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Aus: Ausgabe vom 24.07.2025, Seite 14 / Leserbriefe

Aus Leserbriefen an die Redaktion

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Große Schuhe

Zu jW vom 19./20.7.: »Der Mann der ›­Wende‹«

Noch-CDU-Bundestagsfraktionsvorsitzender Jens Spahn gibt eine Mitschuld zu: Es wäre seine Aufgabe gewesen, dafür zu sorgen, dass die Unionsfraktion gemeinsam mit den anderen demokratischen Parteien die Zweidrittelmehrheit für die Richterwahl zum Bundesverfassungsgericht »liefern«. Spahn hat dafür gesorgt, dass alle Bundestagsabgeordneten öffentlich sehen konnten, dass sich die Union nicht an Absprachen – auch mit dem Nochkoalitionspartner SPD – hält. Wir fühlen uns an die Endphase der Ampelkoalition bezüglich der FDP erinnert. Die Union ist also genauso unzuverlässig wie seinerzeit die FDP Christian Lindners. Und das bereits nach 70 Tagen der neuen Mini-»Groko«! Das ist eine besondere Leistung von Noch-CDU-Bundeskanzler Friedrich Merz.

Im TV-Sommergespräch hat er am Sonntag nach dem Chaosfreitag des Bundestages wieder mal einen rausgehauen: Es sei doch alles gar nicht so schlimm; der Jens Spahn mache das schon. Der träumt von einer AfD-Union-Bundesregierung mit ihm als »Möchtegernkanzler« von Alice Weidels Gnaden: Alice im Wunderland. Brandgefährlich ist das für alle Sozialdemokraten! Jetzt ist der richtige Zeitpunkt für die Jusos in der kleinsten SPD-Bundestagsfraktion aller Zeiten, das Chaos in der SPD-Bundestagsfraktion unter Vizekanzler und größtem SPD-Wahlverlierer aller Zeiten Lars Klingbeil zu beenden: Wahltag wird auch künftig für die SPD Zahltag sein! Die Fünfprozenthürde kommt immer näher! Eine Fehleinschätzung jagt bei Friedrich Merz und Jens Spahn die nächste. Die Schuhe des Bundeskanzlers und des Fraktionsvorsitzenden sind beiden eindeutig zu groß.

Klaus Jürgen Lewin, Bremen

»Offen und frech unterlaufen«

Zu jW vom 18.7.: »Banales Brosius-­Brimborium«

Ich muss kein Fan des deutschen Staats, seiner Justiz oder der Juristin Frauke Brosius-Gersdorf sein, um zu erkennen, dass es hier um sehr viel mehr geht. Es gelingt einer faktischen Sperrminorität von AfD- und CDU-Fraktionsmitgliedern, einen Rechtsruck innerhalb der herrschenden Regierungskoalition zu erzwingen. Das ist deshalb ein Schritt auf dem Weg der Faschisierung, als dabei die bürgerlich-demokratischen Gewaltenteilungsstandards offen und frech unterlaufen werden sollen. Das wird erreicht, indem man unverschämt mit »alternativen Fakten« operiert hat. Dieser Vorgang hat darüber hinaus Versuchsballoncharakter. Erreicht werden soll doch offensichtlich, dass eine viel allgemeinere Drohkulisse aufgebaut wird: Jederzeit kann künftig die »Spahn-Fraktion« in der CDU eine mögliche Stimmabgabe mit der AfD andeuten, damit alle anderen parieren. Die »Brandmauer« verläuft damit inzwischen mitten durch die CDU-Fraktion. Wenn die SPD-Bundestagsfraktion sich das gefallen lässt, macht sie sich zum Steigbügelhalter dieser Entwicklung. Schon einmal haben die deutsche Bourgeoisie und ihre Parteien einschließlich der SPD versucht, Faschisten »einzurahmen«, sie durch Zugang zur Staatsmacht zu »entzaubern« usw. Es ist bekannt, wie das endete. Sollte es in der SPD nach wie vor Antifaschisten geben, ist damit für sie jetzt der Zeitpunkt gegeben, ein Ultimatum zu stellen: Entweder ist Schluss mit dieser Art von Spahn-Manövern, oder es ist Schluss mit dieser Regierungskoalition. Die Uhr tickt.

Christoph Stoodt, Frankfurt am Main

Das provenzalische Venedig

Zu jW vom 8.7.: »Den Vortritt haben die ­Kommunen«

Martigues heißt die faszinierende französische Stadt in der Provence-Alpes-Côte d’Azur, auch bekannt als das »provenzalische Venedig«. Es ist ein legendärer Ort mit rund 50.000 Einwohnern, fast unmittelbar am Mittelmeer, nordwestlich von Marseille. Was diese Stadt so einzigartig macht, ist die Tatsache, dass seit 1958 bis heute ohne Unterbrechung die Kommunistische Partei den Bürgermeisterposten innehat. Bei allen Wahlen lagen die Kandidaten des PCF auch in der Region deutlich in Führung. Der PCF wird regelmäßig im ersten Wahlgang wiedergewählt. Er stellt auch die Leitungsfunktionen der beiden Kantone der Gemeinde. So wurde Francis Turcan von 1959 bis 1969 zum Bürgermeister gewählt, ab 1969 Paul Lombard, bei den Kommunalwahlen 2001 im ersten Wahlgang mit 64,33 Prozent, 2008 mit 57,51 Prozent der Stimmen wiedergewählt. Bei den Parlamentswahlen nach den Präsidentschaftswahlen 2007 gewann der Kandidat der KP Frankreichs, Michel Vaxes, den Wahlkreis mit 58,31 Prozent der abgegebenen Stimmen, 2017 mit 65,12 Prozent. Ende April 2009 kündigte der 81jährige Paul Lombard an, nach 40 Jahren und sechs aufeinanderfolgenden Amtszeiten als oberster Ratsherr der Stadt zurückzutreten und die Leitung an seine erste Stellvertreterin Gaby Charroux zu übergeben. Unter der Führung des PCF führte die Stadt seit 1969 umfangreiche Bauleistungen durch, um die wachsende Bevölkerung unterzubringen. Staatliche Mittel für vier Schulen und zwei Gymnasien wurden eingesetzt, um zu verhindern, dass der Ort zu einer Schlafstadt wird; Krankenhäuser, eine Bibliothek, ein Freizeitpark, ein lokaler Radiosender wurden eingerichtet, ein Museum eröffnet, ein Theater etc. Maßnahmen wurden ergriffen, um das touristische Angebot der Stadt zu stärken, so die Modernisierung des Strandes und anschließend die Restaurierung des Forts von Bouc. So wurde die Stadt offiziell 2008 als Badeort und Touristenort eingestuft. Diese sensationellen Wahlergebnisse seit 67 Jahren entstanden nur durch überzeugendes Engagement für die Einwohner.

Peter Naumann, Martigues (Frankreich)

Entweder ist Schluss mit dieser Art von Spahn-Manövern, oder es ist Schluss mit dieser Regierungskoalition. Die Uhr tickt.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim Seider aus Berlin (24. Juli 2025 um 16:47 Uhr)
    Jens Spahn hat also versagt, weil nicht alle Abgeordneten so stimmten, wie gefordert? Wurde denn gefordert? Und wer darf denn das überhaupt, wo doch angeblich alle Abgeordneten ausschließlich ihrem Gewissen verpflichtet sind? Ich stelle mir das so vor, dass das Gewissen bei Betreten des Bundestages beim Fraktionsvorstand abzugeben ist, der dann die entsprechenden Umprogrammierungen vornimmt. Endlich verstehe ich mal, wie wunderbar das funktioniert, was hiesigen Ortes als Demokratie gepriesen wird. Jens Spahn hat also nicht versagt, sondern uns gelehrt, was heute wirklich Sache ist.

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