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Aus: Ausgabe vom 28.08.2025, Seite 10 / Feuilleton
Literatur

Rauh, nicht hart

Krimiautor Garry Disher nimmt uns mit ins Outback
Von Hagen Bonn
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Guter Mann: Romanautor Garry Disher

Der britische Sozialreformer Havelock Ellis (1859–1939) schrieb: »Jede Gesellschaft hat die Verbrecher, die sie verdient.« Demnach wären Kriminalromane vor allem gesellschaftliche Dramen? Wäre das nicht zu allgemein? Welche Rolle spielt das persönliche Drama? Das rein private. Mein Kontostand zum Beispiel. Okay, schon klar, dass nicht jede missliche Lage in ein Verbrechen mündet. Ich hege nicht die Absicht, eine Bank zu überfallen. Offen gesagt sehe ich mit Sturmmaske auch nicht besonders gut aus, vor allem nicht mit einer schwarzen. Die Frage ist ja auch eher: Wo kippt es? Und wie? Wann verwandelt sich das Unbehagen in der Kultur in ein Verbrechen?

Mir ist nur ein Schriftsteller bekannt, der die Dialektik des Persönlichen und des Gesellschaftlichen im Verbrechen wirklich erhellend darstellt: Garry Disher. Vor zwanzig Jahren ein Geheimtip, ist der Australier mittlerweile einer der Großen. Von seinen Ermittlern ist mir Constable Hirschhausen besonders ans Herz gewachsen. Behutsam, fast wie eine Entschuldigung hingehaucht, entfaltet Disher vor unseren Augen das ländliche Terrain vor dem australischen Outback. Es könnte fast der mittlere Westen der USA sein, wenn da nicht ein paar Feinheiten wären, zum Beispiel Weihnachten bei 36 Grad Celsius. Oder europäische Touristen, die ihre Zimmer nach Süd buchen und sich anschließend über die fehlende Sonne beschweren. Entlegene Schaffarmen »von der Größe eines europäischen Fürstentums« oder das alles durchdringende Rot eines durch Hitze ausgedörrten Bodens. Der Constable trifft auf knorrige Menschen an knorrigen Orten. Die Romantitel seiner Reihe sind keine leeren Versprechen: »Bitter Wash Road«, »Hope Hill Drive«, »Barrier Highway«, und jetzt eben »Desolation Hill«.

Im neuen Buch muss Hirsch sozusagen doppelt ermitteln – gegen das Verbrechen, ausgerechnet bei den Menschen, deren Nachbar er ist. Er trifft auf verlorene Seelen, Vereinsamte, Kranke, Geschundene. Durch seine Menschlichkeit, seine Zugewandtheit gelingt dem ruhigen Außenseiter Hirsch ein Blick hinter den Zaun.

Disher schafft mit seinen nuanciert gezeichneten, immer glaubwürdigen Charakteren einen Kleinkosmos des rauhen Realismus. Rauh, nicht hart. Rauschgiftkriminalität auf dem Land, prekäre Jobs, Glücksritter, der sich beschleunigende soziale Zerfall prägen das soziale Milieu. Viel mehr ist nicht. Dazu passt, was der Autor im Frühjahr dem Culturmag erzählt hat: »Ich kann mir nicht vorstellen, Fantasy, Horror oder Science-Fiction zu schreiben, und eigentlich schaue ich auch keine Filme aus diesen Genres. (Sie sind nicht real!) Ich liebe es, über die Welt zu schreiben, in der wir leben.«

Einen anderen Garry Disher als den der Constable-Hirschhausen-Reihe erleben wir in der Wyatt-Reihe. Wyatt ist Einzelgänger, von Beruf Meistereinbrecher. Kühl, verdammt schlau, ein Antiheld, dem man nichts Böses wünscht. Wyatts Feinde heißen »Gier«, »Dreck«, »Hinterhalt« und auf ihn gerichtete Schusswaffen – und so sehr er in diesem Schlammassel dahinwelkt, es ist die einzige Welt, in der er sich auskennt, wo er überwintern kann, einsam, wachsam. Manchmal ist Wyatt gezwungen, mit anderen zu zusammenzuarbeiten: »Pedersen kam zwanzig Minuten zu spät. Als er Wyatts Zimmer im Gatehouse betrat, brachte er einen Geruch von chinesischem Essen und Industriegiften mit. Er schüttelte Wyatt die Hand, ging sofort ans Fenster, maß dabei die Grundfläche des Raumes mit seinen Schritten ab. Eine Angewohnheit, dachte Wyatt. Pedersen war fünfunddreißig und hatte sein halbes Leben in kleinen Räumen verbracht – Zellen und billige Zimmer.« Ein Zitat aus dem Roman »Gier«, mit dem Disher im Jahr 2000 den Deutschen Krimipreis gewann. Zwei Jahre später bekam er ihn gleich noch einmal für »Drachenmann«, mit dem er die Inspector-Challis-Reihe eröffnete. »Challis wollte erwidern, dass manche Leute ihr Glück nicht zu schätzen wussten, ließ es dann aber bleiben. Die Leute unterschätzten ihn, das wusste er, und es war ihm egal. Sie dachten, dass ein Polizist, der gerne alte Flugzeuge restaurierte und mit einer Frau verheiratet war, die ihn hatte erschießen lassen wollen, dass das ein Mann war, der die Dinge schleifen ließ. Ein Mann, dem es nicht bestimmt war, es bei der Truppe noch weiter zu bringen, als er schon war, ein Inspector, nicht mehr.«

Dishers Portfolio um Constable Hirschhausen, Wyatt und Inspector Challis umfasst 20 Bände. Um den Zusammenhang von Gesellschaft und Individuum gewinnbringend erörtern zu können, muss man nicht sämtliche Bücher des Autors gelesen haben, aber es besteht allemal die Gefahr, zum Wiederholungsleser zu werden. Hut ab, guter Mann!

Garry Disher: Desolation Hill. Ein Constable-Hirschhausen-Roman. Aus dem Englischen von Peter Torberg. Unionsverlag, Zürich 2025, 352 Seiten, 24 Euro

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