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Aus: Ausgabe vom 20.08.2025, Seite 12 / Thema
Kunst

Haltung entwickeln

Kann Musik die Politik beeinflussen, und beeinflusst die Politik die Musik? Ein Interview mit dem Komponisten Christof Herzog aus dem Jahre 2022
Von Christa Weber
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Kann der Bogen zur Waffe werden? Zumindest die berühmte Marseillaise hatte als Lied der Revolution und später der französischen Republik unmittelbare Wirkung (Postkarte aus dem Ersten Weltkrieg)

Vor drei Jahren, am 23. August 2022, starb Christof Herzog im Alter von 72 Jahren. Er hinterließ fünf große Opern, Kammeropern, Orchesterwerke, Kammermusik und sehr viele politische Liedkompositionen (Songs, Chansons und Balladen). Viele davon findet man auf dem Youtube-Kanal »Gegenstimmen«. Mehr Informationen zu Herzogs Werken gibt es unter www.christof-herzog.de. Das folgende Gespräch mit ihm führte seine Frau Christa Weber, die als Autorin, Schauspielerin und Sängerin 40 Jahre lang mit ihm künstlerisch zusammenarbeitete. Es war als Vorarbeit gedacht für eine Veranstaltung, die mit der Marx-Engels-Stiftung geplant war, die allerdings wegen der fortschreitenden Krankheit des Komponisten entfiel.

Christa Weber: Kann Musik die Politik beeinflussen?

Christof Herzog: Natürlich kann Musik die Politik beeinflussen, wie sie die gesamte Gesellschaft beeinflussen kann. Musik ist ein gesellschaftliches Phänomen. Sie hat nur dann Sinn, wenn sie gesellschaftlich wirksam wird. Wenn sie nur auf dem Notenpapier steht, mag sie schöne Musik sein, aber zur Wirkung kommt sie erst, wenn sie von Menschen aufgeführt oder über Apparate wiedergegeben wird. Es gibt eine Wirksamkeit der Musik, die über den Text eines Liedes oder einer Oper hinausgeht. Der Text ist ja nur der Brennpunkt, auf den sich die Musik bezieht. Die Musik ist in der Lage, gesellschaftliche Haltungen auszudrücken. Lieder aus Verdi-Opern wurden in Italien als politische Statements auf der Straße gesungen. Nicht nur, weil darin das Wort »libertà« vorkam, sondern weil dies Ausdruck einer bestimmten Haltung war. In diesem Fall für die Unabhängigkeit Italiens. Die spezielle Wirkung der Musik gilt nicht nur dem Transport des Textes, sondern auch der Art und Weise des Transports, der Art, wie ein Gedankengang musikalisch an die Öffentlichkeit gebracht wird. Das kann sehr unterschiedlich sein, das kann reflektierend sein, dann hat es auf der Straße relativ wenig Wirkung. Ein Brecht-Gedicht, mit großer inhaltlicher Feinheit gestrickt, kann ich auf eine differenzierte Art und Weise vertonen in Form eines sehr komplexen musikalischen Satzes, in dem viele Gedanken und Feinheiten miteinander verwoben sind. Im Konzertsaal kann das eine große Wirkung haben. Auf der Straße weniger. Hanns Eisler reduzierte die Komposition eines Liedes sehr häufig auf einen bestimmten Gedanken; zum Beispiel bei »Vorwärts und nicht vergessen« hat er einen drängenden Gestus, den er mit einem stolpernden Rhythmus verbindet. Dahinter steht der Gedanke: So einfach geht das Vorwärtsstürmen nicht, da gibt es ab und an Stolpersteine, Hindernisse, die sich einem in den Weg stellen. Das sind Dinge, die man als Sänger nicht bewusst wahrnimmt, und trotzdem fördern sie die Wachheit des Denkens.

Kann auch Instrumentalmusik, die ganz ohne Text auskommt, eine politische Wirkung haben?

Musik entwickelt, wie gesagt, Haltungen und ist eine Reaktion auf die jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse. Selbst wenn sich der Künstler oder Musiker als unpolitisch versteht, solange er nicht direkt auf tagespolitische Themen eingeht, wird sein Schaffen doch reflexartig auf das reagieren, was er erlebt. Und das ist sein gesellschaftliches Verhalten, das spiegelt sich in seiner Musik wider. Wenn du zum Beispiel in ein ganz subjektivistisches, autistisches Verhalten verfällst, wenn du dich nur noch um deine Befindlichkeit kümmerst, um deinen persönlichen Schmerz und deine persönliche Freude, so ist auch das ein politisches Verhalten, ein Versuch, dich von der Welt zu separieren, was natürlich Rückschlüsse auf diese Welt zulässt, in der sich der Künstler nicht wiederfindet. Aber es kann auch andersherum laufen, dass der bürgerliche Kunstbetrieb dem Künstler nur noch den Platz anweist, sich mit sich selbst zu beschäftigen, mit seinen ganz privaten Erlebnissen, Gefühlen und Stimmungen, wie das viele Komponisten der Romantik praktizierten, oder mit den technischen Erneuerungen in der Kunst. Er soll gefälligst die Finger von den großen gesellschaftlichen Fragen lassen! Auch das ist gesellschaftliches Verhalten: Gehorsamkeit gegenüber den kulturellen Eliten, den gesellschaftlichen Systemen. Es kann also zweierlei sein.

Thomas Mann sagt: Musik ist politisch verdächtig.

Die herrschende Klasse sieht immer mit äußerstem Misstrauen, mit Argusaugen auf die künstlerische Produktion, die in ihrer Komplexität nicht für jeden auf Anhieb verständlich ist.

Können Komponisten denn in ihren Werken »geheime Botschaften« verstecken?

Dass Komponisten in ihre Notentexte einiges hineingeheimnissen, das hat eine lange Tradition und gehört sozusagen zum Geklapper des Handwerks (zum Beispiel die christliche Zahlenmystik bei Bach). Da die Oberen – die Medien und der bürgerliche Kunstbetrieb – diese Botschaften nicht auf Anhieb dekodieren können, sind sie oft misstrauisch und versuchen, bestimmte musikalische Verfahrensweisen oder Ästhetiken zu fördern, während sie andere ganz offen bekämpfen. Nach 1945 wurden in Westdeutschland die sogenannten Darmstädter Ferienkurse – auch Darmstädter Schule genannt – favorisiert, die sogenannte Serielle Musik. Sie war beziehungsweise ist eine Weiterentwicklung der Schönbergschen Zwölftonmusik. Die »Seriellen« komponieren nach ganz strengen Regeln. Sie bauen Tondauer, Tonhöhe und Lautstärke auf Zahlen- oder Proportionsreihen auf. Die »Darmstädter« wurden vom westdeutschen Kulturbetrieb und den USA gefördert und taten Komponisten wie Hans Werner Henze als bürgerlich ab, weil er an klassischen Kompositionsmethoden festhielt und sich politischen Themen zuwandte.

Die serielle Musik galt unter den Nazis als »entartete Kunst«. Auch der Jazz.

Der Jazz hatte in den 1920er Jahren eine enorme Popularität. Er war in den USA, aber auch in Europa ein absoluter Verkaufsschlager. Wenn Kurt Weill die »Dreigroschenoper« in manchen Liedern im Stil des Jazz komponierte, dann aus dem Grund, weil der Jazz eine Breitenwirkung hatte. Das war für die faschistische Regierung eine große Gefahr, weil dadurch ihre Leitungsfunktion der Gesellschaft eingeschränkt wurde.

So wie im Faschismus Musik verboten wurde, weil sie jüdischen Ursprungs oder von jüdischen Komponisten komponiert worden war, so wurde bei uns in der BRD nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine russische Musik eine Zeitlang aus den Programmen der Konzerthäuser gestrichen.

Da ging es einfach nur darum, alles, was russisch ist, mit einem Negativzeichen zu versehen: Achtung! Gefahr! Was natürlich mit der Musik als solcher überhaupt nichts zu tun hat. Weder Tschaikowski noch Borodin kann man als politisch gefährlich für die herrschende Klasse betrachten. Die stellen nicht den Kapitalismus und nicht einmal den Imperialismus in Frage. Das könnte man als ein Beispiel kultureller Kriegführung betrachten.

Die Künstler sollten und sollen sich mit ukrainischen Themen beschäftigen.

Im gewissen Sinne geht das in der Musik, indem zum Beispiel ukrainische Lieder verarbeitet werden, was aber letzten Endes nicht signifikant ist. Jemand, der keine ukrainischen Lieder kennt, wird sie auch nicht wiedererkennen. Das heißt also, die Musik ist am allerwenigsten in der Lage, diesen tagespolitischen Bezug herzustellen. Dies geht nur, indem ukrainische Künstler, Orchester oder Bands bei uns in der BRD auftreten, Preise und Auszeichnungen erhalten usw. Natürlich gibt es bestimmte Signale in der Musik wie Hymnen, aber wer kennt schon die ukrainische Nationalhymne?

Eine Zeitlang wurde sie vor jedem klassischen Konzert gespielt.

Mag sein, aber sehr signifikant ist das nicht. Und der entscheidende Punkt dabei ist, dass Musik immer abstrakter ist als die anderen Künste. Bleiben wir einmal beim Beispiel Ukraine: Der Komponist kann ein Lamento, eine Klage über die vielen Opfer, schreiben. Nur: Wenn er nicht davor sagt »Ich widme dieses Lamento den Opfern des ukrainischen Krieges«, wird das niemand erkennen. Das heißt also, die Musik braucht immer noch eine propagandistische Begleitung, die dann die Sache ins rechte Licht setzt.

In Deutschland gab es nach dem Faschismus und dem Verbot der sogenannten entarteten Musik eine Kehrtwende: Die serielle Musik, die du vorhin erwähnt hast, wurde rehabilitiert, diese politisch harmlosen, modernen, experimentellen Stücke wurden jetzt gefördert – aber nicht die fortschrittliche Kunst der Vornazijahre. Und gab es nicht auch nach Kriegsende fortschrittliche Musiken von Eisler, Hartmann etc.?

Die politische Kunst war in der BRD völlig unterrepräsentiert.

Wie war das mit Schostakowitsch?

Schostakowitsch war in Westdeutschland noch lange, die ganzen Jahre bis zur »Wende«, verpönt. In den angloamerikanischen Ländern keineswegs. Dort wurde er gespielt, wie Bernstein gespielt wurde oder Copland, und dort wurde er auch in seiner Qualität gewürdigt. Die »Leningrader Symphonie« wurde durch Toscanini in New York von einem Spitzenorchester und einem Spitzendirigenten aufgeführt!

Länder wie die USA oder England waren als Teil der Antihitlerkoalition liberaler?

In der Bundesrepublik galt Schostakowitsch vor 1989 als Negativbeispiel eines pompösen sozialistischen Realismus. Seine Musik wurde als sozialistischer Kitsch bezeichnet, als Wurmfortsatz der Spätromantik, weil Schostakowitsch die Errungenschaften der modernen Musik der 1930er Jahre noch praktizierte, zum Beispiel in seiner 1. Symphonie. Er wurde mehr oder weniger als rotlackierter Faschist, als Stalinist, als der rote Wagner beschimpft – ein völliger Schwachsinn! Mit Wagner hat Schostakowitsch überhaupt nichts zu tun, außer in seinen satirischen Adaptionen von Wagner in der 15. Symphonie.

Wann trat dann die Wende ein?

Mit der »Wende«! Mit der Angliederung der DDR an die BRD. Plötzlich war man in der prekären Situation, dass man Schostakowitsch nicht bis in alle Ewigkeit als einen Komponisten, der in der ganzen Welt hochberühmt und hochgeschätzt war, weiterhin als mieses Beispiel einer rotfaschistischen Kulturpolitik abtun konnte. Und die Eingemeindung passierte ganz simpel über die sowjetische Kulturkritik an seiner Oper »Lady Macbeth von Mzensk«.

Worin bestand diese Kritik?

Die Kritik zielte auf die Allgemeinverständlichkeitsforderung an die Musik ab. Und diese Forderung ist ja gar nicht so dumm. Schostakowitsch hat nach dieser Kritik die berühmte 5. Symphonie geschrieben, als »Antwort auf berechtigte Kritik«, wie er das ausdrückte. Man weiß bis heute nicht, ob er das ironisch meinte oder als Unterwerfungsgeste verstand. Nun muss man sagen, dieses Werk, die 5. Symphonie, ist wirklich einer seiner Klassiker geworden. Von großer Schönheit und großer Klarheit. Sie wird in der ganzen Welt bis heute rauf und runter gespielt.

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Christof Herzog (1951–2022)

Inzwischen auch bei uns. Allerdings wird vor jedem Konzert betont, was für ein tragisches Schicksal der arme Schostakowitsch – das Stalin-Opfer! – in der Sowjetunion zu erleiden hatte.

Nach 1989 wurden massenweise Biographien und Berichte über Schostakowitsch veröffentlicht, die genau diesen Gedankengang unterstützen sollten, nämlich, dass alles, was Schostakowitsch komponierte, ein geschickter Protest gegen die sozialistische Gesellschaft gewesen sei. Eine unglaublich primitive Verfahrensweise. Man drehte den Spieß einfach um. Man hätte ja sagen können, Musik steht über der Politik, der Komponist mag ja persönlich ein schwacher Charakter sein, der sich den Herrschenden in der Sowjetunion unterworfen hat, aber er ist ein hochbegabter Musiker – hätte man ja sagen und ihn gelten lassen können, wie in den angloamerikanischen Ländern. Nein, hier war man stur und hat ihn in die Schmuddelecke gestellt. Und kurz nachdem der Sozialismus zusammengebrochen war und scheinbar die gute alte Zeit wieder anbrach mit Großdeutschland, hat man gesehen, was für ein herausragender Künstler er ist. Die Plattenkonzerne haben sich um seine Musik gerissen, weil sie nicht nur modern, sondern auch unglaublich erfolgreich war, was ja in der modernen Musik höchst selten ist. Erfolgreich waren vielleicht Kurt Weill oder Ernst Krenek, aber selbst so ein Gigant wie Arnold Schönberg muss bis heute durchgesetzt werden. Was jetzt nicht gegen oder für Schönberg spricht, das hat mit anderen Problemen zu tun. Aber Sergei Prokofjew oder Schostakowitsch haben eine Sprache entwickelt, die auch einem musikalischen Nichtfachmann zugänglich ist.

Gibt es ein Beispiel in der Musikgeschichte, wo die Musik die Politik direkt beeinflusst hat?

Nehmen wir mal die »Marseillaise« als revolutionäres Kampflied. Das hatte eine enorme Bedeutung für den Fortgang der gesellschaftlichen Entwicklung, das war ein Fanal! Der revolutionäre Geist war aus der Flasche. Genauso bei der »Internationalen«. Wenn Leute auf der Straße den Mund aufmachen und singen, ist das eine bestimmte Botschaft an die Bürger, die auf den Bürgersteigen stehen. Und gleichzeitig dient das Singen der Selbstverständigung der Demonstranten. Wenn dann die Polizei mit dem Knüppel kommt – gehabt in der Weimarer Republik – und auf die Demonstranten draufhaut, hat das Absingen der »Internationalen« natürlich eine ganz evident politische Bedeutung. Das sind die prägnanten Formen des Zurückwirkens der Musik auf die Politik. Mit Sicherheit hatten auch die Kampflieder von Hanns Eisler eine politische Wirkung. Man tut immer so, als wäre das, was Brecht und Eisler oder Weinert und Eisler gemacht haben, bloß eine Art Verstärker. Völliger Quatsch! Die Musik entwickelt Haltungen, sie führt Haltungen vor, die man dann als Hörer übernehmen kann. Wenn ich mich zu einem großkotzigen Bourgeoisegehabe satirisch verhalte, dann bedeutet das für den Hörer: Aha, dem Großkotzigen gegenüber kann man auch mal frech werden. Man sollte ihm die Hosen runterziehen, dass er mit nacktem Arsch dasteht. Das kann Musik bewirken, wenn sie solche Haltungen vorgibt. Sie hat dann eine formierende und eine inhaltliche Funktion: Agitation zur Veränderung der Welt.

Beim Singen einer Nationalhymne hat die Musik doch auch die Funktion einer gesellschaftlichen Formierung?

Beim Absingen einer Nationalhymne werden die Singenden zu einem gesellschaftlichen Kollektiv zusammengeschweißt. Hier wird aus der Masse ein Block geformt, der sich in seiner nationalen Identität selbst verständigt. Da die Musik, wenn sie aufgeführt wird, ein gesellschaftliches Phänomen ist und nicht ein privates, kann sie natürlich auch auf andere gesellschaftliche Phänomene und Verfassungen einwirken und umgekehrt.

Formierende Funktionen benützen die Faschisten auch in ihren Liedern.

Natürlich, ihr Grölen hat auch eine formierende Funktion, allerdings inhaltlich eine völlig andere. Das sind Schlachtgesänge, in denen sich die Sänger als Elite betrachten. Sie feuern an, Untaten gegenüber Andersdenkenden zu begehen.

Die Hymne der alten Nazis war das Horst-Wessel-Lied.

Ja, in diesem Lied wird ein Leidensmythos aufgebaut, der eines Märtyrers der faschistischen Bewegung, eine pompöse Selbstverherrlichung und Selbstbeweihräucherung.

Und eine Drohung!

Und eine Drohung gegenüber der Bevölkerung: »Nehmt euch in Acht vor uns! Wir schlagen zu!«

Kann die Musik auch direkt die Politiker beeinflussen?

(lacht) Natürlich nicht in dem Sinn, dass die bei einer Demo auf der Straße stehen, den Demonstranten zuhören und Beifall klatschen. Aber Politiker sind ja auch Teil der Gesellschaft. Mag sein, dass sie sich als über der Gesellschaft stehend sehen, was ein sehr fragwürdiger Geisteszustand wäre. Aber sie sind nicht die Herren des Verfahrens. Sie befinden sich in gewissen Zwängen. Da gibt es andere Akteure, die im Dunkeln agieren, Banken, Konzerne usw., die gar kein Interesse daran haben, öffentlich in Erscheinung zu treten, die aber ein großes Interesse daran haben, den Politiker als ausführendes Organ ihrer Interessen zu funktionalisieren. Angenommen, der Politiker würde sich durch eine Demonstration beeinflussen lassen, so müsste er im Zweifelsfall trotzdem immer die Interessen seiner Konzerne, der Medien oder Banken erfüllen. Ansonsten fällt er in Ungnade und wird auf einen anderen Posten geschoben oder ganz abgesetzt. Zum Beispiel wurde der Leitung der Kasseler Documenta 15 Antisemitismus vorgeworfen. Dem bürgerlichen Kulturbetrieb passte die ganze Ausrichtung dieser Documenta nicht. Bei der Uraufführung von Hans Werner Henzes »Floß der Medusa« im Dezember 1968 in Hamburg kam es zu einem Eklat und zu Tumulten im Opernhaus. Der Opernchor wollte nicht vor einer roten Fahne singen und skandierte auf der Bühne: »Fahne weg! Fahne weg!« Der Intendant hatte schon mit Unruhen gerechnet und vorsorglich Polizeischutz angefordert. Am Vordereingang prügelten sich verschiedene sozialistische Studentengruppen. Ernst Schnabel, der Librettist der Oper und ehemaliger Intendant des NDR, wurde von einem Polizisten durch eine Glastür geworfen und landete voller Glassplitterschnittwunden im Knast, wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt. Er hatte versucht, den Knüppelnden Einhalt zu gebieten. Die rote Fahne wurde in Stücke gerissen.

Also kann Musik doch einen starken politischen Einfluss haben?

Das ist eine Frage des gesellschaftlichen Spannungsverhältnisses. Wie kritische Musik marktkonform gemacht wird, kann man sehr schön sehen am Punk oder Rap. Sobald diese Musik erfolgreich ist und die Musikindustrie Geld wittert, formt sie die kritischen Bands durch entsprechende Verträge um oder schafft Retortenbands. Die Demonstration des Willens der Banken geschieht über die Geldscheine, die Demonstration des Willens der Demonstranten über die Gesänge oder das Skandieren von Parolen. Der Politiker steht genau in der Mitte dieser Agentien. Er will von den kleinen Leuten, von seinem Stimmvieh, gewählt werden. Und wenn das auf der Straße steht und »So geht’s nicht!« ruft, muss der Politiker einen Weg finden und einen Scheinkompromiss eingehen, muss die Interessen der großen gesellschaftlichen Akteure und die des Wahlvolks in eine Übereinstimmung bringen. Da beeinflusst natürlich die Demonstration, das Absingen eines politischen Kampfgesanges sehr wohl den Politiker durch diese Art der politischen öffentlichen Willensäußerung.

Und wenn sich jetzt ein Musiker vornimmt, er will zu einem bestimmten Thema ein Musikstück ohne Text schreiben, will sich aber sehr deutlich ausdrücken, was kann er dann machen?

Er kann ein anderes Medium dazunehmen: Bilder, Fotos, Videos, Gemälde, den Tanz …

Aber nur auf die Musik verlassen kann er sich nicht?

Die Musik als solche kann bestenfalls bestimmte gesellschaftliche Stimmungen wiedergeben und verstärken, das aber eben auch nicht signifikant, weil – wenn dies nicht vorher dokumentiert oder dem Publikum gewissermaßen vorgegeben ist – die Musik da ziemlich hilflos ist. Zum Glück.

Ist das Genre politische Musik eine relativ neue Erscheinung?

Die Tendenzmusik gab es schon im 19. Jahrhundert und in den 1920er Jahren in der großartigen Form von Weill, Eisler, Dessau und vielen anderen Komponisten, die heute relativ unbekannt sind. Sie alle bedienten sich der Form der angewandten Musik, das heißt also, sie verbinden Wort und Ton oder Bild und Ton miteinander. Und da hat Musik allerdings eine sehr spezifische Wirkung, sie kann bestimmte Bilder oder Sprachfetzen konterkarieren, sozusagen ins Gegenteil verkehren. Nehmen wir einmal einen Ausschnitt aus einer Rede von Hitler oder Goebbels und machen eine musikalische Komposition daraus. Der Komponist würde die Rede nicht eins zu eins vertonen, das gesprochene Wort nur nachfühlen, sondern er würde den verborgenen Kern dieser blutigen und gewalttätigen Sprache bloßlegen.

Wie?

Zum Beispiel mit verschiedenen Mitteln der Sprachartikulation, übertriebenem, abgehacktem Singen oder Sprechen oder durch kleine Interruptionen auf bestimmte Aussagen hinweisen …

Vielleicht mit großem Pathos?

Na ja, Pathos kann auch daneben gehen, so dass die Hörer dies eins zu eins übernehmen. Nein, im Gegenteil: In dem Augenblick, in dem der Redner Hitler in großes Pathos verfällt, kann die Musik fiepsend wie eine Ratte dagegenhalten, in einer kreischenden, jämmerlichen Form dieses Pathos zunichte machen. Der Komponist kann die Rede nicht wie ein Historiker auseinandernehmen. Er kann die verschiedenen Elemente der Versklavung oder der Ausbeutung, die darin enthalten sind, die ganze Form von menschenverachtender Instrumentalisierung der Massen, nicht aufzeigen. Der Historiker dagegen kann anhand von verschiedenen Wortkombinationen nachweisen: Hier werden ganz gezielt bestimmte Formulierungen verwendet, die historisch präformiert sind. Nehmen wir einmal so eine Sache wie die »jüdische Weltverschwörung«, also eine Vorstellung, die es schon seit Jahrhunderten gibt, die irgendwo im Unterbewusstsein abgespeichert ist – ein Element, das sich gegen eine gesellschaftliche Gruppe wendet, die ohnehin schon unterprivilegiert ist, um an ihr den Frust über die herrschende Klasse abzureagieren. Das wird von den herrschenden Klassen gerne benutzt. Man gibt eine gesellschaftliche Gruppe zum Abschuss für den Pöbel frei, und der Pöbel stürzt sich dann auf diese Schicht: Die ist schuld an unserm Elend. Dann setzt man zu dem Jüdischen noch das Bolschewistische hinzu, und schon hat man einen Sündenbock. Das hat schon immer funktioniert. Das kann ein Historiker herausarbeiten. Musik kann das in der Art und Weise nicht. Musik ist immer abstrakter als die anderen Künste. Sie kann, wie gesagt, bestenfalls bestimmte gesellschaftliche Stimmungen und Haltungen wiedergeben und verstärken. Eisler hat einmal über uns fortschrittliche Komponisten gesagt: »Wir können die Hungernden nicht speisen mit unserem Gesang, wir können den Frierenden nicht Kohle zum Wärmen geben und den Obdachlosen nicht Wohnung, aber unsere Musik kann den Hoffnungslosen aufrichten, dem Unwissenden sagen, wer ihm Brot, Obdach, Kohle und Wohnung gestohlen hat, unser Gesang kann den Müden zum Kämpfer machen.«

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  • Leserbrief von Fred Buttkewitz aus Ulan - Ude (23. August 2025 um 09:42 Uhr)
    »Weil Schostakowitsch die Errungenschaften der modernen Musik der 1930er Jahre noch praktizierte, zum Beispiel in seiner 1. Symphonie.« Das wird kaum möglich gewesen sein, da er diese Sinfonie als Abschlussdiplomarbeit 1924/25 komponierte (Uraufführung 1926). Diese Sinfonie spiegelt zwar die Atmosphäre und Aufbruchstimmung der ersten Jahre nach der Oktoberrevolution wider, schließt sich aber kompositionstechnisch und in der Form des Aufbaus einer Sinfonie den klassischen Vorbildern des 19. Jahrhunderts an, wie in sehr vielen seiner Werke, später dann zunehmend auch mit freieren Abwandlungen. Dazu gehörte eine Beschränkung auf nahezu die klassische Orchesterbesetzung, wie sie Beethoven noch in seiner 9. Sinfonie verwendet hatte, weg von Monsterbesetzungen einiger Werke von Strauss oder Skrjabin. Diesen Weg gingen aber auch andere, im Westen lebende Komponisten wie Strawinsky, Hindemith und Strauss selber, für die dies aber eher eine neoklassizistische Formenspielerei darstellte. Bei der meisterhaften Verwendung der kompositorischen Mittel, die bereits Bach oder Beethoven verwendeten (z. B. auch in Präludien und Fugen Schostakowitschs) sowie bei der Qualität und der tiefen Ausstrahlungskraft der meisten seiner Kompositionen kann man gerade ihn einen würdigen Fortsetzer der besten kulturellen Traditionen auch des 19. Jahrhunderts betrachten. Das hat nichts damit zu tun, dass unter Verwendung ganz traditioneller Formen auch sozialistische Inhalte oder Themen vermittelt wurden. Ich finde es gerade bei ihm nicht richtig, hier irgendwelche künstlichen Gegensätze zu suchen. Wie Brahms oder Tschaikowski war Schostakowitsch Fortsetzer klassischer Traditionen. Auch er hat das Rad nicht neu erfunden und hatte wie Prokofjew Lehrer, die ihrerseits noch nach Vorbildern eines Tschaikowski komponierten. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Klassiker in Musik und Architektur (!) sich einer ähnlichen Formenwelt bedienten , z. B. der ABA-Form eines Scherzo, oder des ersten Satzes einer Sinfonie, die sich in jedem klassischen Bauwerk wiederfindet, aber auch bei der Schulter-Kopf-Schulter-Form unseres Körpers, die wiederum Vorbild der klassischen Architektur des alten Griechenland war. Ein klassisches Bauwerk, egal ob in Stein gemeißelt oder als Sinfonie, hat natürliche (!) Formen zum Vorbild, die nicht 1930 ihren Ursprung haben, die immer wieder auftauchen, egal ob bei einem Thema von Mendelssohn oder 100 Jahre später in einem Streichquartett von Schostakowitsch. Es wird vom Publikum verstanden, gerade weil eine jahrtausende alte Traditionslinie eben nicht unterbrochen wurde. Übrigens führen nicht nur die viel geschmähten Stalinbauten, sondern auch nahezu jedes moderne Bauwerk große Teile dieser klassischen Traditionslinien fort. Auf kompositorischem Gebiet hat man sich leider größtenteils davon abgewandt, aber nur bei der sogenannten »ernsten« Musik. Das eben ist auch ein Grund für unterschiedliche Einschaltquoten. Zwischen der ersten und fünften Sinfonie von Schostakowitsch (beides Meisterwerke und mit Recht viel gespielt) gab es mit der 2. bis 4. Sinfonie eine Phase, wo er experimentierte. Sie spiegeln die teils chaotischen Zustände einer revolutionären Zeit wider. Diese Stücke wurden und werden nicht deshalb weniger gespielt, weil die Partei sie im Fall der 4. Sinfonie (angeblich) verboten hatte, sondern weil sie von den Interpreten mehrheitlich nicht als ebenbürtige Meisterwerke betrachtet werden. Schostakowitsch lehnte es ab, an früheren Werken später noch herumzuverbessern, wie andere Komponisten. So wie es einmal hingeschrieben war, so blieb es auch, mit später selbst erkannten Mängeln. Er komponierte die ersten Sinfonien zudem sehr schnell, nicht etwa wie Brahms überkritisch 14 Jahre an seiner ersten Sinfonie. Andere Komponisten verheizten später dann Partituren im Ofen, von denen sie selbst nichts mehr hielten. Schostakowitsch selbst zog die 4. Sinfonie, die ich persönlich zwar nicht für ebenbürtig, aber für durchaus spielenswert halte, nach der Generalprobe wieder aus dem Verkehr und ließ sie 25 Jahre lang in der Schublade. Warum erfolgte denn die Uraufführung erst 1961? Da war schon lange das »Tauwetter« unter Chruschtschow ausgebrochen und Stalin acht Jahre tot. Ich denke, er hatte selbst kein gesteigertes Interesse, dass nach all den Meisterkompositionen bestimmte Frühwerke noch gespielt wurden. Keiner hätte ihn an einer früheren Aufführung hindern können, nur sein eigener Maßstab.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (20. August 2025 um 16:18 Uhr)
    Danke für dieses wunderbare Interview. Wie schön, wenn ein Künstler so ungekünstelt darüber spricht, was man tun kann, um von möglichst vielen Menschen verstanden zu werden. Die spätbürgerliche Gesellschaft zieht dagegen Kunst und Künstler vor, die möglichst verschwurbelt daherkommen. Denn was nicht verstanden wird, kann auch nicht bewegen. Und was nicht bewegt, lässt alles beim Alten. Wie gut so etwas doch für eine Gesellschaft ist, die schon um ihren Niedergang weiß und gerade deshalb so erbittert darum kämpft, dass das von der Mehrheit möglichst lange unbemerkt bleibt.

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