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Aus: Ausgabe vom 01.08.2025, Seite 10 / Feuilleton
Literatur

Der Irrtum als Zeichen

»Das Ausmaß von Liebe«, ein »Detektivroman« von Fabio Stassi
Von Irmtraud Gutschke
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Schriftstellerische Raffinesse: Fabio Stassi

Vince Corso hatte eine Fahrkarte nach Neapel gelöst, wo er seine Freundin Feng zu treffen hoffte. Doch dann funktionierte in Rom die Anzeige auf dem Bahnsteig nicht, und er bestieg den Zug gegenüber. Ärgerlich, aber soll man daraus nicht ein Abenteuer machen? Vorab gesagt: Aus der Begegnung mit Feng wird diesmal nichts. Dafür kommt Vince einem Rätsel auf die Spur, das lange schon in ihm rumorte.

Ein »Detektivroman«, wie der Verlag bekundet? Dies ist kein Krimi von der klassisch britischen Art und sowieso keiner von der US-amerikanischen »Hard boiled«-Sorte, sondern einer voller wuchernder Seltsamkeiten, an denen der italienische Autor selbst seine Freude hatte. Es gibt hier keine grausame Mordserie wie im ersten Roman der Corso-Serie »Ich töte, wen ich will« (2022), wo der Detektiv immer wie zufällig am Ort des Geschehens war und gar selbst polizeilichen Verdacht auf sich zog. Es erscheint auch keine schöne Frau bei ihm in der Mansarde, um ihn um Hilfe zu bitten, wie in »Die Seele aller Zufälle« (2024), wo das eigentliche Thema das Vergessen ist. Aber Stassi bleibt seiner Vorliebe fürs Geheimnisvolle treu. Kopfarbeit statt Schießerei, was ohnehin nicht Vince Corsos Sache wäre.

Denn eigentlich ist der Mann ein Eigenbrötler, der viel liest und mit seinem Hund Django (der kommt auch kurz im neuen Roman vor) gern durch Rom flaniert. Wie traumverloren in Gedanken und dann wieder hellwach für etwas, das andere übersehen – diese seltsam gespaltene Wahrnehmung kennt der Autor wohl auch von sich selbst. Autor von über zehn Romanen, arbeitet er in der Bibliothek für orientalische Studien der Universität »La Sapienza« in Rom. So hat er einen Detektiv erfunden, der wohl einmalig in der Weltliteratur ist. Einst Gymnasiallehrer, ist Vince Corso als »Bibliotherapeut« tätig. Wie interessant: Menschen erzählen ihm von ihren Seelennöten, und er empfiehlt ihnen heilsame Lektüre.

Also steckt auch dieser Roman voller literarischer Anspielungen. Die zeugen nicht nur von der bewundernswerten Literaturkenntnis des Autors, sondern auch von dessen Lebensweisheit, die er mit schriftstellerischer Raffinesse an uns weitergibt. Mit einem Zitat von Michel de ­Montaigne beginnt es: »Auch das geschieht mir: Ich finde mich nicht dort, wo ich mich suche; und ich finde mich selbst eher durch Zufall als durch die Befragung meines Urteilsvermögens.«

So ist es wohl: Wer viel liest, kann ein besonderes Verhältnis zur Wirklichkeit gewinnen, muss am Chaotischen vielleicht weniger verzweifeln, weil neben der Realität die Magie literarischer Gestaltung existiert. Aus Zufällen werden Fügungen, wenn man dem Unvorhergesehenen einen Sinn abgewinnen will.

Nicht sofort hat Vince Corso gemerkt, dass er im Zug nach Genua sitzt, statt nach Neapel. »Ich wollte Ihnen nur nahelegen, dass Sie diesen Irrtum als ein Zeichen deuten könnten«, sagt der ältere Herr, der ihm gegenübersitzt. Tatsächlich: Vince Corso ist in Genua aufs Gymnasium gegangen. Und dass der Zug weiter nach Nizza fährt, kann er als Ruf des Schicksals nehmen. Denn dort hat seine Mutter im vornehmen Hotel »Negresco« gearbeitet und neun Monate vor seiner Geburt, also am 27. Juli 1969, einen Fremden mit auf ihr Zimmer genommen.

Nur für eine Nacht. Die Mutter, inzwischen ist sie tot, konnte ihrem Sohn kaum etwas über den Mann sagen. Hatte dieser Unbekannte denn gar kein Interesse an ihr? Kam es ihm nicht in den Sinn, dass da ein Kind entstanden sein könnte? Schon in den vorigen Romanen wurden wie beiläufig die Postkarten erwähnt, die Vince Corso regelmäßig ohne den Namen des Empfängers verschickte. Jetzt wird einem die Adresse »37, Prom. des Anglais, 06000 Nice, France« plausibel. Und tatsächlich sind im »Negresco« besagte Postkarten wie Kuriositäten ausgehängt. Sollte sich der Name des Unbekannten nicht im Gästeverzeichnis finden? Aber eigentlich ist das doch für Außenstehende geheim …

»Das Ausmaß von Liebe«: In spannender Detektivarbeit enthüllt sich eine sehnsuchtsvoll romantische Geschichte. Hatte der Vater denn gar nicht an ihn und seine Mutter gedacht? Die Antwort wird Vince Corso in Marseille erhalten – mit einem Stapel Postkarten und ­Stendhals »Über die Liebe«, ebenso in blaues Leinen gebunden wie die drei Bücher, die damals auf dem Nachttisch seiner Mutter liegen geblieben waren.

Fabio Stassi: Das Ausmaß von Liebe. Detektivroman. Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki. Edition Converso, Karlsruhe 2024, 140 Seiten, 22 Euro

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