Aus Leserbriefen an die Redaktion

»Spiele in der Dämmerung«
Zu jW vom 28.8.: »Durchschauen, was uns umgibt«
Durchschauen, was uns umgibt. Eine Forderung an uns alle, auch an Frau Gutschke. Ihr tragikomisches Eingeständnis – was heißt Eingeständnis, offensichtlich ist ihr das Problematische daran in keiner Weise bewusst –, sie habe bei Wikipedia (ausgerechnet!) nachgesehen, wie viele Bewohner des Hauses an der Uferstraße denn nur dem »Großen Terror« (Robert Conquest) zum Opfer fielen, macht einmal mehr deutlich: Wir, wer auch immer, müssen ganz von vorne anfangen, jeden Morgen neu. Nichts verstanden, alles vergessen, begraben unter einem Berg von sentimentalem Quatsch und Geschichten, die wir uns über uns selbst erzählen. Es gab da dieses kleine Museum im »Haus an der Uferstraße«, ich weiß nicht, ob es heute noch existiert. Da konnte man die Witwe Trifonows, Olga Romanowna Trifonowa, treffen. Sie war so freundlich, meine Einladung zu einem Kaffee anzunehmen, in einem kleinen Lokal im selben Komplex. Ich erzählte ihr – ziemlich weitschweifig, wie ich fürchte – von meiner Begeisterung für eine kleine Novelle ihres Mannes, »Spiele in der Dämmerung«. Sie wollte mir die Tennisanlage in einem Vorort von Moskau zeigen, die im Text eine wichtige Rolle spielt; dazu ist es dann nicht gekommen. Antschik, die Haupt- und Sehnsuchtsfigur von »Spiele in der Dämmerung«, Tochter eines hohen Funktionärs, wird eines Tages vom Tennisspielen abgeholt, in einem Rolls-Royce mit Chauffeur (!). Diese kleine Szene hat mich mehr über das Jahr 1934 nachdenken lassen als alles andere. Es ist eines der Verdienste Trifonows, uns irritiert sein zu lassen, unseren Erinnerungen nicht zu trauen und schon gar nicht dem, woran wir uns erinnern sollen.
Boris Naujoks, Moskau (Russland)
»Der Alte«
Zu jW vom 28.8.: »Durchschauen, was uns umgibt«
Juri Trifonows »Der Alte« hat mich als Heranwachsender in den 80er Jahren tief beeindruckt. Diese stille Reflexion in beinah philosophischer Tiefe war etwas ganz Neues für mich und hat mich anschließend sehr viel aufmerksamer in meine Umwelt und in die Geschichte sehen lassen. Außerdem hat dieser Roman mein erlerntes Wissen über die russische/sowjetische Geschichte »abgerundet«, also plausibler gemacht. Gleichzeitig habe ich den abnormen Zynismus in der Sowjetunion der 80er Jahre auf allen Ebenen wahrgenommen und mit dem Gelesenen abgeglichen. Die Gedanken des Alten spielten für die dortigen Menschen leider keine Rolle mehr, sie waren direkt gegensätzlich. Heute abend werde ich das Buch im Bücherregal suchen … Vielen Dank an die Autorin und an die Menschen, die dieses Buch in der DDR ermöglicht haben!
André Möller, Berlin
»Solidarität füreinander«
Zu jW vom 29.8.: »Kriegsertüchtiger des Tages: Bodo Ramelow«
(…) Es ergibt für Heranwachsende Sinn, in der Praxis soziales Handeln freiwillig zu lernen und vor allem, das zu lernen, was mit der Solidarität füreinander in Verbindung steht. Denn, die gibt es sichtbar nicht in Deutschland. Und wo sonst als in der pädagogischen Bildung kann die soziale Gemeinschaft auf die Jugendlichen einwirken und ihnen neue Perspektiven in dieser Lebensphase ermöglichen?
Astrid Loehnert, per E-Mail
»Rad nicht neu erfunden«
Zu jW vom 20.8.: »Haltung entwickeln«
»Weil Schostakowitsch die Errungenschaften der modernen Musik der 1930er Jahre noch praktizierte, zum Beispiel in seiner 1. Symphonie.« Das wird kaum möglich gewesen sein, da er diese Sinfonie als Abschlussdiplomarbeit 1924/25 komponierte (Uraufführung 1926). Diese Sinfonie spiegelt zwar die Atmosphäre und Aufbruchstimmung der ersten Jahre nach der Oktoberrevolution wider, schließt sich aber kompositionstechnisch und in der Form des Aufbaus einer Sinfonie den klassischen Vorbildern des 19. Jahrhunderts an, wie in sehr vielen seiner Werke, später dann zunehmend auch mit freieren Abwandlungen. Dazu gehörte eine Beschränkung auf nahezu die klassische Orchesterbesetzung, wie sie Beethoven noch in seiner 9. Sinfonie verwendet hatte, weg von Monsterbesetzungen einiger Werke von Strauss oder Skrjabin. Diesen Weg gingen aber auch andere, im Westen lebende Komponisten wie Strawinsky, Hindemith und Strauss selber, für die dies aber eher eine neoklassizistische Formenspielerei darstellte. Bei der meisterhaften Verwendung der kompositorischen Mittel, die bereits Bach oder Beethoven verwendeten (z. B. auch in Präludien und Fugen Schostakowitschs), sowie bei der Qualität und der tiefen Ausstrahlungskraft der meisten seiner Kompositionen kann man gerade ihn einen würdigen Fortsetzer der besten kulturellen Traditionen auch des 19. Jahrhunderts betrachten. Das hat nichts damit zu tun, dass unter Verwendung ganz traditioneller Formen auch sozialistische Inhalte oder Themen vermittelt wurden. Ich finde es gerade bei ihm nicht richtig, hier irgendwelche künstlichen Gegensätze zu suchen. Wie Brahms oder Tschaikowski war Schostakowitsch Fortsetzer klassischer Traditionen. Auch er hat das Rad nicht neu erfunden und hatte wie Prokofjew Lehrer, die ihrerseits noch nach Vorbildern eines Tschaikowski komponierten. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Klassiker in Musik und Architektur (!) sich einer ähnlichen Formenwelt bedienten, z. B. der ABA-Form eines Scherzo oder des ersten Satzes einer Sinfonie, die sich in jedem klassischen Bauwerk wiederfindet, aber auch bei der Schulter-Kopf-Schulter-Form unseres Körpers, die wiederum Vorbild der klassischen Architektur des alten Griechenland war. Ein klassisches Bauwerk, egal ob in Stein gemeißelt oder als Sinfonie, hat natürliche (!) Formen zum Vorbild, die nicht 1930 ihren Ursprung haben, die immer wieder auftauchen, egal ob bei einem Thema von Mendelssohn oder 100 Jahre später in einem Streichquartett von Schostakowitsch. Es wird vom Publikum verstanden, gerade weil eine jahrtausendealte Traditionslinie eben nicht unterbrochen wurde. Übrigens führen nicht nur die viel geschmähten Stalin-Bauten, sondern führt auch nahezu jedes moderne Bauwerk große Teile dieser klassischen Traditionslinien fort. (…)
Fred Buttkewitz, Ulan-Ude (Russland)
Es ergibt für Heranwachsende Sinn, in der Praxis soziales Handeln freiwillig zu lernen und vor allem, das zu lernen, was mit der Solidarität füreinander in Verbindung steht.
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