Gegründet 1947 Donnerstag, 14. August 2025, Nr. 187
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Aus: Ausgabe vom 09.08.2025, Seite 6 (Beilage) / Wochenendbeilage
ABC-Waffe

Einmal Löwe, immer Löwe

Schlammcatchen im Wehrsportlager der geschiedenen TÜV-Prüfer. Ein langes Wochenende in Wacken
Von Franz Hruby
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In Berlin strahlt Sonne, der Auftrag lautet: Wacken. Fröhliche Tagesberichte vom angeblich größten Heavy-Metal-Festival der Welt auf höchstem journalistischen Niveau für den Auftraggeber. Man nennt das heutzutage Content, man nannte es einmal anschmiegsamen Journalismus, noch früher Hofberichterstattung. Der Rubel muss rollen, und schließlich ist so ein Festival für den Autor auch nicht ohne Mehrwert. Ein paar Bands gucken, saufen, Moshpit, Prügelpogo. Und er kommt mit dem versprochenen Honorar schließlich dankbar bei Null raus. Schließlich ist das Mekka des Metal nördlich von Itzehoe ja nicht billig, seit Jahren trotzdem in ein paar Stunden oder Tagen ausverkauft. Mit dem Auto auf den Zeltplatz kostet noch mal Aufschlag: 366 Euro lautet dann die Number of the Beast. Beziehungsweise würde lauten – als akkreditierter Journalist müssen lediglich für das Camping gnädige 100 Euro zugeschossen werden. Dafür aber angeblich im VIP-Bereich, mit kurzen Laufwegen in besonders guter Lage und einem komfortablen Shuttlebus. Als arbeitender Mensch privilegiert zu werden, fördert ein selten gekanntes Gefühl: Würde.

Der Autor ist bereit, sich in den Staub zu schmeißen. Er ist 35 Jahre alt, seit fast zehn Jahren hat er nicht gezeltet. Im Keller finden sich unerwartet alle notwendigen Utensilien aus Jugendzeiten: Zelt, Isomatte, Schlafsack, Campingstuhl. Sich seiner Sache sicher, wartet er bis zum letzten Tag vor der Anreise, um sich an die alte Camperweisheit zu erinnern: Überprüfe dein Equipment vor dem Trip. Tatsächlich fehlt dem Zelt das Überzelt. Zum Glück haben seine gleichaltrigen Freunde seit Coronazeiten ihre prallen Programmierergehälter in Outdoorbesteck und Allradkarren investiert. Sogleich findet sich der Retter in der Not mit einem kompletten Zelt. »Hast du Gummistiefel?« fragt der besorgt. Zwar sind Springerstiefel vorhanden, aber so was nicht. »Nimm unbedingt meine mit, da regnet es doch immer wie die Sau!« Eine Warnung, die sich in den folgenden fünf Tagen als unermesslich wertvoll erweisen sollte.

Von Berlin auf die Autobahn steuern. Den Kleinwagen vollgepackt mit Fressalien, Decken, Campingkocher und ein paar mittelwarmen Klamotten. Eine Regenjacke auch, die einzige im Kleiderschrank, ist 30 Jahre alt – ein vererbtes offizielles Merchandise des TSV 1860 München. (Es dämmert dem Autor, dass das auf einem Festival voller Männer, die sich zu großem Teil tatsächlich für diese Sportart interessieren, vielleicht keine so goldene Idee war.) 22 Grad hat es in der Hauptstadt, es ist leicht sonnig, heiter. So bleibt das bis Hamburg, direkt am Hotel Atlantic vorbei, fängt es im Angesicht des Nuschel-Udo an zu schütten. Nur ein kurzer Schauer. Hinterm Horizont geht’s weiter, sagt sich der Autor und schiebt sich munter einen Burger rein.

Kurz vor der Ausfahrt »Krankenhaus Itzehoe« beginnt es, leicht zu schütten, ein riesiges Schild an der Autobahn verkündet: »Welcome Metalheads!« Der Presse-Check-in ist irgendwo im Nebendorf, das Handy navigiert auf eine schmale Landstraße, dann soll es auf einmal links abgehen. Ein Bauernhof. Kühe muhen aus dem Stall. Menschen in Warnwesten weisen einen Parkplatz zu. Die andere Scheune mit Blick aufs Milchvieh beherbergt also die Rezeption einer Weltinstitution. Wacken: Synonym für harten Rock. Teufelshörner. Schwarzträger. Langhaarige. Bärtige Kerle und pfundige Dirnen. Außer dem Festivalbändchen mit Bezahl-, Ortungs- und Identifikationschip gibt’s nichts. Lageplan? Auf der App, weil Papier fürs Klima gespart wird. Auf einmal beginnt es zu regnen, wie es nur in Wacken regnet. Endlose Schnüre fallen vom Himmel, die Pfützen werden gleich kleine Seen, das Rindvieh mit Chip im Ohr brüllt dazu im Kanon.

Wo das VIP-Camping ist, wissen fünfzehn Ordner nicht. Irgendwann ward’s aber gefunden, heißt »Wacken United«. Schon beim Ankommen ist der Zeltplatz vermatscht. Der Toyota Starlet, Baujahr 1999, Lack: libellengrün, Leergewicht: 905 Kilo, tänzelt zu diesem Zeitpunkt noch leichtfüßig in reinem Vorderantrieb mit den Allwetterreifen durch die schlammigen Furchen. Ein nettes Paar Ende 40 winkt. Er trägt ein »Krawallbrüder«-Shirt, sie eines von der »Größten Onkelz-Nacht aller Zeiten«, dazu ein nettes Ketterl mit eisernem Kreuz. Gegenüber, zwischen zwei brandneuen Profizelten in Familiengröße, ist noch Platz für den bescheidenen Amateur. Sogleich wird sich herzlich begrüßt, Nachbar Sven ist Mitte 50, TÜV-Prüfer irgendwo bei Oldenburg, zwei Kinder, geschieden, sein erster Urlaub seit zehn Jahren, »Hammerfall«-Shirt um den gemütlichen Bauch. (»1860 – also ich war früher Dortmund-Fan!«) Seinen Volkswagen ID.4 zahlt die Firma, er hasst ihn sehr. »Das schlechteste Auto, das ich jemals hatte«, bekennt der Sachkundige. Sven hat sich das Rundum-sorglos-Paket von Wacken geleistet: 1.400 Euro für Ticket, VIP-Camping und »All You Can Eat and Drink«. Ein neues Zelt dazu, er campt schließlich nie. Und einen Stromgenerator. Klar, er muss die Kühlbox betreiben und das Handy aufladen. Ob er das nicht am Auto machen kann, hat doch schließlich 77 Kilowattstunden Kapazität? Na ja, da müsste er ja den Schlüssel stecken lassen. Sagt’s und meditiert lieber achtsam neben dem Benzinmotor – sein gutes Recht als TÜV-Prüfer. Kurz hört es zu regnen auf, das Zweimannzelt steht, die Gummistiefel sitzen.

Wo ist denn nun der Pressebereich? Elf Ordner schütteln den Kopf. Als es schließlich einer weiß, weiß der auch, dass der einzige Weg dorthin für Pressevertreter nicht zugänglich ist. (»Mein Kumpel ist totaler 60er!«) Vom VIP-Zeltplatz sind es gut 700 Meter zum unausweichlichen VIP-Shuttlebus, der dann gut 1.000 Meter zum VIP-Bereich inklusive Pressezelt fährt. Das dauert mindestens eine halbe Stunde, jedes Mal. Der Pressecontainer, da steht er. Handy laden ein Euro. Spind drei Euro pro Tag. In einem kahlen Raum vor drei langen Tischen muht gechipt das Schreibvieh. Kein Wasser, keine Kaffemaschine, kein Scheißhaus. Kein Problem, einen Cappuccino gibt es gleich daneben für 5,50 Euro. Und seine Kameraausrüstung im Wert von 15.000 Euro kann man den Kollegen anvertrauen, wenn man mal muss. Steckdosen und WLAN sind kostenlos. Alle schreiben sie eifrig, laden Fotos hoch, generieren Content. »Und für wen bist du da?« – »Krombacher.« Die Kollegin berichtet vom Bierpongbereich und vom Biergarten. Krombacher ist Hauptsponsor, 0,4 Liter Pils kosten 5,80 Euro. Der Autor muss aufs Klo, als er zurückkommt, ist sein Ladegerät in den Besitz eines bis heute unbekannten Kollegen übergegangen. Sein Sitznachbar ist besonders nett, schenkt ein neues Ladekabel. »Und für wen bist du da?« – »Bild«. Der Genosse darf in der »Residenz Evil« wohnen, das Upgrade zum VIP-Camping mit fertig aufgestellten Tipis und Betten ab 1.039 Euro. Es gibt auch ein Hotel namens »Moshtel« für 2.699 Euro im Einzelcontainer. (»1860 hab’ ich ja lange nicht gesehen!«)

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Wie jedes Jahr bläst die Feuerwehrkapelle von Wacken zum Auftakt des Festivals am Mittwoch Mittag. Was heißt eigentlich Auftakt, der Zeltplatz öffnete ja bereits am Sonntag. Die ersten Bands spielten schon auf kleinen Bühnen und im Landgasthof des Dorfes. Wikingerkämpfe und Mad-Max-Autos dazu. Metal-Yoga und Feuershow. Kunsthandwerk zu kaufen. Heavy Metal, so wie er hier verscherbelt wird, ist keine Subkultur, das ist »Kult«, der sich irgendwann aus Gothic, Mittelalter, High Fantasy, Bikertreff und Kinderzimmer zusammenkleisterte. Überhaupt ist alles »kultig« auf Wacken und wird auch so verkauft. Das fängt bei der markigen Schriftart an, die konsequent in Kapitälchen alles breit deklariert – vom Müllbeutel bis zur Kaffeetasse – und hört beim überwürzten Schweinenackensteak im Brötchen zu 8,90 Euro– dem Wacken-Nacken – auf. Der zentrale Festivalbereich mit den großen Bühnen wird als »Holy Ground« bezeichnet und am Mittwoch um 15.30 stürmen ihn die Massen. Küssen den Rasen, schlagen Purzelbäume: »WACKÖÖÖÖN!«

Seit 1990 findet das Festival statt, schnell wurde es groß, bald wurde es riesig. 85.000 kommen mittlerweile, sorgen für unglaublichen Umsatz in der Gemeinde. Nur das Wirtshaus durfte von vier Tagen Halligalli im Jahr nicht überleben, ging konkurs. Heute gehört es mitsamt dem Festivalbiergarten den Festivalgründern Thomas Jensen und Holger Hübner. Beziehungsweise verkauften die beiden ihre Mehrheitsanteile 2009 an Superstruct Entertainment, das wiederum letztes Jahr von der New Yorker Investorengesellschaft KKR gefressen wurde. KKR hält Mehrheitsanteile an Axel Springer, Wella-Kosmetik, der Berliner Immobilienfirma Vello, dem deutschen Raumfahrtunternehmen RFA und dem Medienkonzern Leonine.

Die Gemeinde Wacken zählt 2.098 Einwohner, ein Bauerndorf aus dem Bilderbuch. Akkurateste Grundstücke mit Carports und Trimmrasen, SUVs und Photovoltaikanlagen. Auf der Hauptstraße ist dieser Tage Dorfkirmes. Jeder, der kann, bemüht sich um gastronomische Angebote. Einige Anwohner richten im Vorgarten improvisierte Biergärten mit Ausschank und Sitzgelegenheit ein. (Langsam wird die Fußballjacke des Autors zum Problem; alle halbe Stunde kommt einer her: »Heeey, 1860!!!«) Um die drei Euro verlangt man hier für ein frisches Dithmarscher, dazu die Bratwurst vom regionalen Metzger und meistens die Böhsen Onkelz aus Lautsprechern, ab und zu Motörhead. (»Einmal Löwe, immer Löwe!«) Metalfans sind konservativ und ordentlich – hier reihert niemand auf die Straße, kein Müll landet in den Vorgärten, gepisst wird artig ins Dixi. Die Welt zu Gast in Nulldeutschland. Der kleinbürgerlichste gemeinsame Nenner des Teutonentums, wie auf Malle oder dem Oktoberfest, hat sich mit Hard Rock dekoriert. (»FC Bayeeern!«)

Einziges Kulturdenkmal von Wacken ist die neugotische Heilige-Geist-Kirche, errichtet im Jahr 1863, selbstverständlich evangelisch-lutherisch in Backstein. Für 17.00 Uhr ist ein Metal-Gottesdienst angekündigt. Vertreter der Kirchengemeinde begrüßen die düsteren Schäfchen herzlich, es gibt Wasser und selbstgebackenen Mohnkuchen gegen Spende. Bierhelm bitte draußen lassen, aus Respekt gegenüber dem Haus Gottes. Jeder darf dafür auf ein Zettelchen eine Fürbitte oder einen Lobpreis schreiben. Da sitzt die schwarze Masse und lauscht der weißen Messe. Gestaltet wird sie von einer Freikirche aus Wangen an der Aare namens Metalchurch, die ihre Hauskapelle Adoramus geschickt hat. Der Wackener Pfarrer und der Schweizer gestalten zusammen das »Heavy Sanctum«. Verzerrte Gitarren dröhnen schrill vom Altar, so ein Kirchensound tut dem Metal nicht gut – in vielerlei Hinsicht. Draußen versuchen noch andere fromme Grüppchen das Paradoxon aus satanischer Dunkelheit und göttlichem Licht zu überwinden: »Metal-Bibeln« und Broschüren mit Rockstars gegen Drogen werden verteilt. (»Hey, kennst du noch den Werner Lorant?«)

Gleich spielen Japanerinnen in knappen Schulmädchenuniformen, Hanabie heißen sie. Überhaupt kommt alles, was Titten hat, bei den Metalherren gut an – am Anfang war das mal Doro Pesch, die sich um »Ernsthaftigkeit« bemühte, insofern das im Kontext des Genres »Power Metal« möglich ist. Dann erhöhten die Bands Nightwish und Within Temptation den geringen Frauenanteil der Szene. Vor gut zehn Jahren tauchten dann Babymetal auf und sabotierten jede Emanzipationsbestrebung. Die gecasteten Mädels waren nämlich »kawaii«, das heißt auf japanisch soviel wie »niedlich« und vor allem sexy. Eine Riesenmarktlücke wie gemacht für die zahlreichen geschiedenen Männer auf Wacken. (»Eeey, wann steigt der TSV wieder auf?«)

Langsam aber sicher weicht das Festivalgelände durch. Und das am ersten offiziellen Tag. An diesem Punkt gibt es keine Alternative mehr zu den Gummistiefeln, gegen Abend hin verdichtet sich der Regen wieder zur Sintflut. Saltatio Mortis spielen zum 25. Bandjubiläum als Headliner – die Mittelaltertruppe aus Karlsruhe hat viele treue Fans. Wer noch nie von ihnen gehört hat: Die letzten fünf Alben der Band waren auf Platz eins der deutschen Albumcharts. Es schüttet und schüttet und schüttet, Dudelsack und Drehleiher dröhnen über das Prasseln. (»Respekt, ihr 60er seid leidgeprüft!«) Seit acht Uhr ist der Autor auf den Beinen, seit mindestens zehn Stunden bewegen sich die Beine in Gummistiefeln durch den langsam knöcheltiefen Schlamm. Scheiß auf den Shuttlebus, ab durch illegale Wege, direkt zum Zeltplatz. Mit dem Hintern zuerst ins vermeintlich Trockene, dann die bittere Erkenntnis, dass das Zelt in Baumarktqualität nicht für Dauerregen imprägniert ist. Alles ist nass: Der Schlafsack, die Decke, die Isomatte. Die Hose voller Schlamm, der Pullover trieft. Schlafquartier auf dem Beifahrersitz des winzigen Kleinwagens. Das Wacken-Wetter gibt’s umsonst, und die Fans lieben es.

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Aufwachen zum Hitzestau im Auto. Am Donnerstag scheint tatsächlich die Sonne, das Zelt trocknet, die Stimmung steigt. Überall auf dem Gelände gibt es irgendwelche Sonderbereiche für ganz besondere Menschen. Der Versandhändler EMP zum Beispiel unterhält sich einen eigenen Fanbereich mit Sitzsäcken und Steckdosen vor einer Bühne, für den Zutritt muss ein Abo abgeschlossen werden. Unten spielen Macabre aus Chicago, seit 40 Jahren singen sie ausschließlich über die fröhlichsten Serienmörder. (»Wie hieß noch mal der brutale Stürmer von den Sechzgern?«)

Macabre sind drei Mann: Gesang und Gitarre, Bass, Schlagzeug. Unkompliziert für jeden Soundmann mit Ohren. Nicht nur bei diesem Konzert klingt Wacken jedoch mehr nach Technofestival als nach Rock ’n’ Roll. Wummernder Subbass, dazu digitale Höhen: 60 Prozent Schlagzeug, 20 Prozent Gesang, 15 Prozent Gitarren, fünf Prozent Bassgitarre. So was erzeugt keine Musikalität, höchstens Impulse zum Abwackeln. Neue Freunde, der Trieb nach Sauerei vereinte sie, suhlen sich zum Drum im Schlamm. Von Kopf bis Fuß eingedeckt in Gülle umarmen sich junge Menschen zur Hymne über den Knabenkiller Jeffrey Dahmer. Momente reiner Schönheit.

Um so hässlicher fällt ein Besuch des »Wasteland« aus, sozusagen der Messebereich des Wacken Open Air. Auf einmal tun sich Tarnfarben auf. Grüne Zelte und Teile eines Kampfflugzeugs. Wow, ein echter Tornado! Kann das sein? Tatsächlich betreibt das Festival seit Jahren eine Kollaboration mit der Bundeswehr. Einmal spielte das Musikkorps Siegburg zusammen mit der Accept-Legende Udo Dirkschneider. Sogar spezielles Crossover-Merchandise aus »Wacken« und »BW«, Bullenhorn und Schwarzem Kreuz haben sie anfertigen lassen. Mehr als 100 Professionelle durften mit aufs Festival, auch im VIP-Bereich ist Uniformfetisch präsent. Rekrutieren möchte man hier – aber wen eigentlich? Reservistenrentner? Übergewichtige mit Alkoholproblem? Der Altersdurchschnitt auf dem Festival liegt bei gefühlt 50 Jahren, junge Leute können sich den Spaß kaum leisten. Im Sanitätszelt haben Soldaten zur ehrlichen Illustration des Kampfeinsatzes eine Schaufensterpuppe an Tropf und EKG auf eine Trage gelegt. Offener Bauchschuss – dem Dummy quellen Plastikgedärme aus dem Rumpf. (»Stark wie noch nie! TSV!«) Daneben lassen aus sanfter Protesthaltung ein paar wackere Wackener die guten alten Ton Steine Scherben aus ihrer Bluetooth-Box dröhnen. Langsam dämmert dem Autor, dass alles hier eigentlich eine riesige Wehrsportübung ist. Der Schlamm, der Lärm, die unweigerliche Kameradschaft. Zum Mutterkonzern gehört schließlich auch dieses Augsburger Raumfahrtunternehmen. »Wacken goes Space« – hier ist der Beweis für die Existenz des musikindustriell-militärischen Komplexes.

Hundert Meter weiter wirbt ein Zelt mit Regenbogensymbolen. »Dieser Stand ist diskriminierungsfrei für alle da!« freut sich der runde Mann, der bestimmt lieber »runde Person« genannt werden möchte, im Sozialarbeitermodus. »Wir haben einen Discord-Chatroom geschaffen, wo jeder Mensch so sein kann, wie er möchte, ohne gemobbt zu werden.« Was er denn von der Bundeswehr da drüben hält? »Ach, die sind doch nur da, um uns zu sichern«, nimmt auch er das Angebot des Karrierezentrums der Truppe dankbar an. In der Ecke des Zeltes ist ein mit Schleier, Kunstblumen, Bullenschädel und Herzform dekorierter Verschlag eingerichtet. Dort kann man sich, ungeachtet Geschlecht und Identität, rituell trauen lassen. Bitte folgende Ordnung einhalten: Erst verpflichten, dann queere Metalhochzeit!

Abends spielen Guns ’n’ Roses dreieinhalb Stunden lang, bereits nach zwanzig Minuten gucken sich selbst ältere Fans desillusioniert an und wandern ab. Ministry blasen nachts alle vom Krombacher verfuselten Schädel frei. Einige sammeln bereits Pfandbecher zu zwei Euro, die im Sumpf von Mordor stecken. An den Fressbuden die hoffnungslose Bitte nach Trinkgeld: »Deposit is also a Tip!« Alle Gastronomie ist durch den Bezahlchip geknechtet – wer tippt extra aufs Tablet, um zehn Prozent mehr zu bezahlen? Mürbe Gesichter im Ausschank.

Das Zelt bleibt für eine Nacht trocken, der Freitag aber bringt wieder nicht enden wollende Nässe vom Himmel. Das nervt langsam sogar die Hartgesottenen. Auch Nachbar Sven rührt Unmut, er will schon am Sonnabend abreisen. Da stecken gleich die ersten fest, warten zwangsgeduldig auf Traktoren mit Abschleppseil. Tief im Morast versank der Mercedes-Minibus eines Pfälzers, seit vier Stunden sitzt er starr hinterm Steuer wie der Buddha von Schleswig-Holstein. Auf den Bühnen wechseln sich Bands in lustigen Kostümen ab. Flamingos aus Norwegen, Zombies aus Nürnberg und Nackte aus Bochum sind zusammen fast so unterhaltsam wie Titten. (»Nur der FCB!«) Endlich grüßt der Sonntag, die fröhlichen Plichtberichte sind geschrieben, der Content brav im Netz. Zeit für Dusche, Bett und Würde. Zwanzig Meter weit ackert der kleine Toyota über die Vorderräder, dann kapituliert auch er vor der Wackener Jauche.

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