Rennen der Hamster
Von Felix Bartels
Das Kind wächst wieder. Seit 1911 hat die Deutschland-Tour mehrfach Geburt und Tod erlebt. Das vorletzte Mal 1999 durch den Ullrich-Boom wiederbelebt, ging sie mit Ullrich 2008, zwei Jahre nach dem Fuentes-Skandal, auch wieder unter. ARD und ZDF zogen sich zurück, Gelder fehlten, Klappe zu. 2018 wagte man es erneut, diesmal nicht getragen von einem kommenden deutschen Stern. Florian Lipowitz war dem Fachpublikum erst seit 2023 ein Begriff, dem breiten Publikum erst seit diesem Sommer.
Die Tour der Ullrich-Ära wollte vielleicht zuviel. Anfang Juni positioniert, bot sie sich Fahrern bei der Vorbereitung auf die Tour de France an, als mittelschweres Warm-up zur Dauphine oder Tour de Suisse. Entsprechend dauerte sie acht Tage, hatte ein langes Zeitfahren und ein bis zwei bergige Etappen. Heute plant man bescheidener und intelligenter. Der Anspruch der großen Runde wurde fallengelassen, die Tour dauert bloß fünf Tage und beschränkt sich auf einen Großraum. Dieses Jahr von West nach Ost, mit Start in Essen und Finale in Magdeburg. Das harmlose Höhenprofil kompensierten die Planer mit einigen Features, die Dramaturgie besorgten, Zwischensprints mit Zeitbonifikation drei Kilometer vor dem Ziel etwa.
Heraus kam ein bis zuletzt spannender Kampf ums Klassement, in dem herausgefahrenen Abstände gegenüber Gutschriften in den Hintergrund traten. Der sehr kurze Prolog führte durch das Essener Industriegebiet Zeche Zollverein. Zwischen rostigen Rohren und Loftbauten, kurvenreich und eng. Klassische Zeitfahrer konnten hier ihre Qualitäten kaum ausspielen, weswegen alle Starter denn auch auf das Zeitfahrrad verzichteten. Ein Vorteil für technisch versierte Fahrer, die Kurven optimal nutzen können, so gewann der spätere Gesamtsieger Søren Wærenskjold. Die Gesamtwertung blieb bis zuletzt von Bonifikationen abhängig. Lediglich auf der zweiten Etappe im Sauerland, etwas hügliger, gelang es einer dreiköpfigen Gruppe, einen Zeitabstand herauszufahren. Die 16 Sekunden Vorsprung, die Wærenskjold am Ende auf den Zweiten Jhonatan Narváez hatte, waren ausschließlich durch Gutschriften zusammengehamstert.
Die erste Etappe endete im Massensprint, Matthew Brennan gewann. Überraschend schlug er Jonathan Milan. Ohne Zweifel ist Milan der Fahrer im aktuellen Zirkus, der im flachen Zielsprint auf die höchsten Wattwerte kommt. Sein Problem scheint in der Aerodynamik zu liegen. Der Oberkörper ist sichtbar zu hoch. Allerdings kann eine Änderung der Körperhaltung nach hinten losgehen. Die aerodynamisch beste Haltung ist nicht zwingend auch muskulär die beste.
Die zweite Etappe nach Arnsberg gewann Narváez. Im Finale war er an den kurzen Anstiegen erkennbar der stärkste Fahrer, mehrfach testete er die Konkurrenz an, wartete auf der Spitze aber auf Wærenskjold und Riley Sheehan, die er für die flache Schlusspassage brauchte. Auf der Zielgeraden fing er Sheehan noch ab, der im Ete-Zabel-Gedächtnis-Fauxpas die Arme zu früh hochgerissen hatte.
Die dritte Etappe nach Kassel endete wiederum mit einem Massensprint. Zum Sieger erklärte man Wærenskjold, nachdem Danny van Poppel disqualifiziert wurde. Diese Entscheidung der Jury kann, wer will, nachvollziehbar finden, aber sie war recht forsch. Van Poppel hatte seine Linie eigentlich nicht verlassen, wenngleich unstrittig ist, dass er sich breitgemacht und den hinter ihm fahrenden Brennan behindert hat. Kritisiert wurde die Jury vom abwesenden Patron Pogačar, der ein vitales Inter-esse im Spiel hatte. Durch Wærenskjolds Beförderung auf den ersten Platz ergab sich ein Nachteil für seinen Teamkollegen Narváez. Der hatte nach dem Zwischensprint in der Gesamtwertung aufgeschlossen, im Ziel dann aber zehn statt sechs Sekunden Rückstand. Womit seine Chancen vorm Hintergrund des flachen Schlussabschnitts dahin waren.
Woraus sich zugleich UAEs Taktik auf der letzten Etappe gen Magdeburg erklärt. Dass man mit Brandon McNulty und Nils Politt zwei Fahrer nacheinander eine Soloattacke fahren ließ, zeigt an, dass man mit einem Rundfahrtsieg von Narváez nicht mehr rechnete. Der kam zudem auf der Zielgeraden durch einen Sturz des vor ihm fahrenden van Poppel zu Fall, während Wærenskjold hinter Brennan ins Ziel gelangte. Milan war auch bei Brennans zweitem Sieg unterlegen, 50 Meter vor dem Strich hörte er auf zu treten.
So zog die zeitlich enge Ausgabe ihre dramaturgische Spannung gerade aus diesen knappen Abständen. Als Rechenspiel bis zuletzt. Die nächste Ausgabe soll, wie Rennleiter Fabian Wegmann bei der ARD durchblicken ließ, dann wieder weiter südlich stattfinden, mit einem etwas schweren Streckenprofil.
75 für 75
Mit der Tageszeitung junge Welt täglich bestens mit marxistisch orientierter Lektüre ausgerüstet – für die Liegewiese im Stadtbad oder den Besuch im Eiscafé um die Ecke. Unser sommerliches Angebot für Sie: 75 Ausgaben der Tageszeitung junge Welt für 75 Euro.
links & bündig gegen rechte Bünde
Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.
Mehr aus: Sport
-
Wettbewerbsverzerrung
vom 26.08.2025