»Die Reise in den Abgrund«
Von Friedemann Lietz
Herr Nathanael, mit Ihrem Projekt Bonjour Tristesse arbeiten Sie seit über 15 Jahren auf dem Feld des Black Metal. Wie sind Sie dazu gekommen?
Die Ausdrucksstärke und rohe Emotionalität (des Genres) reizten mich schon in meiner Jugend. Die Unzufriedenheit mit dem desolaten Status quo bestimmte ganz natürlich die Genrewahl. Ohnmachtsgefühle, Trauer und Wut in extremen Metal zu verwandeln, ist eine Befreiung, auch für die Fans.
Inwieweit ist Ihr Werk von der literarischen Romantik beeinflusst?
Mein Künstlername entstammt E. T. A. Hoffmanns Erzählung »Der Sandmann«. Einsamkeit, die erhabene Natur und das Morbide sind sowohl in der Romantik als auch im Black Metal zentrale Motive. Nahezu jedes Gemälde Caspar David Friedrichs ist ein potentielles Plattencover. Bemerkenswert übrigens, wie in der europäischen Romantik das Individuum der überwältigenden Natur gegenübersteht, in der nordamerikanischen Romantik hingegen als in die Natur eingebunden erscheint.
Erscheint die Romantik heutzutage in der Gestalt des Black Metal?
Schon die ersten genreprägenden Alben zeigen deutliche Einflüsse: Ulver aus Norwegen beziehen sich auf Naturmystik. Ihr Album »Bergtatt« von 1994 spielt klar auf die europäische Romantik an. Nordamerikanische Bands wie Wolves in the Throne Room verarbeiten Sichtweisen von Thoreau oder Emerson.
Versucht Bonjour Tristesse, die »Geschichte gegen den Strich zu bürsten«?
Der Satz bringt das Projekt im Prinzip auf den Punkt. Der Song »The Great Catastrophe« basiert direkt auf Walter Benjamins Aussagen zu Geschichte und Fortschritt. Ich möchte die Gegenbewegung stärken und zeigen, dass Black Metal – trotz der leider vorhandenen rechten bzw. rechtsoffenen Tendenzen einiger Bands – auch Raum für linke und anarchistische Gedanken bietet.
Sie arbeiten allein. Entspricht das der verhandelten Vereinzelung?
Viele Black-Metal-Bands sind Soloprojekte, die Szene ist klein. Die Musik ist identitätsstiftend, obwohl einfach, oft primitiv und monoton. Das begünstigt musikalische Einzelkämpfer, die ja alle Instrumente selbst spielen müssen. Für den Mainstream befremdliche, manchmal abstoßende Texte schreibt man auch besser unbeobachtet. Für mich war Bonjour Tristesse immer ein Soloprojekt, um meine persönliche Sicht auf die Welt und meine Gefühle so zu verarbeiten, wie ich es für richtig halte. Ich bin auch in anderen Bands wie Heretoir aktiv. Bonjour Tristesse hat aber einen ganz besonderen Stellenwert als gewählte Isolation. Ich erlebe sie als befreiend, erfüllend. Die Alltagswelt ertrage ich oftmals nur schwer. Mit Thoreau gesprochen, die Einsamkeit kann zur besten Freundin werden.
Dabei entstand ein Geflecht aus kulturellen Verweisen. Wie orientiert man sich darin?
Auf jeden Fall steht Bonjour Tristesse in der lyrischen Tradition des Black Metal: Natur, Tod, menschliche Abgründe, religionskritische bis satanistische Anleihen, z. B. bei Michail Bakunin, der den Teufel als Menschenfreund und Rebellen gegen Gottes Unrecht zeichnet. Paul Éluard, als Teil der Résistance widerständig wie einige Black-Metal-Bands, lieferte mit seinem Gedicht »À peine défigurée« den Bandnamen. Eine weitere Inspiration war Françoise Sagans Roman »Bonjour Tristesse«. Dessen Beklemmung und jugendliche Radikalität fühlten sich passend an, als ich mit 19 die Band gründete. Anarchisten wie Pjotr Kropotkin und die »Dialektik der Aufklärung« von Adorno und Horkheimer haben mein Verständnis der westlichen Spätmoderne genauso geprägt wie ökologische Denker wie Henry David Thoreau und Edward Abbey, indigene Weltbilder und die Naturphilosophen Aldo Leopold und Paul Shepard. Ihre Ideen fanden auf die eine oder andere Weise ihren Weg in die Musik von Bonjour Tristesse.
Das bestimmende Thema ist Natur?
Für mich auf jeden Fall. Ich lebe auf dem Land. In den Wäldern zu wandern oder Vögel vor meinen Fenstern zu beobachten, die frischen Triebe der Farne im Frühling zu entdecken, das erfüllt mich mit Freude. In solchen Momenten fühle ich mich am ehesten als Mensch, als Teil der natürlichen Welt. Doch Hoffnung gibt mir das nicht. Technologie, Industrie und digitale Vernetzung bringen immer mehr Einsamkeit, Entfremdung und Zerstörung hervor. Der Kapitalismus vernichtet Mensch, Tier und Land ungebremst. Viele Menschen ignorieren das, wenden sich Nationalismus und Rassismus zu. Was bleibt, ist lesen, Zeit in der Natur verbringen und Musik. Bonjour Tristesse ist mein Ventil für all die Frustration und Ohnmacht. Black Metal hilft mir, in einer wahnsinnigen Welt nicht selbst wahnsinnig zu werden.
Ist Versöhnung von Mensch und Natur denkbar?
Die Narrative von der Überlegenheit unserer Spezies und der heutigen Zivilisation als Gipfel menschlichen Daseins führen zwangsläufig in den Untergang. Anarchoprimitivisten wie Fredy Perlman verknüpfen Anarchismus mit radikal ökologischen Gedanken und vehementer Zivilisationskritik. Der Titel des 2023er Albums bezieht sich auf Perlmans Buch »Against His-Story, Against Leviathan!«. Landwirtschaft ermöglichte die Bildung von Reichtum und Herrschaft. Staaten, Industrialisierung und Kolonialismus fußen darauf. Der Biologe Jared Diamond spitzte das zu, als er Landwirtschaft als »worst mistake in the history of the human race« bezeichnete.
Wirkt umgekehrt Black Metal als Ausdruck von Vereinzelung und Leiden auf die Gesellschaft zurück?
Wechselwirkungen gibt es immer. Der Einfluss des Winkels einer Nische dürfte gering sein. Einzelne werden sicher stark geprägt von Black Metal und allem, was dazugehört. Wenn sie auf ihr Umfeld einwirken, verbreiten sich vielleicht andere Sichtweisen auf Natur, Ökologie und Religion. Fans berichten mir jedenfalls, wie die Texte sie beschäftigen und dass die Songs ihnen in schweren Zeiten helfen. Ohne die Musik kämen diese Verbindungen nie zustande. Insofern webt Black Metal so etwas wie ein subkulturelles Netz gegen Vereinzelung und kann ökologische und gesellschaftskritische Gedanken transportieren.
Ist Bonjour Tristesse womöglich die Keimzelle der ökoanarchistischen Umwälzung?
Das würde ich mir wünschen (lacht). Jedoch ist Black Metal als Medium limitiert. Es gibt nicht übermäßig viele Menschen, die sich von dieser besonderen, vielleicht vehementeren oder radikaleren Art und Weise des Ausdrucks berühren lassen. Ich hoffe allerdings, dass bald auf die enorme Bedeutung intakter Ökosysteme und die Vorzüge einer staatenlosen und hierarchiefreien Gesellschaft nicht mehr mittels Musikstücken hingewiesen werden muss.
Führt bis dahin der Weg von Bonjour Tristesse noch etwas weiter?
Definitiv. Das nächste Album ist bereits fertig aufgenommen und wird Anfang nächsten Jahres erscheinen. Ich kann verraten: Die Reise geht noch tiefer in den Abgrund.
Seit fast 20 Jahren betätigt sich Nathanael in den Randbereichen des Metal. Das Soloprojekt Bonjour Tristesse lieferte letztes Jahr mit »The World Without Us« den Soundtrack zur Horrorrealität. Seine Bands Thränenkind und King Apathy werden noch heute wegen ihrer musikalischen Qualität und der linken Inhalte geschätzt. Dieses Jahr ist Nathanael als Bassist mit Heretoir unterwegs, deren neues Album im Gewand von Post-Black-Metal ähnliche Themen wie Bonjour Tristesse behandelt. Heretoirs neues Album »Solastalgia« erscheint am 19. September bei AOP Records.
75 für 75
Mit der Tageszeitung junge Welt täglich bestens mit marxistisch orientierter Lektüre ausgerüstet – für die Liegewiese im Stadtbad oder den Besuch im Eiscafé um die Ecke. Unser sommerliches Angebot für Sie: 75 Ausgaben der Tageszeitung junge Welt für 75 Euro.
links & bündig gegen rechte Bünde
Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.
Mehr aus: Feuilleton
-
Derselbe Schmu
vom 15.08.2025 -
Die Keplerin
vom 15.08.2025 -
Nachschlag: Kinder an die Front
vom 15.08.2025 -
Vorschlag
vom 15.08.2025