Gegründet 1947 Dienstag, 22. Juli 2025, Nr. 167
Die junge Welt wird von 3019 GenossInnen herausgegeben
Aus: Ausgabe vom 22.07.2025, Seite 10 / Feuilleton
Pop & Psychiatrie

In der Nervenheilanstalt

Auf der Suche: Uwe Schüttes Buch »Sternenmenschen – Bowie in Gugging«
Von Andreas Schäfler
10-onl.jpg
Zu Besuch im Haus der Künstler in Gugging: David Bowie (8.9.1994)

Kein Wunder, dass das Gelände der Niederösterreichischen Landesnervenklinik von Klosterneuburg bei Wien längst zu einem Wallfahrtsort für Kunstinteressierte geworden ist. Vor allem das Museum Gugging wartet mit reichlich Sensationen auf. Den Verstand zu verlieren, steht dort als große ästhetische Versuchung im Raum – in Gestalt der aufwendig präsentierten Werke der inzwischen weltberühmten und auch auf dem Kunstmarkt hoch gehandelten Psychiatriepatienten August Walla, Franz Kamlander, Oswald Tschirtner, Ernst Herbeck und wie sie alle hießen (und heißen). Im Treppenhaus, wo das Wirken des kunstsinnig-fortschrittlichen Psychiaters und ehemaligen Anstaltsleiters Leo Navratil und seiner Nachfolger in Wort und Bild dokumentiert ist, fällt das Foto eines prominenten Besuchers auf: David Bowie war 1994 zusammen mit seinem Produzenten Brian Eno hier kurz zu Gast. Er hatte gerade die Arbeit an seinem Album »1. Outside« aufgenommen und versprach sich von der Begegnung mit diesen Kunstaußenseitern zusätzliche Inspiration.

Die Art brut ist nach Jean Dubuffets Definition eine Kunst, die unabhängig von akademischer Prägung, stilistischen Moden und Rezeptionsdruck entsteht und deren wichtigste Vertreter oft an einer psychischen Erkrankung leiden. Dass Bowie sich auch mit den pathologischen Abgründen der Gugginger konfrontieren wollte, hatte aber noch einen weiteren Grund: Vielleicht ließ sich so der Suizid seines Halbbruders Terry Burns besser verarbeiten, der selbst jahrelang psychiatrisch interniert gewesen war. Und wenn es bei dem Besuch nur um das gegenseitige Teilen von Verzweiflung gegangen wäre – schließlich war Bowie, wie Uwe Schütte in seinem Buch »Sternenmenschen« beschreibt, »sich selbst bis zum Lebensende ein Rätsel«. Die Stippvisite war jedoch weit folgenreicher. Sogar im Aufnahmestudio soll es anschließend, noch bevor der erste Ton für das »Outside«-Album eingespielt worden war, so ähnlich ausgesehen haben wie im Gugginger Haus der Künstler.

Es ist ein großer Glücksfall, dass der Autor zu den Protagonisten seines ausgreifenden Essays auch selbst in enger Beziehung stand. Bowies Schaffensphase kurz vor der Jahrtausendwende verfolgte er als skeptischer Fan, und die Gugginger Künstler suchte er regelmäßig persönlich auf. Also sprühen in seinem Text die Funken und greifen die Assoziationen um sich – bloß kitschig wird es nicht. Schüttes Verfahren, zwischen Bowies Werk und Enos Beitrag, zwischen den tragischen Biographien der Gugginger Künstler und ihrem ästhetischen Extremismus wild hin und her zu springen, wird der im Wortsinn verrückten Materie gerecht. Und wenn er nebenbei auf Navratil, aber auch auf die Wiener Aktionisten Gerhard Roth (dem Gugging ein eigener »Zauberberg« war), Genesis P-Orridge und viele weitere Eigenbrötler zu sprechen kommt, berühren sich die Areale von Psychopathologie und Popkultur auf verblüffend zwanglose Weise. Schütte kann auch nachweisen, dass Bowie, oft fast zerrieben zwischen Kunst und Kommerz und den wechselnden Maskierungen von Aladdin Sane bis Ziggy Stardust, immer eine Art »Cover-Version« des normalsterblichen David Robert Jones gewesen ist.

Als solcher ließ er es in Gugging sogar geschehen, dass bei seinem Aufenthalt ausführlich fotografiert wurde. Während der Rundgang von Bowie und Eno im Schlepptau von André Heller und Navratils Nachfolger Dr. Feilacher noch den Charakter eines »kleinen Staatsbesuchs« (Schütte) aufwies, kam Bowie anderntags noch mal allein und konnte sich gänzlich unbehelligt unter die dortigen »Sternenmenschen« mischen. Die lapidaren Schwarzweißaufnahmen von Christine de Grancy statten das Buch mit einer diskreten Glaubwürdigkeit aus – und offenbaren auch noch eine weitere Gemeinsamkeit zwischen dem Popstar und den Patienten: »Schmauchlümmel«, sprich: große Kampf- und Kettenraucher, waren sie alle miteinander.

Man muss kein Bowie-Fan oder Art-brut-Kenner sein, um sich in »Sternenmenschen« mit Gewinn zu verlieren. Eines seiner vorangestellten Mottos stammt von Aleister Crowley und lautet: »Every woman and every man is a star.« Und auch dass dieser vorzügliche Text- und Bildband ausgerechnet im Verlag Starfruit Publications erschienen ist, könnte schöner nicht passen.

Uwe Schütte: Sternenmenschen – Bowie in Gugging. Starfruit Publications, Fürth 2025, 248 Seiten, 31 Schwarzweißfotos, 26 Euro

75 für 75

Mit der Tageszeitung junge Welt täglich bestens mit marxistisch orientierter Lektüre ausgerüstet – für die Liegewiese im Stadtbad oder den Besuch im Eiscafé um die Ecke. Unser sommerliches Angebot für Sie: 75 Ausgaben der Tageszeitung junge Welt für 75 Euro.

 

links & bündig gegen rechte Bünde

Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.

Ähnliche:

  • Abseits der kulturellen Hauptströme: Die Ateliers in den Moasik-...
    08.04.2017

    Die Skulpturen befreien

    Ein Besuch in einer Werkstatt für Künstler mit Assistenzbedarf in Berlin-Spandau.
  • August Natterer: Satana, 1911, Bleistift und Deckfarben auf Kart...
    25.02.2015

    Psychiater, bleib mir fern

    Eine Berliner Ausstellung zeigt Werke aus der Sammlung Prinzhorn

Mehr aus: Feuilleton

                                                                 Aktionsabo: 75 Ausgaben für 75 Euro