Alte Mächte in der Krise
Von Jörg Kronauer
Die Vorzeichen standen nicht gut für den deutsch-französischen Ministerrat, ein Treffen von rund 20 Ressortchefs der Regierungen Deutschlands und Frankreichs, das am Freitag in der südfranzösischen Hafenstadt Toulon abgehalten wurde. In beiden Ländern herrscht erhebliche Unzufriedenheit mit den Regierungen. In Frankreich wird Ministerpräsident François Bayrou kommenden Montag im Parlament die Vertrauensfrage stellen, und es sieht recht deutlich danach aus, dass er scheitern wird. Unter solchen Voraussetzungen Absprachen zu treffen, die dann auch eingehalten werden und es ermöglichen, die zuletzt wenig harmonischen deutsch-französischen Beziehungen zu verbessern, ist ein ehrgeiziges Unterfangen. »Der Zeitpunkt ist wirklich nicht ideal«, räumte denn auch Jacob Ross, Frankreich-Experte von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), vorab in der französischen Abendzeitung Le Monde ein.
Entsprechend dünn waren die Beschlüsse, die Präsident Emmanuel Macron und Bundeskanzler Friedrich Merz am Freitag bekanntgaben. Sie betrafen vor allem ökonomische Fragen, zum Beispiel die Energiepolitik. Frankreich will den Bau neuer, kleiner Atomkraftwerke (Small Modular Reactors, SMR) mit EU-Geldern fördern lassen und ist darauf angewiesen, dass Berlin grünes Licht dafür gibt. Deutschland hat starkes Interesse an der Pipeline H2Med, die Wasserstoff auf Spanien und Portugal über französisches Territorium nach Deutschland leiten soll. Berlin und Paris hatten sich dabei bisher gegenseitig blockiert. Nun wollen sie dies unterlassen.
Differenzen in der Energiepolitik hemmten »unsere Zusammenarbeit überhaupt nicht«, behauptete Merz in Toulon. Doch so weit, dass sie sich nicht mehr gegenseitig lähmen, sind beide Staaten bei einem weiteren Projekt noch nicht: Bei dem in Entwicklung befindlichen »Kampfjet der sechsten Generation« (FCAS), an dem sie mittlerweile seit schlappen acht Jährchen arbeiten. Ursprünglich war geplant gewesen, in Toulon den Streit darum zu lösen, welches Land für seine Industrie welche Anteile an Entwicklung und Produktion, sprich: an Know-how und Profit, erhält. Das wurde nun verschoben – mindestens auf Oktober. Da man mit dem Projekt ohnehin schon Jahre im Verzug ist, stört das nicht mehr. Bezüglich der Frage, ob – und wenn ja, wie – Frankreichs Atomwaffen genutzt werden sollen, um der EU einen eigenen Atomschirm unabhängig von den USA zu verschaffen, wurde entschieden, umgehend einen »strategischen Dialog« aufzunehmen. Da über die Frage schon lange diskutiert wird, läuft auch dies auf eine Verschiebung hinaus.
Keine Entscheidung gab es auch zum EU-Freihandelsabkommen mit dem Mercosur, das Frankreich im Interesse seiner Landwirte blockiert. Mit Blick auf digitale Themen, bei denen es auch um die Regulierung der US-Internetriesen geht und bei denen Paris mit härteren Bandagen vorgehen will als Berlin, wurde beschlossen, für den 18. November zu einem Digitalgipfel einzuladen. Insgesamt wurden acht Strategiepapiere abgenickt, die unter anderem eine Förderung der Wettbewerbsfähigkeit per Bürokratieabbau vorsehen.
Zumindest im Umfeld des Ministerrats wurde zudem über – um mit Merz zu sprechen – »Sozialabbau und Kahlschlag« diskutiert. Der Kanzler teilte ergänzend mit, beim Ministerrat habe es eine gute Stimmung gegeben; ein »klarer Blick für die Realität und der feste Wille, sie zu gestalten«, das sei der »Geist von Toulon« gewesen. Offen blieb allerdings, ob der Geist für die Zukunft beflügelt oder sich als Gespenst erweist.
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Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (1. September 2025 um 10:12 Uhr)Von »alten Mächten« zu sprechen, ist Schönfärberei. Was da in Toulon auftrat, sind eher Restposten der Geschichte – abgehalfterte Platzhirsche, die sich für Elefanten halten, während sie schon lange im politischen Streichelzoo gelandet sind. Frankreich: ökonomisch am Tropf, politisch kurz vor dem Flächenbrand. Präsident »Micron« – so winzig wie sein Reformeifer – stolpert von Vertrauensfrage zu Vertrauensfrage. Er redet groß von europäischer Führungsrolle, während er daheim kaum noch das Licht anlassen darf, ohne den Stromzähler zu verschrecken. Deutschland: zwei Jahre ohne russische Energie, seitdem Dauerrezession. Kanzler Merz hingegen sieht in jedem Haushaltsloch einen »klaren Blick für die Realität«. Dreißig Milliarden fehlen – aber er verkauft es als Vision. Vision wovon? Vom kalten Winter im Pulli vielleicht. Und Toulon? Statt Gipfel eher Grabbeltisch: viel heiße Luft produziert. FCAS-Jet verschoben, Atomschirm verschoben, Freihandel verschoben – kurzum: alles verschoben. Wenn das der »Geist von Toulon« ist, dann spukt er höchstens noch durch leere Kassen und verstaubte Amtsstuben. Im Prinzip war das kein deutsch-französischer Ministerrat, sondern eine Polit-Show, in der beide Seiten nur ihre eingebildete Rest-Wichtigkeit zur Schau stellen wollten. Einfach gesagt: außer Spesen nichts gewesen.
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