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Aus: Ausgabe vom 22.07.2025, Seite 11 / Feuilleton
Oper

Möglichst intensiv leben

Mitmachtheater: »Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny« von Bertolt Brecht und Kurt Weill an der Deutschen Oper Berlin
Von Kai Köhler
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Schwer was los? Schwer was los! (Szenefoto)

Das Leben strengt oft an. Man muss auf Ereignisse reagieren. Leute wollen reden, man darf oder muss antworten. Theater und Oper dagegen entlasten: Man schaut und hört zu. Natürlich wird auch während der Vorführung kommuniziert. Im Publikum entsteht, ohne dass darüber gesprochen würde, eine Stimmung. Diese ist auf der Bühne spürbar und wirkt auf die Aufführung zurück. Und all die einzelnen Zuschauer fühlen und erkennen (bestenfalls), dass vor ihnen etwas abläuft, was sie angeht. Auf diese Weise zugleich drinnen und draußen zu sein, ist eine bewährte Anordnung. Sie zu durchbrechen, bedarf für den Einzelfall guter Argumente.

Mit »Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny« bedienten sich der Dichter Bertolt Brecht und der Komponist Kurt Weill der Gattung Oper, die stets einen Zug von Luxus und Genuss aufweist. Ob – wie Weill sich vorstellte – dieses Kulinarische durch Erneuerung von Form und Mitteln in eine neue Zeit gerettet werden sollte oder Erneuerung – nach Brecht – die Gattung sprengen und zu neuen Inhalten und einer neuen Haltung des Publikums führen sollte, war nicht geklärt und sollte später zum Zerwürfnis führen. In »Mahagonny« wird jedenfalls der Konsum selbst Thema.

Auf der Flucht vor der Polizei entscheiden sich die Witwe Begbick, ­Fatty und Dreieinigkeitsmoses, nicht nach Gold zu suchen, sondern Geld an den Männern zu verdienen, die Gold gefunden haben. Sie gründen die Stadt Mahagonny, deren einziger Zweck es ist, dass dort konsumiert wird. Um das zu veranschaulichen, lässt Regisseur Benedikt von Peter den ersten Teil des Werks nicht nur den Hauptsaal der Deutschen Oper, sondern auch Foyer und sogar die Straße vor dem Haus bespielen. Noch vor Beginn der Aufführung liegen kostümierte Choristen schnapsleichenartig hier und dort herum. So wird gezeigt, dass an diesem traurigen Ort dem bezahlten Genuss der Kater folgt. Dann fängt’s an – das Publikum soll die Einwohnerschaft von Mahagonny bilden.

Leider geht gleich im ersten Teil das Regiekonzept nicht auf. Mit gutem Willen könnte man einen ideologiekritischen Inhalt zugestehen. Die Konsumgesellschaft funktioniert mittels der steten Drohung, in der Fülle des Angebots den einen Genuss, auf den es ankäme, zu übersehen. Natürlich wird sogar ein möglicher Erfolg durch einen neuen Reiz entwertet, ein neues Bedürfnis, das es möglichst schnell zu erfüllen gilt. Entsprechend versucht man sich im ersten Teil dieser »Mahagonny«-Inszenierung daran zu orientieren, wo gerade etwas geschieht und was es nicht zu verpassen gilt. Zwischen großen Leinwänden und kleinen Live-Ereignissen wuseln nette Choristen, die – ohne dafür Geld zu verlangen – Kostümstücke aufdrängen. All das führt zu keiner Erkenntnis, lenkt nur von Handlung und Musik ab. Die technisch aufwendige Koordination zwischen dem Orchester auf der Bühne, den Darstellern im Haus und der Übertragung auf die Leinwände bricht zwar nicht zusammen, führt aber zu einem klanglichen Ungleichgewicht.

Ein Hurrikan bedroht die Stadt, es kommt zu einer Art Neugründung durch Jim Mahoney, der im ersten Teil durch bloßes Konsumieren nicht glücklich wurde. Das Publikum wird auf die große Bühne gebeten; wer mag, darf im Zuschauersaal sitzen, aber das ist nicht ratsam. Denn nun ist man tatsächlich inmitten des inzwischen szenisch konzentrierteren Geschehens. »Du darfst!« lautet Mahoneys Motto. Der Genuss der zahlenden Männer wird nun ins Extrem gesteigert. Einer frisst sich zu Tode. Andere nehmen sich Frauen, es wird vergewaltigt. Mahoneys Mahagonny ist die Konsequenz individualistisch gedachter Freiheit, also asozial. Der Wunsch, das Äußerste zu erleben, mündet in Selbstzerstörung. Joes Kumpel Jim setzt seinen ganzen Besitz in einem Boxkampf auf Joes Sieg gegen den viel stärkeren Dreieinigkeitsmoses. Nicht nur er verliert und wird getötet. Auch Mahoney folgt nicht den Regeln der von ihm geschaffenen Welt, setzt all sein Geld auf den Freund und absehbaren Verlierer. Nun kann er seinen Whiskey nicht mehr zahlen. Dies aber ist das denkbar größte Verbrechen: kein Geld zu haben. Brecht und Weill kannten schon vor hundert Jahren die Libertären von heute und wussten, dass deren Freiheit eine der Besitzenden ist. Konsequent wird Mahoney zum Tode verurteilt.

»In unserer räumlichen Setzung stellt sich zumindest die Frage, ob der Zuschauer zum Akteur wird«, meint der Regisseur im Programmheft. Jederzeit könne jemand: »Halt!« rufen. Zumindest in der Premiere geschah das nicht. Dreieinigkeitsmoses konnte in aller Ruhe Joe zu Tode prügeln. Und hätte ein Zuschauer versucht, ihn daran zu hindern, hätte sich alle Wut gegen den Störer gerichtet; gegen einen Trottel, der Spiel mit Realität verwechselt. Das Als-ob von Theater und Oper lässt sich durch eine räumliche Umgruppierung nicht abschaffen. Man kann die Intensität des Erlebens steigern (die Zuschauer werden diesen Abend als etwas Besonderes so bald nicht vergessen). Aber wenn man endlich mal mitten im Geschehen auf der Bühne sitzt, richtet sich die Aufmerksamkeit sogar verstärkt darauf, wie etwas gemacht wird – wie Akteure aus der Nähe aussehen, wie ein Chor sich koordiniert. Kunst wird nicht als Leben, sondern als Kunst wahrgenommen. Wahrscheinlich passt genau das zur Konsumwelt von Mahagonny und zum Nihilismus Brechts, bevor er Marxist wurde. Wenn schon kein Sinn erkennbar ist, wenn der Kapitalismus alles entwertet, will man doch – alles durchschauend – möglichst intensiv leben.

Nächste Vorstellungen: 22., 24., 26.7.

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