewerkschaften auf der Ebene der Betriebe, ja selbst Debatten über Wege zum Sozialismus standen auf der Tagesordnung. In Portugal und Spanien wurden durch Massenbewegungen die »alten« faschistischen Diktaturen gestürzt, ebenso die »Obristenherrschaft« in Griechenland. Die 70er Jahre waren ein »linkes Jahrzehnt«.
Die neoliberale Gegenrevolution formierte sich gegen diese Linksverschiebung und erreichte mit den Wahlsiegen von Margaret Thatcher (1979) in Großbritannien und Ronald Reagan (1981) in den USA einen Durchbruch. Als Ziel der Regierungspolitik wurde jetzt die Zurückdrängung des Staatseinflusses auf die Wirtschaft, die Reduzierung auf einen »Minimalstaat«, benannt. Die Ausweitung der Staatstätigkeit – vor allem im Bereich der Sozial- und Gesellschaftspolitik – wurde als Grund für die Krise des Fordismus bezeichnet. Die Privatisierung von Staatskonzernen (unter anderem Post, Telekommunikation, Bahn), Deregulierung (speziell des Bankensystems) und die »Befreiung« der Wirtschaft von politischen Kontrollen – vor allem im Bereich der Ausbeutung der Arbeitskraft und der Umweltbelastung – sowie die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes durch die Öffnung eines Niedriglohnsektors mit prekärer Beschäftigung waren – national unterschiedlich gewichtete – Grundelemente einer neoliberalen Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, die insbesondere darauf abzielten, die Macht der Gewerkschaften zu brechen. Der »Wirtschaft« wurden massive Steuersenkungen versprochen. Die liberale Propaganda gegen die Linke hatte bei Wahlen Erfolge. Die Besitzenden und große Teile der Mittelklassen fürchteten eine Radikalisierung nach links und die Macht der Gewerkschaften.
Teile der Arbeiterklasse waren unzufrieden, weil die Inflation und die Arbeitslosigkeit angestiegen waren. Viele Versprechen für gesellschaftspolitische Reformen und den Ausbau der sozialen Demokratie waren nicht eingehalten worden. Viele glaubten auch an das neoliberale Versprechen, dass mit der Befreiung der Unternehmen und der Märkte von staatlichen Fesseln zugleich die individuelle Freiheit zunehmen werde. Soziologen sprachen in den 80er Jahren von einer neuen Welle der »Individualisierung«. Der Siegeszug des Neoliberalismus in den 90er Jahren (jetzt mit sozialdemokratischen Politikern: Gerhard Schröder, Tony Blair und Bill Clinton) war natürlich auch durch den Zusammenbruch der Sowjetunion und ihres Lagers (bis 1991) bestimmt. »Der Druck auf die kapitalistischen Eliten und ihre Unterstützer, Kompromisse mit der Arbeiterklasse einzugehen, schwand. Der politische Handlungsspielraum der klassenbasierten politischen Kräfte schrumpfte dramatisch.«²
Die Wortführer des Neoliberalismus – neben Hayek nunmehr aus Chicago Milton Friedman mit seiner Schrift »Kapitalismus und Freiheit« (1962) – plädierten für die »Freiheit« der Unternehmen und der Märkte und wiederholten dabei das alte Misstrauen des klassischen Liberalismus gegen die Demokratie und das allgemeine Wahlrecht. Friedman stellte fest: »Wirtschaftliche Freiheit ist eine notwendige Voraussetzung für bürgerliche politische Freiheit, doch politische Freiheit, so wünschenswert sie sein mag, ist keine notwendige Voraussetzung für wirtschaftliche und bürgerliche Freiheit.«
Hayek und die Chicago Boys unterstützten nach 1973 den Putsch und die Diktatur des General Pinochet in Chile. Die politische Linke und die Gewerkschaften waren verboten; ihre Anhänger wurden verhaftet, gefoltert und außer Landes getrieben. Wahlen fanden lange Zeit nicht statt. »Die Wirtschaft« freute sich über die weitreichenden Deregulierungs- und Privatisierungsmaßnahmen, den Abbau von Handelshemmnissen und Preiskontrollen. David Harvey bezeichnete die Politik des Neoliberalismus – nicht nur in Chile – als »Restauration bürgerlicher Klassenmacht«³. Hayek wurde mehrfach von Pinochet empfangen und bekannte dabei: »Meine persönliche Präferenz tendiert eher zu einer liberalen Diktatur als zu einer demokratischen Regierung ohne Liberalismus.« Die Anhänger von Hayek jubelten, dass Chile ein »Wirtschaftswunder« erlebe.
»Sachzwang Weltmarkt«
Die Politik des Neoliberalismus in Bezug auf den Staat war natürlich extrem widersprüchlich. Auf der einen Seite propagierten die Neoliberalen die Rückkehr zum »Minimalstaat« – auf der anderen Seite erhöhten sie die staatlichen Rüstungsausgaben. Frau Thatcher z. B. war gezwungen, Elemente der alten Ordnung wie den National Health Service ebenso zu akzeptieren, wie Wahlergebnisse, die dann unter Tony Blair (Labour) zu moderateren Formen neoliberaler Politik führten. Zumal in den USA begegneten (und bekämpften) sich in der neoliberalen Ordnung sowohl extrem konservative Einstellungen mit der Betonung von Ordnung, Hierarchie, Patriotismus und Religion als auch der Kosmopolitismus einer New Left, der für offene Grenzen plädierte und die individuelle Freiheit nicht nur durch die Infragestellung staatlicher Institutionen, sondern auch durch »Drugs and Sex« zu erweitern suchte. Der anarchistische Linksradikalismus der 70er Jahre – zusammen mit linken Professoren der Politikwissenschaft – bewertete in Übereinstimmung mit den Neoliberalen die Abwertung des Nationalstaates im Zeitalter der Globalisierung und der offenen Grenzen (sowie die damit verbundene Migration) als Fortschritt.
Die These vom progressiven Bedeutungsverlust des Nationalstaates war jedoch falsch. Ihm fiel gerade die Aufgabe zu, die inneren Verhältnisse der Kapitalakkumulation wie der gesellschaftlichen Reproduktion an die neuen Anforderungen der »Globalisierung« anzupassen. Der amerikanische Staat setzte – über die Fed, den Dollarkurs, aber auch über die NATO – die Parameter für das »American Empire«. Das waren zugleich die Parameter, nach denen sich die Politik der Nationalstaaten auszurichten hatte, um als Anlagesphäre für das weltweit Anlage suchende Finanzkapital attraktiv zu sein.
Auch unter der Regierung von Frau Thatcher ging die Staatsquote nur geringfügig zurück. Sie musste sich dem »Sachzwang Weltmarkt« (Elmar Altvater) öffnen. Die Militärausgaben wurden erhöht; gleichzeitig stiegen die Kosten, die mit der Zunahme sozialer Spaltungen und mit offenen Arbeitsmärkten für Migration verbunden waren. Sozialausgaben im Kampf gegen die Armut stiegen ebenso wie die Kosten der damit verbundenen, ansteigenden Kriminalität. In der Regierungszeit von Ronald Reagan explodierte die Zahl der (vor allem jugendlichen) Häftlinge in den Strafanstalten des Landes. Ein wesentliches Ziel dieser Politik war die Schwächung der Gewerkschaften – vor allem in denjenigen Ländern, in denen sie in den 70er Jahren durch Massenstreiks ihre politische Macht und ihren Einfluss auf die Regierungspolitik erweitern konnten.
Kapitalist an der Macht
Der Niedergang der neoliberalen Ordnung seit der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008/09 manifestiert sich auf der Ebene der wirtschaftlichen Entwicklung (Rückgang des Wachstums und der Investitionen, Inflation, Staatsverschuldung), des Zerfalls der Gesellschaft durch soziale Spaltungen, Zerfall der Infrastruktur, Kürzung von Sozialleistungen, ungelöste Probleme der Migration, Staatsversagen im Hinblick auf die Bewältigung der Krisenprobleme sowie als politische Krise der Institutionen des parlamentarischen Systems. Deren demokratische Legitimation wird durch die Wahlergebnisse (sinkende Wahlbeteiligung, Aufstieg der rechtspopulistischen bzw. rechtsextremen Parteien) demontiert. Nach dem Wahlsieg von Donald Trump werden Erfolge oder Misserfolge seiner Politik dazu beitragen, ob sie in Europa als Vorbild für die antidemokratische Politik der extremen Rechten dienen werden. In Ungarn und Italien führen sie die Regierung: In Polen hat die Rechte die Präsidentschaftswahlen gewonnen; bei den französischen Präsidentschaftswahlen 2027 kann Frau Le Pen auf einen Erfolg hoffen.
Mit Trump ist einer aus dem Klub der Milliardäre (zum zweiten Mal) Präsident der USA geworden. Die politische Führung des Landes sowie die Kontrolle des Staatsapparates werden also direkt von einem Großkapitalisten (aus dem Immobiliensektor) ausgeübt. Sein Vize Vance gehört ebenfalls zu den Superreichen, die im Bereich der sozialen Medien – gefördert von Peter Thiel, rechtslibertärer Techunternehmer – ihr Vermögen gemacht haben. Zur Amtseinführung applaudierten ihm die reichsten seiner Kumpane. Die Interessenvertreter der Wall Street sind ohnehin – wie auch im Kabinett von Joe Biden – in der Regierung maßgebend vertreten. In den ersten Wochen seiner Regierung war der reichste Mann der Welt, Elon Musk, ermächtigt, im Staatsapparat »aufzuräumen«. Dabei wurden Mittel und Personal in den Bereichen sozialer Dienste, Antidiskriminierung, Entwicklungshilfe und medizinische Dienste für den »Süden« und Bildungspolitik massiv abgebaut. Inzwischen haben sich Trump und Musk zerstritten.
Trump will den Abstieg der USA umkehren. In der Rivalität mit China und Russland will er sein Land zu alter Größe zurückführen, indem er keine »Trittbrettfahrer« in der NATO und den anderen Militärbündnissen akzeptiert und mit seiner Zollpolitik Billigimporte abwehrt, um den US-Binnenmarkt – einschließlich des Wiederaufbaus kaputtgegangener Industrien im Norden – zu stärken. Er lehnt die amerikanische Führungsrolle im Kampf der »Demokratien« gegen die »Autokratien« im Weltmaßstab – die noch von Präsident Biden vertretene Grundposition liberaler Außenpolitik – ab. Er bekennt sich zum Primat der nationalen Interessen und zu einer »transaktiven« Außenpolitik, die – über Deals – mit den anderen Großmächten über die Lösung von Konflikten und Kriegen verhandelt. Auf der anderen Seite droht er schreckliche Gewalt für den Fall an, dass die »Geschäftspartner« sich solchen Deals verweigern. Dann schickt er die Tarnkappenbomber los, um z. B. dem Iran eine Lektion zu erteilen.
Das neue Haushaltsgesetz, das Anfang Juli den Kongress passierte, kann als »definierendes Moment seiner Präsidentschaft« gelten. Die Ausgaben für Grenzsicherungen und Rüstung (Raketenabwehrsystem) werden deutlich erhöht, Förderprogramme für Elektroautos und erneuerbare Energien werden gekappt. Das Budget von Medicaid, der staatlichen Krankenversicherung für Geringverdiener, wird um rund 700 Milliarden US-Dollar gekürzt. Die Unterstützung für Lebensmittelmarken für Bedürftige wird um die Hälfte gestrichen. Die Entlastung bei Studentenkrediten soll beendet werden. Zentraler Bestandteil des Haushaltsgesetzes ist die Beibehaltung der Steuerreform aus der ersten Amtszeit von Trump. Davon profitieren vor allem wohlhabende Amerikaner und große Unternehmen. Die Staatsverschuldung wird weiter ansteigen; bis 2034 sollen sie auf mehr als drei Billionen US-Dollar steigen. »Das Land gibt (schon jetzt) mehr Geld für Zinszahlungen aus als für seine Verteidigung« – »unverantwortlich und brutal«, stöhnt selbst die FAZ.
Das Regime von Trump bedient sich exzessiv der »executive orders«. Dabei handelt es sich um Erlasse des Präsidenten ohne die Zustimmung von Senat und Repräsentantenhaus (also: der verfassungsgemäßen Legislative). Die Verselbständigung der Exekutive zur Diktatur wird in der Regel mit einem Notstand – z. B. des Landes im Kriegsfall sowie des »Staatsverfalls« (im Gefolge einer Revolution) – begründet. Carl Schmitts berühmte Definition wird auch heute noch gerne in Kreisen der Neuen Rechten zitiert: »Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.« Trump kombiniert also seine »liberale« Wirtschafts- und Steuerpolitik mit dem Übergang zu einem autoritären Regime, das zum Einsatz militärischer und polizeilicher Gewalt in der Innenpolitik (gegen Proteste gegen seine Migrationspolitik) oder in der Außenpolitik gegen den Iran (oder bei den Drohungen gegen Panama) bereit ist. Er lässt sich mehr und mehr – gegen die Verfassungsklagen von »unten« (von der Ebene der Einzelstaaten) – durch einen »Supreme Court« legitimieren, für dessen reaktionäre Zusammensetzung er bereits in seiner ersten Amtszeit gesorgt hatte. Trump lässt sich inzwischen von seinen Anhängern als »King« – also als Kopie eines absolutistischen Herrschers – feiern und nutzt dabei die anhaltende Schwäche der Demokraten und der linken Opposition aus. Große, einst kritische Zeitungen sind inzwischen im Besitz der Milliardäre. Trump greift die Intellektuellen sowie die Universitäten als »Brutstätten« für »Kommunisten« (was immer er darunter versteht) an, bedroht sie mit Mittelkürzungen. Auch auf diesem Felde bleibt der Widerstand gegen die »Faschisierung« der amerikanischen Politik unter Trump immer noch relativ schwach.
Die Rechtsextremen in Europa werden Erfolg und Misserfolg dieser Politik genau verfolgen. Sie wissen natürlich, dass in jedem Land dieser Pfad zur Errichtung einer Diktatur im Interesse des Kapitals den spezifischen Bedingungen des Landes Rechnung tragen muss. Programmatisch vertreten sie die Wende vom Sozialstaat zum Ordnungsstaat, der – unter dem Eindruck zunehmender innerer und äußerer Krisen und des Zerfalls gesellschaftlicher Integration – das Monopol der physischen Gewaltanwendung erfolgreich verteidigt. Die repressiven Staatsapparate – Polizei, Militär und die Gerichtsbarkeit – sind die Säulen des »Leviathan« (Thomas Hobbes). Dazu bedarf es aber einer handlungsfähigen Regierung, die möglichst von einem beim Volk beliebten, mutigen »Führer« geleitet wird. Es sind diese beiden politischen Antworten auf den Niedergang und die Krise der neoliberalen Ordnung sowie auf den weltpolitischen Niedergang des Westens, die in den kommenden Jahren im Zentrum der sozialökonomischen und politisch-ideologischen Auseinandersetzungen und Kämpfe um die Verteidigung der Demokratie, aber auch um die notwendige Erweiterung der Demokratie zur sozialen Demokratie stehen werden.
Anmerkungen
1 Vgl. Frank Deppe: Der Staat. Köln 2015, S. 71 ff.
2 Gary Gerstle: The Rise and Fall of the Neoliberal Order. America and the World in the Free Market Era. Oxford 2022, S. 11
3 David Harvey: A Brief History of Neoliberalism, Oxford 2005
Frank Deppe schrieb an dieser Stelle zuletzt in zwei Teilen am 28. und 29. August 2024 über den Aufschwung der politischen Rechten in den Kapitalmetropolen des Westens: »Der Weg nach rechts« und »Marode Systeme«
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