Gegründet 1947 Donnerstag, 14. August 2025, Nr. 187
Die junge Welt wird von 3019 GenossInnen herausgegeben
Aus: Ausgabe vom 02.08.2025, Seite 3 / Schwerpunkt
Kurdistan-Konflikt

»Jetzt ist es Zeit für Frieden«

Kurdistan: PKK-Initiative drosselt Kreislauf der Gewalt im Nordirak und verschafft Atempause. Ein Gespräch mit Kamaran Osman
Von Tim Krüger
3.jpg
Symbol der Hoffnung: Beim Newroz feiern Kurden den immer noch inhaftierten PKK-Chef Öcalan (Diyarbakır, 21.3.2025)

Kamaran Osman ist Mitarbeiter der NGO Community Peace Maker Teams, die seit 2006 die Auswirkungen der grenzübergreifenden Kriegseinsätze der Türkei und Irans in der kurdischen Autonomieregion im Nordirak beobachtet.

Wie haben sich die türkischen Militäroperationen in den letzten Jahren auf die Region Kurdistan im Irak ausgewirkt?

Als 2013 der Friedensprozess zwischen Abdullah Öcalan und der türkischen Regierung begann, war eine der ersten Bedingungen der türkischen Regierung, dass die PKK das türkische Staatsgebiet verlässt. Die PKK wollte zeigen, dass sie den Friedensprozess ernst meint, und zog sich in den Irak hinter die Grenze zurück. Nachdem der Prozess 2015 gescheitert war, intensivierte die Türkei ihre Angriffe und setzte dabei auch immer mehr auf die Nutzung von Drohnen. Das veränderte die Auseinandersetzungen komplett. Es war kein individueller Kampf mehr wie in den Jahren davor, sondern eben auch ein Kampf am Himmel.

Im Dezember 2017 startete die Türkei das erste Mal nach dem letzten Friedensprozess militärische Bodenoperationen im Irak, um die Kontrolle über das gesamte Guerillagebiet zu übernehmen. Im Zuge dessen hat sie in den zurückliegenden Jahren mehr als 100 Militärbasen in dem Gebiet errichtet und sie mit einem engen militärischen Netzwerk verbunden. So wurden unzählige Familien vertrieben.

Seit dem vergangenen Jahr versucht die Türkei vor allem die strategisch wichtige Bergkette Gare zu kontrollieren, was ihr jedoch nicht gelungen ist. Die Kette ist knapp 40 Kilometer lang, sehr hoch und voller durch die Guerilla errichteter Tunnel. Dieser mit Tunneln durchzogene Berg dient der PKK als wichtige Verbindung und logistischer Zwischenstopp zwischen den Städten Erbil und Dohuk im Nordirak sowie zwischen Başûr (Südkurdistan, d. h. kurdischer Teil des Irak; jW) und Rojava (kurdische Siedlungsgebiete in Syrien, jW). Deshalb ist diese Bergkette für die Türkei so wichtig, daher hat sie die militärische Operation trotz des Friedensprozesses nicht eingestellt. Die Türkei will diesen Berg weiterhin kontrollieren, da er die einzige Erhebung an der Grenze zur Türkei ist, auf der die PKK präsent ist.

Ein zentrales Element der Invasion der Türkei war, eine Pufferzone zwischen der türkischen und der irakischen Grenze zu schaffen. Solange jedoch Zivilisten an der Grenze leben, kann keine Pufferzone geschaffen werden. Deshalb vertreibt die türkische Armee die Bevölkerung gezielt von dort. Eine der Methoden besteht darin, zivile Häuser und zivile Fahrzeuge direkt zu bombardieren. Seit 1991 wurden 1.800 Quadratkilometer landwirtschaftlicher Fläche zerstört. Die Strategie ist, die Menschen in einem dauerhaften Zustand der Angst zu halten.

Wie hat sich die Lage vor Ort seit dem Aufruf von Abdullah Öcalan am 27. Februar und dem erneuten Beginn des Prozesses in der Türkei entwickelt?

Wenn man die Zahl der Bombardierungen eine Woche nach Öcalans Aufrufen mit der Zahl eine Woche davor vergleicht, hat sie um 145 Prozent zugenommen. Nach der einseitigen Waffenstillstandserklärung im März hingegen war die Zahl der Angriffe stark zurückgegangen. Es gab insgesamt 118 Bombardierungen im ganzen Monat. In der Region Sulaimanija fand seit dem 1. März keine einzige Bombardierung mehr statt. Im April stieg die Zahl der Angriffe erneut auf 210. Im Mai waren es dann 510 Bombardierungen und im Juni 515 Angriffe.

Alle Bombardierungen, die seit dem Friedensprozess intensiviert und konzentriert wurden, beschränken sich auf bestimmte Regionen in den Bergen. Keine Angriffe in Sulaimanija, sehr wenige in der Provinz Erbil und null Angriffe auf Ninive, also Şengal. Seit Beginn des Friedensprozesses wurden auch keine Zivilisten mehr getötet. Jedoch gab es weiter Angriffe auf Häuser von Zivilisten. Die Türkei versucht so immer noch, Menschen, die neuerdings auf eine Rückkehr hoffen, davon abzuhalten, in ihre Häuser zurückzukehren.

Derzeit konzentrieren sich die Angriffe, wie gesagt, weiter auf das Gare-Gebirge. Die Türkei will nicht, dass das Gare-Gebirge in die Hände der PKK oder einer mit der PKK verbündeten Organisation fällt. Der Grund dafür ist, dass dieses Gebiet für die Türkei ein Hindernis auf dem Weg nach Mossul und Ninive darstellt, da es die gesamte Region überragt. Sie ist einerseits historisch bedeutsam für die Türkei. Andererseits will Ankara hier die »Iraq Development Road« erbauen, die den Handel mit dem Irak und am Persischen Golf fördern soll.

Man würde doch erwarten, dass es irgendwann zu einem vollständigen Waffenstillstand kommt, wenn man sich in einem Friedensprozess befindet?

Ich weiß es nicht, die Türkei spricht nicht von einem Friedensprozess. Auch alle anderen sind sehr vorsichtig mit diesem Wort. Um ehrlich zu sein, hat die PKK aktuell keinerlei Absicht, Kandil oder Gare zu verlassen. Sie wird in diesen Gebieten bleiben, bis sie eine vollständige Garantie hat, sich in der Türkei entsprechend politisch einbringen zu können. Und alle sind sich sicher, dass das aktuell einfach nicht der Fall ist. Es gibt also nur zwei Möglichkeiten für die Türkei, den Berg Gare zu kontrollieren. Die eine ist militärisch, was sehr schwierig und schon mehrfach gescheitert ist. Der zweite Weg ist der Friedensprozess. Wenn er erfolgreich ist und die PKK in die Türkei zurückkehren und alle ihre demokratischen und politischen Rechte ausüben kann, dann hat sie keinen Grund mehr, in Gare zu bleiben. Aber im Moment werden sie nicht einfach gehen, solange nicht klar ist, wie der Prozess ausgehen wird. Daher wird wahrscheinlich auch der Krieg dort nicht enden.

Aber wie kann der Prozess in einer anhaltenden Kriegssituation weitergehen?

Das ist ein wirklich interessanter Punkt, denn oft geht es in den Diskussionen um Sieg oder Niederlage, aber es ist nicht so einfach zu sagen, dass eine Seite gewinnt und die andere verliert. Tatsächlich befinden sich die beiden Seiten in einer Situation, dass der Prozess funktioniert und beide davon profitieren, oder der Prozess scheitert und beide verlieren.

Dieser Krieg ist ein Kreislauf, der seit 42 Jahren andauert. Beide Seiten sitzen fest. Die PKK konnte die Regierung nicht zerstören. Die Regierung konnte die PKK nicht zerstören. Die Regierung hat diese Partei sogar noch stärker gemacht. Selbst Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat das zugegeben. Die PKK konnte ihre Technik weiterentwickeln. Gleichzeitig ist auch die türkische Regierung stärker geworden. Jetzt ist es an der Zeit, dass beide Seiten aus diesem Kreislauf ausbrechen und etwas Neues versuchen. Beide Seiten glauben, dass sie etwas gewinnen können, deshalb wollen sie es unter sich ausmachen, ohne eine dritte Partei, die möglicherweise ihre eigenen Interessen verfolgt. Und es ist das erste Mal, dass die Parteien unter sich sind und nicht mit anderen zusammenarbeiten.

Ein weiterer Unterschied zu früheren Prozessen besteht darin, dass der »tiefe Staat« in der Vergangenheit nicht am Friedensprozess beteiligt war, aber dieses Mal fordert er ihn selbst. Devlet Bahçeli (Vorsitzender der extrem rechten Partei MHP, jW) hat fast 50 Jahre seines Lebens gegen diesen Prozess gekämpft. Jetzt ist er derjenige, der ihn antreibt. Ich denke, die PKK wird durch ihn nichts verlieren. 30 Kalaschnikows, alte russische Waffen, wie sie Mitte Juli niedergelegt und symbolisch zerstört wurden, sind gar nichts für sie. Die Kämpfer sind sofort danach zurück in die Berge gegangen. Sie können sich etwas ausruhen. Es gab viele Bombardierungen. Viele PKK-Führer wurden getötet. Jetzt ist es Zeit für einen zumindest vorübergehenden Frieden und eine Option auf legale Politik. Aber ich denke, die Chancen auf einen Erfolg stehen fünfzig zu fünfzig.

Hintergrund: Langer Prozess

Nach knapp zehn Jahren ununterbrochenen Kriegszustands zwischen der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und dem türkischen Staat findet in der Türkei seit Oktober vergangenen Jahres ein erneuter Versuch statt, die kurdische Frage auf einem demokratischen und friedlichen Weg zu lösen. Getrieben von den rapiden Umwälzungen im gesamten Nahen und Mittleren Osten seit dem 7. Oktober 2023, ließ die Regierung aus konservativer AKP und extrem rechter MHP erstmals nach über 40 Monaten Besuch bei dem inhaftierten PKK-Gründer Abdullah Öcalan zu. Dieser wird seit über 26 Jahren auf der türkischen Gefängnisinsel İmralı festgehalten.

Öcalan erklärte sich bereits beim ersten Treffen Ende Oktober bereit, »die nötigen Schritte« einzuleiten, um zu einer friedlichen Lösung beizutragen und »den Prozess auf eine rechtliche und politische Grundlage zu stellen.« Es folgten mehrere weitere Treffen, schnell auch unter Einbezug der linken prokurdischen Dem-Partei, die fortan als Mittlerin zwischen der türkischen Regierung, Öcalan und den verschiedenen Teilen der kurdischen Befreiungsbewegung fungierte. Ende Februar kam es zum ersten großen Paukenschlag in dem Prozess: Öcalan rief seine eigene Partei auf, den bewaffneten Kampf einzustellen und sich selbst aufzulösen, wenn die rechtlichen Bedingungen dafür gegeben seien. Die PKK reagierte für viele überraschend wohlwollend und rief wenige Tage später einen einseitigen Waffenstillstand aus. Anfang Mai formalisierte sie diese Beschlüsse trotz anhaltender militärischer Angriffe und formulierte gleichzeitig den Anspruch, sich zukünftig auf legaler Ebene in den politischen Prozess in der Türkei und der Region einbringen zu wollen.

Diese legale Grundlage für den weiteren Kampf wurde bisher nicht geschaffen, was die Zweifel an dem Prozess weiter vertiefte. Nachdem die PKK ihre Auflösung bekanntgegeben hatte, lag es an der Türkei, einen nächsten Schritt zu gehen. Die Einrichtung einer Kommission, die den Prozess sowie die Demokratisierung der Türkei voranbringt, war eine zentrale Forderung von seiten der PKK. Nachdem die Türkei keine nächsten nennenswerten Schritte vorgenommen hat, nahm die PKK erneut die Initiative in die Hand und legte am 11. Juli nach einem erneuten Aufruf aus İmralı die Waffen in einer symbolischen Zeremonie nieder.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan kündigte am Folgetag in einer Ansprache die Einrichtung einer Kommission an, die in der kommenden Woche ihre Arbeit aufnehmen soll. Konkrete Schritte zur von der PKK geforderten Demokratisierung auf einer rechtlichen Grundlage sind jedoch ausgeblieben, so dass auch die Zweifel am gesamten Prozess weiter zunehmen. (tk)

75 für 75

Mit der Tageszeitung junge Welt täglich bestens mit marxistisch orientierter Lektüre ausgerüstet – für die Liegewiese im Stadtbad oder den Besuch im Eiscafé um die Ecke. Unser sommerliches Angebot für Sie: 75 Ausgaben der Tageszeitung junge Welt für 75 Euro.

 

links & bündig gegen rechte Bünde

Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.

Dieser Artikel gehört zu folgenden Dossiers:

Ähnliche:

  • Lichtstreif am patriarchalen Horizont? Das kurdisch dominierte P...
    23.01.2025

    Ein Land für alle?

    Während die Türkei und Israel Teile des Landes besetzt halten, ist mehr als fraglich, ob die Islamisten ihre demokratischen Versprechen einhalten. Syrien – gestern und heute (Teil 2 und Schluss)
  • Dschihadisten im Visier. Eine YPJ-Kämpferin in der belagerten un...
    12.09.2024

    Der IS kommt nicht durch

    Im September 2014 greift die islamistische Terrormiliz die syrisch-kurdische Grenzstadt Kobanê an. In wochenlangen Gefechten halten die kurdischen Volksverteidigungseinheiten stand
  • Kritik erloschen: Erdoğan wurde im Frühjahr von Shia Al-Sudani i...
    26.08.2024

    Antikurdische Allianz

    Türkei baut Kooperation mit Irak gegen PKK aus und eskaliert Krieg in Autonomer Region

                                                                 Aktionsabo: 75 Ausgaben für 75 Euro